Wie lassen sich kosmisches Umgebungsdenken, Vermutungen und Ahnungen, katalytische Opferrituale und organabhängiges Orakel in die Landschaftsräume einer vergehenden Auenlandschaft transkorporal verpflanzen? Wie können wir uns wieder auf die Wahrnehmungsfähigkeiten von verschiedenen Lebensformen einlassen? Ob die Bäume revoltiert haben werden? Wie lange kann Gaia uns noch tragen? Diese und noch viel fraktalere Fragen könnten einem bei der Begehung und Begegnung mit dem neuen Stück »Oracle and Sacrifice in the Woods« (noch bis 22. Mai 2022 im Rahmen einer Koproduktion mit brut Wien) von Claudia Bosse dämmern. Denn die performative Expedition führt bestimmt in die Dunkelheit.
skug: »Oracle and Sacrifice in the Woods«, eine Koproduktion mit brut Wien, ist eine, wie du es beschreibst, performative Expedition. Ein Hörstück mit deiner Stimme und Wald-Sounds des Klangkünstlers Günther Auer führt in die Prater Auenwaldlandschaft, am Ende performt ein Frauenchor mit Orgelpfeifen eine Komposition von Peter Jakober.
Claudia Bosse: Es ist eine audio-performative Spurensuche. Das Coronavirus war ein großer Mittäter dieser Arbeit. Meine Reisetätigkeiten wurden unterbrochen und ich war plötzlich gezwungen, mir meine nähere Umgebung genauer anzusehen und da habe ich mich sehr viel im Wald aufgehalten. Gedanken, die ich aus meiner Indonesienreise mitgebracht hatte, wurden in die Landschaften, die mir zur Verfügung standen, eingelassen. Ich habe auch an der Akademie der Bildenden Künste Wien unterrichtet und wir waren auf der Suche nach alternativen Erfahrungen zur Online- und Screen-Präsenz. Im Rahmen eines experimentellen Formats haben wir uns über WhatsApp verknüpft und konnten uns hören, aber räumlich nicht mehr als Gruppe sehen. Die performative Bedingung des intimen Hörens ermöglichte es uns, gemeinsam auf Einzelerfahrungen, auf Entdeckungen von Phänomenen in dieser Waldlandschaft hinzuweisen. Visuelle Wege dominieren oft unsere Wahrnehmung. Das Fiktionale, Spekulative einer Stimme ermöglicht dagegen neue Blickweisen, neue taktile Erfahrungen oder auch Geruchseindrücke.
Der Anthropologe Eduardo Kohn hat im Rahmen einer ethnografischen Forschungstätigkeit viel Zeit mit Indigenen im Wald verbracht und dadurch sehr intensiv den Wald als Kommunikationssystem erfahren. Er hat die Semiotik des Waldes, er nennt es »Sylvan Thinking« vor allem durch die Aspekte der Abwesenheit, der Verspieltheit und des Imaginären charakterisiert. Wie würdest du das System Wald, das du durch deinen häufigen Aufenthalt erfahren konntest, beschreiben?
Das lineare Zeitsystem als Denksystem wird total in Frage gestellt. Diesen Schock erlebte ich das erste Mal in Indonesien. Dort kennen sie eine Gleichzeitigkeit von verschiedenen Zeiten. Diese Unfassbarkeit nahm ich mit in ein »unaufgeräumtes Waldstück«, in dem auch das Totholz der Laubbäume und neue Sprösslinge nebeneinander existieren. Mir ist dadurch aufgefallen, wie diese parallelen Zeiten in eine Landschaft eingebettet sind. Dieses Werden von Wald ist immer auch ein Vergehen von Gewesenem. Dieses Ineinandergreifen hat mich sehr interessiert. Auch die Schönheit des unterschiedlichen Lichteinfalls, der unterschiedlichen Jahreszeiten, das Verhältnis der Blätter zum Stamm, die Verteilungen von Moosen und Pilzen, all die rasanten Veränderungen des Raumes. Dieser vertraute Raum ist permanent in Veränderung begriffen.
