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Jean – Louis Costes – Der Prophet der Einzelgänger

In skug #45 berichteten wir erstmals über die Verurteilung Jean-Louis Costes wegen vermeintlich rassistischer Äußerungen. Noël Akchoté, der uns damals auf diesen Fall aufmerksam machte, präsentiert hier endlich eine fundierte Einführung in das Thema Costes und ein Interview mit dem Meister des Wahnsinns.

Sie kennen Jean-Louis Costes nicht? Aber ja. Das ist der Typ, dessen dekadente Werke ihm fünf gerichtliche Prozesse und eine Verurteilung für – ich zitiere – »Aufforderung zum Rassenhass« einbrachten. Das ist ein wenig so, wie der Begriff »Terrorismus«, bei dem man sich ja auch fragt, auf wen er Terror ausübt. Chris Marker sagt irgendwo: »Pornographie ist die Erotik der anderen.« Da haben wir die Arbeit, die Gesellschaft und das menschliche Wesen in seinem Kontext und seinen inneren Gefängnissen. Costes ist 47 Jahre alt und ein guter Franzose mit männlichem Geschlecht. Er produziert und schreibt Theaterstücke (oder – in seinen Worten – »pornosoziale Opern«), Lieder, Filme, Platten, Schriften und Bücher. Dabei macht er alles selbst, oder fast alles. Costes ist ohne Zweifel auch einer der großen Moralisten und Portraitisten unserer perversen und verletzbaren Zeit. Wie Sade zerreißt er unsere Gedanken, unser Leben und unsere Institutionen um das Paradoxon und die Wahrheit der Fakten in ihre Nacktheit zu zerren. Er bekennt sich zu keiner Gruppe, zu keiner Partei und zu keiner Bewegung. Alles ist da, man muss die Welt nur zugleich in Ihrer Schönheit und Hässlichkeit beobachten. Klarerweise stehen bei Costes der Sex und der Hass im Zentrum. Als er aus dem Gerichtsgebäude kam, sagte er nach dem letzten Urteil: »Sehen Sie, der französische Staat geht so weit, fiktive Personen als rassistisch und schuldig zu verurteilen. Das ist absurd und lächerlich.«

Meinen Sie nicht, dass unsere Gesellschaften im Grunde genommen »ganz einfach« an einer immensen sexuellen und moralischen Armut leiden, wie ich gerne sagen möchte…?

Costes:Ich weiß es nicht. Ich wichse zu 90%, ich ficke zu 1% und schlaff bin ich zu 9%. Daher bin ich bei dieser Frage nicht der beste Soziologe. Aber es kommt mir so vor, als ob das die »verstockteste« blöde Frage des Mittelalters war.

Man kann sich zur aktuellen Stunde nur schlecht eine mögliche Umwälzung der Situation, eine Revolution oder einen Aufstand vorstellen.

Costes:Wenn ich die französische Gesellschaft als Beispiel nehme, so ist sie ob ihrer Macht sehr geschickt im Verhindern von Revolutionen. Es gibt eine sehr starke ethnische Teilung zwischen dem Arm der Revolte, jenen, die nichts zu verlieren haben und bereit sind, alles zu zerschlagen, (die Kinder der Immigranten) und jenen, die alle auch unzufrieden sind, aber etwas zu verlieren haben (die blanken Individualisten). Letztere könnten dabei helfen, die Revolte zu organisieren, damit sie in eine soziale und politische Veränderung mündet. Aber diese beiden Gruppen kommunizieren quasi nicht miteinander, sie hassen und fürchten sich zutiefst. Diese ethnische Teilung zwischen wütenden Immigranten und wütenden Weißen wird von der Macht sehr geschickt verwaltet und verhindert kurzfristig jede soziale Bewegung. Ein Beispiel: die studierenden Demonstranten und die Gangs der Vororte schlagen sich die Schnauze ein, gehen aufeinander los und verletzen sich gegenseitig! Das nimmt der Aktion den Mut und neutralisiert die revolutionären Energien, ohne das die Polizisten auch nur eingegriffen hätten! Das funktioniert von ganz alleine und autonom…

Man hat den Eindruck, dass die Frauen die Distanzierung und die Personen Ihrer Theaterstücke sehr gut verstehen, während die Männer verwirrt und durcheinander reagieren.

Costes:Als ich 1989 begann, hassten die Frauen meine Shows, weil sie mich für frauenfeindlich hielten. Es waren vor allem die Männer, die es schätzten, wenn ich meinen Schwanz rausholte und laut brüllte. Aber jetzt lieben die Mädchen es mehr und mehr. Sie sind an die Macht gelangt und finden mich »romantisch«. Sie finden die Show nicht exzessiv, sondern sehen in ihr die Nähe zur physischen, viszeralen und intestinalen Realität des Lebens und der Sexualität, um die sie besser Bescheid wissen als die Typen. Dagegen erscheinen die Männer im Bezug zur Gewalt des Fleisches heute viel vergeistigter, abwesender, abstrakter, derealisierter und blockierter.

