Wenn die eigene Muse Pause macht und das Touren mit den eigenen Hits auch keinen Kick mehr bringt, ist der Griff in fremde Songkisten ein beliebter Schritt. BRYAN FERRY nimmt sich auf »Dylanesque« (Virgin/EMI) den Songs des Großmeisters an und enttäuscht einmal durch eine wenig inspirierende Songsauswahl. Nur »Make You Feel My Love« schafft es aus den Dylansongs der letzten 25 Jahren in die Auswahl, und der ist dann gleich auch einer der Höhepunkte. Eben weil er nicht so zu Tode gecovert wurde wie z.B. »All Along The Watchtower« oder »Knockin On Heavens Door«. Für eine Fortsetzung des Projekts schlage ich vor den Schwerpunkt auf die Gospelsongs wie »Every Grain Of Sand« zu legen. Trotzdem ist Ferry ein zu guter und zu instinktsicherer Sänger, um aus den Vorlagen nicht die eine andere Nuance neu herauszuholen. Seine eigene Nische im weiten Feld des Blues erspielte sich ERIC BIBB. Er führt auf »Diamond Days« (Telarc/In-Akustik/Edel) seinen sanften Weg auf den Spuren von Taj Mahal fort und bewegt sich stilsicher zwischen, Folk, Gospel, westafrikansichen Tupfern und alten Bluestraditionen. Dass er seine Musik in weiten Teilen als Werkzeug der Fröhlichkeit begreift, macht ihn und »Diamond Days« zu einer seltenen Entdeckung im See der Jammerer. Dass der Blues das Ableben der Gründerväter überleben wird, beweist auch OTIS TAYLOR. Auf seinem achten Album »Definition Of A Circle« (Telarc/In-Akustik/Edel) greift er zwar auf den Kollaborationen mit dem seelenlosen Gitarristen Gary Moore schwer in den Gatsch, aber wenn er mit Cello, Banjo oder Mandolinen seinen eigenen Klangkosmos schafft, gelingen wunderbare Songs. Dank der Zwiespältigkeit wird der Zuhörer ordentlich auf die Probe gestellt, aber ausharren oder sparsames skippen wird hier definitiv belohnt. Nach den letzten Jahren der mühsamen, erratisch-zerbrechlichen, aber gleichzeitig auch poetischen Soloauftritte belohnt sich Tom Liwa mit einer Wiederauferstehung der FLOWERPRNOES. Der Titel »Wie Oft Musst Du Vor Die Wand Laufen, Bis Der Himmel Sich Auftut?« (V2/Rough Trade/Edel) ist Programm. Aber Liwa nutzt seine alte Band, deren Musik zwar eine Fülle von Bandgründungen nach sich zog, aber das große Publikum nie erreichte, nicht nur zur Vertonung seiner Texte, die einfach Kunstwerke für sich sind, sondern es werden auch Songs draus auf denen auch die Gitarren wieder laut sein dürfen. Der heimliche Hit »Tahiti« lässt einen in eine wunderbare Kunstwelt abheben, und jetzt hat Deutschland nach Rio Reiser wieder einen Songwritingveteranen, den es nur zu entdecken gilt. Mittlerweile kann man wohl auch schon LUCINDA WILLIAMS zu den Veteranen der amerikanischen Songwriterzunft zählen. »West« (Lost Highway/Universal) ist eine Sammlung von Songs die Williams rund um den Tod ihrer Mutter geschrieben hat. Und wie jede wirklich große Künstlerin schafft sie es die private Ebene zu einer exemplarischen Tour durch die Gefühlswelt einer Trauernden zu nutzen. Produziert hat diesmal der als geschmäcklerisch abgestempelte Hal Wilner, der hier zeigt, dass er auch dominierende Gitarren und eine zerbrechende Stimme würdigen kann. Stuart Staples stellt sich mit seinem Tastenmann bei den Tindersticks Dave Boutler auf V.A. »Songs For The Young At Heart« (City Slang/Edel) der Herausforderung von Kinderliedern. Unterstützt von Freuden wie Will Oldham, Robert Forster, Red oder der wunderbaren Cerys Matthews werden Lieder aus (hierzulande eher unbekannten) Fernsehserien, Radiohörspielen und Schulbüchern interpretiert und bei jedem Song, jeder Note merkt man, dass es sich hier um eine Werk der Liebe handelt. Das Konzept von Staples trifft sich mit den Gaststimmen in fast unverschämt gelungener Weise und geht wirklich ans Herz. Eine Herzensangelegenheit ist auch die Odyssee einer Katze durch das Amerika der 40er und 50er, die RY COODER auf »My Name Is Buddy« (Nonesuch/Warner) erzählt. Der Wurzelforscher schweift mit seiner Runde rüstiger Rentnerfreunde wie Flaco Jimenez, Jim Keltner, Van Dyke Parks oder Paddy Maloney durch Folk, Blues, Bluegrass und Texmex Der Gedanke lässt sich schwer verdrängen, dass der Zwang mit den Songs eine Geschichte zu erzählen zu sehr auf den Liedern lastet. Wer also neue Großtaten von Cooder verlangt, dem wird hier nicht gedient. Wer sich an Cooders Gitarre sowieso nicht satthören, locker eingestreute Highlights wie »3 Chords And The Truth« genießen kann, wie noch dazu eine wunderschöne Verpackung schätzt, der wird zugreifen müssen.

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