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Gilles Aubry

»L'Amplification des Âmes«

ADOCS

Es gibt in der Kunst den Moment, wo der Künstler, ganz in seine Materie, in ein Geflecht aus Abgrenzungen und Neudefinitionen vertieft, auf unfreiwillige Weise zum Ausgangspunkt zurückkehrt oder sich ganz verliert. Auf dem Gebiet der field recordings ist es etwa State of the art, echte, gelebte Sounds unverfälscht, hautnah, »authentisch« einzufangen – ungeachtet dessen, was dann damit passiert. Was aber, wenn man die desaströse Soundqualität einer Verstärkeranlage, z. B. in einer Kirche in Kinshasa, Kongo, miteinfließen lasst, also einen brachialen, unperfekten Sound perfekt aufnimmt? Ist das dann als Brechung (ironisch oder nicht) zu verstehen, als Kommentar auf den immanent ethnozentristischen Blick des (weißen) Soundethnologen, der sich nicht zuletzt in seinem »überlegenen« technologischen Equipment ausdrückt? Oder ist das doch ganz unironisch gemeint, so wie es im Buch zu »L’Amplification des Âmes« fast kämpferisch lautet: »Distortion is Truth.« Die Soundverzerrung, das Krachen, das Scheppern, das Knistern, das ist die eigentliche Wahrheit des Sounds. Vielleicht also ist »L’Amplification des Âmes«, aufgenommen und kompiliert vom Schweizer Klangkünstler Gilles Aubry, tatsächlich nur das, wonach es klingt. Ein Audioessay über eine soundverstärkte religiöse Klangwelt. Wir hören den Soundcheck zu einem Gottesdienst in einer Kirche in Kinshasa, die Proben, den Büroalltag des Predigers, den Gang zum Markt und schließlich den Gottesdienst selbst, allerdings nicht unbearbeitet, sondern zusammengeschnitten zu einer röhrenden, brüllenden Kakophonie, an deren Höhepunkt sich glossolalische Ekstasen ereignen. Wir hören nicht die Predigt, keine Liturgie, keine Alltagskommunikation. Wir hören nur die gläubigen Kirchgänger, die sich soundverzerrt die Seele aus dem Leib brüllen, ein Erweckungsgottesdienst, der sich zu purer Hysterie steigert. Das hat einerseits eine eigenwillige Qualität, eine Brachialität, die man so noch selten gehört hat. Es hat andererseits eine unfreiwillig problematische Dimension. Es wäre natürlich lächerlich, Gilles Aubry unterschwelligen Rassismus oder Ethnosnobismus zu unterstellen, dennoch klingt »L’Amplification des Âmes« streckenweise wie die sounddestillierte Quintessenz eines Stereotypes: hysterisch kreischende Afrikaner an der Grenze zum Tiergeschnatter, was durch die Soundverzerrung und die Verdichtung noch begünstigt wird. Hier sind sie wieder, die brüllenden Wilden, mehr noch, sie manifestieren sich im vorsintflutlichen Sound, der vom europäischen Ethnologen mit überlegener Technik dokumentiert wird … Wer im beiliegenden Buch nach entsprechenden Referenzen und Erläuterungen sucht, stellt fest, dass Gilles Aubry und seinem Kommentator Johannes S. Ismaiel-Wendt diese Assoziation völlig fremd ist. Sie zitieren lieber Slavoj Žižek und zerbrechen sich den Kopf über den Zusammenhang von Urbanisierung, Soundverstärkung und Religiosität auf dem afrikanischen Kontinent. »Perhaps there is a black desire for distortion, which should be read as sonic and strategic positioning«, heißt es da etwa. Vielleicht gibt es also eine »schwarze Sehnsucht« nach Verzerrung, die man zugleich als strategische Position verstehen darf, weswegen auch von »afro futuristic sounds« die Rede ist, ein schönes Schlagwort, das etwaige Assoziationen in Richtung afro-reaktionärer Stereotypen beiseite wischt. Da wischen wir gerne mit. »L’Amplification des Âmes« von Gilles Aubry ist, positiv gewendet, eine herausfordernde Hörerfahrung, die zurückführt zur alten Erkenntnis, dass die Bedeutung eines Klangs erst im Kopf des Hörers entsteht. Urteilen Sie also selbst.

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Text
Curt Cuisine

Veröffentlichung
13.01.2015

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