Reagieren die Homosexuellen oder die Lesben anders?

Costes:Ich bin der Prophet der Einzelgänger, es hat sich noch nie eine Gruppe auf mich berufen. Was die Homos betrifft … ich verstehe nicht einmal das Konzept des »Homos«. Ich liebe es, mich in den Arsch ficken zu lassen, aber ich definiere mich deshalb nicht in Beziehung zu Schwänzen, die ich in den Arsch kriege. Die Sexualität repräsentiert nur einen winzig kleinen Teil des Lebens, und es kommt mir bizarr vor, sich sozial darüber zu definieren.

Trotzdem hat man den Eindruck, dass die Form Ihrer Arbeiten den Zugang zum Inhalt verhindert, oder dass man – wie bei Sade – etwas erwartet, dass dann nicht eintrifft. Glauben Sie nicht, dass die Dinge ganz anders wären, wenn Sie literarischer arbeiten würden?

Costes:Die Art des Liedes, die ich in gänzlicher Unabhängigkeit herstelle, ist die Form der höchsten Kunst, welche die alte Literatur ersetzt. Die Literatur dominierte ob der Dauerhaftigkeit der Schrift im Vergleich zur Vergänglichkeit des gesprochenen Wortes. Aber durch die technischen Mittel, mit denen man die Stimme aufnehmen kann, und die auch für unabhängige Künstler erreichbar sind, gewinnt die Oralität wieder die Oberhand. Dennoch bleibt in den konservativen Mentalitäten die Schrift »überlegen« und das Lied »unterlegen«. Das erklärt auch die institutionelle Verachtung meines ??uvres. Das von mir verwendete Medium wird von den »Literaten«, die die »Illiteraten« verachten, fundamental unterschätzt.

Das komplette Interview mit Jean – Louis Costes ist in skug #49 nachzulesen.

Die Costes-Prozesse
(Eine Legende der genannten Institutionen und weiterführende Links finden sich am Ende des Artikels)

Costes wurde am 11. Juni 1997 vor das Tribunal de Grande Instance de Paris geladen, nachdem die U??JF ihn wegen »Rassismus und Aufruf zum Mord« angezeigt hatte.

– Dieser Prozess rief Diskussionen im antirassistischen Milieu hervor: Kann die Gewalt in den Arbeiten von Costes als »Aufruf zum Rassenhass« verstanden werden?
– im Milieu der Künstler: Darf man die Kunst zensurieren?
– im Milieu des Internet: Es war der erste »tiefgehende« Prozess gegen eine französische Website

Unterstützt von zahlreichen Intellektuellen, aber auch von der Mehrheit der »Alternativen« fallen gelassen, wurde Costes am 13. Juli 1997 schließlich freigesprochen, aber – nach einer zweiten Anklage – am 17. Dezember 1998 auf Antrag des Staatsanwalts wegen den auf seiner Internetseite publizierten Liedtexten verurteilt. Die Anklagepunkte waren nun: »Rassenhass«, »Aufforderung zur Gewalt«, »Aufforderung zur Verachtung des Lebens und der Integrität der Person«. Die Zivilparteien waren: U??JF, LICRA, MRAP und LDH.

17. Dezember 1999:
Costes wurde ein drittes Mal für dieselben Anklagepunkte verurteilt
22. Dezember 1999:
der Richter gibt den Gegnern von Costes Recht.
22. November 2000:
Costes steht zum vierten Mal vor dem Richter

Costes ist immer wegen Rassenhass und Aufforderung zum Mord in den auf seiner Internetseite publizierten Liedern angeklagt. Die U??JF, LICRA, LDH, MRAP und der die Regierung repräsentierende Staatsanwalt stellen dabei während der Verhandlung Rassismusparodien ersten Ranges dar.

Am 20. Dezember 2000 wird Costes schuldig gesprochen.

