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Gaye Su Akyol

»Anadolu Ejderi«

Glitterbeat Records

Die in Istanbul geborene Künstlerin Gaye Su Akyol präsentiert mit »Anadolu Ejderi«, zu Deutsch »Anatolischer Drache«, ein von Poesie, versteckter Obrigkeitskritik, Schmerz und Liebe strotzendes, viertes Studioalbum. Es ist eine Auseinandersetzung mit sich selbst und der Rolle, die sie spielt, eher spielen muss, als Frau in der heutigen Türkei. Im Vergleich zu ihrem 2018 erschienenen Album »Istikrarlı Hayal Hakikattir« zeigt sich, dass Akyol sich selbst treu geblieben ist, in Sachen musikalische Bandbreite jedoch noch einmal eine Schippe draufgelegt hat. Auf »Anadolu Ejderi«, gibt es Titel zu hören, die zum Tanzen, zum Nachdenken, und welche, die zum Weinen einladen. 

Vor allem sind es ihre Lyrics, die zum Staunen beitragen. Akyol ist eine Poetin, die sich traut, zu kritisieren, anzuprangern, mit der Politik zu brechen. Dies alles nicht irgendwo, sondern in einem Land, in dem es schon reicht, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, um inhaftiert zu werden. Trotz dieser widrigen Umstände gibt es im Titelsong Widerständiges: »Biz buraya niye düştük lan? / Sanki küçük bi‘ cehennem, her yer talan Köle miyiz eşek miyiz?« (»Why have we fallen here, mate? / Like a miniature hell, all around raid. Are we slaves or donkeys?«) Zeilen wie diese zu schreiben, bedarf eines unglaublichen Mutes und einer Kraft, die Akyol in der Liebe findet. Diese empfindet sie nämlich nicht nur zwischen Menschen, sondern eben auch, aufgezeigt in »Bu Izdırabın Panzehiri«, zu Istanbul, an dessen Schulter sie sich ausweinen kann, wenn die zwischenmenschliche Liebe sie im Stich lassen sollte: »Sokağın omzunda sabaha kadar ağladım« (»I cried on the streets shoulder until morning«). 

In Genres von Psychedelic Rock über Post Punk bis hin zur Volksmusik (und noch vielen weiteren), mit Instrumenten von der E-Gitarre bis hin zur traditionellen Sazbüş (und erneut, natürlich, noch vielen weiteren), nimmt Akyol die Hörer*innen mit auf eine Zeitreise, die das Land zeigt, wie es war, bevor Militärputsche versuchten, seine Schönheit von der Oberfläche verschwinden zu lassen. Gayol weiß das und zeigt dennoch, dass diese noch da ist. »Anadolu Ejderi« ist ein Versuch, das Land heraustreten zu lassen aus der politischen Dunkelheit, eben jenen Drachen zu erwecken, unter dessen Schwingen die Schönheit wieder erblühen soll, wie sie es vor dem 12. September 1980 tat, an dem ein erneuter, gravierender Staatsstreich erfolgte. Da eine solch offene Meinung in der heutigen Türkei des Autokraten Erdoğan jedoch nicht möglich ist, webt Akyol ihre Wünsche, ihre Träume, ihre Visionen in zauberhafte Poesie, die mich wiederum wünschen lässt, ich würde ihre Worte im Originalen verstehen, ohne durch den Filter der Übersetzung leicht beeinträchtigt, jedoch nicht weniger beeindruckt zu sein. Diese elf Songs, diese 43 Minuten Zeitreise möchte ich jeder Person ans Herz legen.

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Text
Nils Kaiser

Veröffentlichung
19.12.2022

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