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Mdou Moctar

»Afrique Victime«

Matador Records

Mdou Moctar nimmt seine Stromgitarre zur Hand, wie es die großen Meister*innen zu tun pflegen. Der Blick ruht fragend auf dem Griffbrett und die ersten Töne werden unverbunden in den Raum entsendet, als sei allen Beteiligten noch nicht ganz klar, was jetzt überhaupt gespielt wird. Gute Rocknummern steigern sich wie vorsichtig zusammengesetzte Kartenhäuser. Nachdem noch vergleichsweise leise und verhalten die Melodie an der Gitarre etabliert wird, knallt der Beat rein. Mdou Moctar macht hier so schnell niemand was vor, schließlich arbeitet er mit Assouf, dem Desert Blues, der im globalen Norden leidlich durch Ali Farka Touré bekannt wurde. Die Rhythmik ist komplexer als bei den Allman Brothers, weshalb westlichem Tanzpublikum schon mal die Beine durcheinandergeraten, die buttrige Art, den Gitarrenhals zu wischen, ist aber ziemlich ähnlich. Mdou Moctar kennt den westlichen Kanon gut, sein persönlicher Guitar Hero ist ein gewisser Van Halen. Recht so. So weit so unterhaltsam und gut.

Der Titel des bereits im Mai erschienenen Albums ist leider programmatisch. Mdou Moctar lebt in einer der meistgebeutelten Regionen des Planten (und das will was heißen). In Niger kommt es immer wieder zu Überfällen radikal islamistischer Gruppen auf die Tuareg. Das hat vermutlich weniger mit Religion zu tun, als damit, dass sich die öffentliche Ordnung aufzulösen beginnt. Deshalb bilden sich lokale Rackets, die mit Mord und Gewalt die Lage ausnutzen. Die im nahegelegenen Nigeria agierenden Boko Haram wurden nur durch einen Zufall islamistisch. Jetzt haben die friedliebenden Menschen in Westafrika an vielen Orten raubende Mörderbanden am Hals. Der globale Norden macht zwei Dinge: a) wegschauen und b) die eigenen Investments schützen, siehe etwa Frankreich in Mali. Wer sich dem Wissen um die Hintergründe aussetzen möchte und genauer erfahren will, weshalb »Afrique« ein »Victime« wurde, dem sei Raoul Pecks aktuelle »Exterminate All the Brutes«-Serie anempfohlen. Mdou Moctar kennt die Probleme aus eigener, leidvoller Erfahrung. Er ist sich sicher, dass nicht geschwiegen werden darf und der Terror und seine Hintergründe angeprangert werden müssen. Den Glauben an ein funktionierendes Gemeinwesen hat er aber nicht aufgegeben und dafür rockt er.

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Text
Frank Jödicke

Veröffentlichung
25.10.2021

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