Stellungnahme von Phillippe Robert
»Dieses direkte Relais mit dem Ort, wo Es spricht – wie Valére Novarina sagt – aber auch das Gebrüll, das Costes verschleißt, habe ich selten woanders mit einer solchen Gewalt empfunden. Letzten Endes aber auch nicht mit einer solchen Nachdrücklichkeit. Obwohl er sich meines Wissens nach auf keinen spezifischen Einfluss durch irgendeinen »Intellektuellen« beruft, so als ob er Illiterat wäre, werde ich einige »Anal-Ogien« wagen. Man hat es nicht versäumt, in sei
nem Fall von »Punkitüde« zu sprechen. Und wenn es auch viel zu einfach ist, stimmt es doch, dass man sich beim ersten Mal nicht davon abhalten kann, an G.G. Allin zu denken. Oral gesprochen – ich spreche lieber von Oralität, denn von Musik – denke ich doch mehr an Pour en finir avec le jugement de dieu von Antonin Artaud. Es ist bemerkenswert, dass man angesichts seiner Performances nicht viel von den Wiener Aktionisten gesprochen hat. Ich stimme zu, wenn man auf Otto Mühl anspielt, mehr noch als bei Hermann Nitsch. Besonders bei Maman et Papa ist das evident. Das was Mühl »Materialaktionen« nennt, ist von derselben Ordnung wie das, worauf Costes sich bezieht: den gefälligen Hörer oder Zuschauer mit seinem geheimen Terror – also mit seinen uneingestandenen Leidenschaften – zu konfrontieren, indem Neugierde und Widerwille abwechselnd hervorgerufen werden. Teilweise als Psychoanalyse des Elektroschocks, aber ganz sicher als Spiegel einer besudelten Gesellschaft. Paul McCarthy situiert sich ebenso in einem verwandten Territorium. Costes ist schlussendlich genauso Franzose, wie McCarthy Amerikaner und Otto Mühl Österreicher ist. Genauso stellt sich die Parallele mit Richard Kern oft ein, wenn man einen Film wie I Love Snuff sieht. Was mich betrifft, so gebe ich zu, dass ich auch Reminiszenzen an Marco Ferreri sehe. Nicht bei La Grand Bouffe, nein, mehr bei Dillinger est mort oder bei Lisa. Wenn eine aktualisierte Version von Le cinéma art subversif von Amos Vogel existieren würde, könnte Costes gar nicht anders, als mitzuspielen. Was Nègre Blanc betrifft, eine seiner letzten Platten, so werde ich ein Exemplar mit Übersetzungen der Texte verschenken … und zwar an Wynton Marsalis!«

Philippe Robert ist Kritiker für »Inrockuptible«, »Vibration« und »Revue & Corrigé«.

Legende der genannten Institutionen:

Tribunal de Grande Instance de Paris: Pariser Landesgericht
U??JF: Union des ??tudiants Juif de France: Jüdische Studentenunion Frankreichs
LICRA: Ligue Internationale Contre le Racisme et l’Antisémitisme: Internationale Liga gegen den Rassismus und den Antisemitismus (http://www.licra.com)
MRAP: Mouvement contre le racisme et pour l’amitié entre les peuples (Bewegung gegen Rassismus und für Völkerverständigung) (http://www.mrap.asso.fr/mrap.htm)
LDH: Ligue des Droit de l’homme: Menschenrechtsliga (http://www.ldh-france.asso.fr)
Das Urteil in französischer Sprache: http://www.aui.fr/Communiques/verdict-uejf-costes.html

Disco/Filmographie (Auswahl; Sprache in Klammer)

Tonträger:
»Les Oxyures« (»Die Schwänze/Die Madenwürmer«), 1987 CD Costes (F)
»Lung Farts« (»Lungenfürze«), 1989 CD Costes (E)
»Terminator moule« (»Muschi-Terminator«), 1992 CD Costes (F)
»jap jew« (»Japsenjude«), 1993 CD Costes (E, JP)
»NTMFN« (»NTM/Nik ta Mère/Fick??? Deine Mutter«), CD Costes 1996 (F)
»Nègre blanc« (»Weißer Neger«), LP Rectangle Rec-T / 1997 (F)
»plus d’amour« (»Mehr Liebe«), CD Costes 2000 (F)
»Nik ta Race« (»Fick??? Deine Rasse«), CD Rectangle Rec-V2 / 2000 (F, Arab.)

Videos:
»Le fils de Caligula« (»Der Sohn des Caligula«), 1992
»Short films 1 & 2« (»Kurzfilme 1 & 2«), 1996 und 1999
»Vie et martyre de Costes l’anachorète« (»Das Maryrium des Einsiedlers Costes«), 1998
»Partouze a Koweit city« (»Sexparty in Kuwait City«), Liveshow 1991
»Aux chiottes« (»In den Scheißhäusern«), Liveshow 1997
»Les otages« (»Die Geiseln«), Liveshow 1998

Costes als Schauspieler:
»Jenseits der Rosen« von Axel Meese (D, 1999)
»Baise-moi« (»Fick??? mich«) von Virginie Despentes und Coralie Trinh-thi, (F, 2000)
»Lilith« (»Lilith«), Pornofilm von Ovidie (F, 2001)
»Nom de Code Sacha« (»Codename Sasha«) von Thierry Jousse (F, 2001)

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