Dieses Waldstück, das ich nun seit eineinhalb Jahren sehr häufig begangen habe, ist ein angewendeter Denkraum, der mich ständig hinterfragt hat. Es wurde ein Umgebungsraum, in den ich Gedanken über diese ganzen verschiedenen Lebewesen und ihre Transformationsprozesse legen konnte. Selbstverständlich schwangen auch Mythologien oder Mystiken des Waldes in unserer Kultur mit, als meine poetischen Spekulationen entstanden. Sie versuchen, mikro- und makroskopische Ereignisse zu verorten. In einer fragilen, porösen Umgebung mit unfassbar vielen Akteuren gibt es natürliche die verschiedensten Blickwinkel auf die eingezeichneten Handlungen, die ihre Spuren hinterlassen. Ich habe in diesem Stück auch viel mit Kreisstrukturen als Bewegungsstrukturen gearbeitet. Auch mit dem Wiederauftauchen von Elementen im Sinne von Kreisläufen. Das erzeugt im Raum noch einmal andere Zirkulationen.
Du sprichst ja auch sehr treffend von Übergangsräumen – mit unterschiedlichen Zeitdimensionen, permanenten Transformationsvorgängen. Deine Stück enthalten immer sowohl poetische wie auch politische Momente. Welche politischen Momente wären das konkret bei »Oracle and Sacrifice in the Woods«?
Die Gewissheiten unserer Denk- und Referenzsysteme sind kultureller, aber auch zutiefst politischer Natur. Wir bestimmen darüber figurale und uns umgebende Relationen und Hierarchien, unsere Wahrnehmungen von Dominanz- und Freund/Feind-Verhältnissen. Verschiebungen – ein überlagertes Zusammenwirken auf verschiedenen Ebenen, die ein Überleben ermöglichen – werden in einem gemeinsamen, aber auch stets gefährdeten Raum, wie es ein Beziehungsgeflecht Wald darstellt, praktiziert. Als politische Dimension im Sinne eines Umdenkens unserer Schemata ist es ein Infragestellen unserer komplett imaginierten, menschlichen Überlegenheit – und zwar durch die Anerkennung der ineinander wirkenden, kooperativen Intelligenzen an diesen Orten. Das könnte auch die Organisation unseres Denkens verschieben, um neue politische Paradigmen zu generieren. Und das finde ich eklatant notwendig, dies gerade in Zeiten eines räumlich nahen Krieges mit all seinen politischen Implikationen zu unternehmen, wenn eine propagandistische Polarisierung und Verrohung spürbar wird. Wie organisieren Landschaften, in die der Mensch sehr stark eingegriffen hat, ihr Überleben? Sie sind ja kein Nationalstaat. Welche Regeln und Abhängigkeiten, die ständig neu produziert werden, gelten hier?
Das bringt mich zu dem Begriff des Mutualismus, den der Waldökologe Douglas Godbold bei einem der drei nomadischen Hintergrundgesprächsreihen »circular ecologies«, die begleitend und im Vorfeld zur Aufführung von »Oracle and Sacrifice in the Woods« stattfanden, erwähnte.
Der Begriff beschreibt im Kontext ökologischer Kreisläufe eine Gemeinschaftlichkeit, bei der beide Akteure – kapitalistisch gesprochen – einen Mehrwert aus dieser Kooperation ziehen und dadurch zukunftsfähige Strukturen entstehen können. Die Symbiose oder der Mutualismus zwischen einer Alge und einem Bakterium, in diese Gleichheit in der Ungleichheit oder Gleichheit im Verschiedensein, hat zu einem Prozessieren und Umwerten geführt, durch das ein Stoffwechsel oder eben auch die Photosynthese möglich wurden.
Neben dem performativen Denken von ökologischen Kreisläufen beschäftigst du dich in diesem Landschaft-Theaterstück auch mit Opfer- und Orakel-Ritualen – spannend fand ich deine Aussage, dass antikes Orakeldenken eine Form von ökologischem Denken darstellte.
Es gab zum Beispiel Orakelorte, an denen Mädchen bestimmten Gasdämpfen ausgesetzt wurden. Induziert durch einen Gasausstoß der Erde waren sie benebelt und in einem anderen Bewusstseinszustand. Die dadurch gewonnenen, mehr oder weniger kryptischen Aussagen wurden als Orakel interpretiert. Bei den Etruskern gab es Leberschauen oder Eingeweideschauen. Die Vorbereitungen waren strenge Rituale: Die Priester*innen oder die Opferschauer*innen durften nicht schlafen und die Nacht davor nichts essen. Der Mund wurde mit Getreide gereinigt. Es wurde eine – mit Ja oder Nein zu beantwortende – Frage einem Tier, das daraufhin geschlachtet werden musste, ins Ohr geflüstert. Manchmal wurden auch die Ohren der Tiere verstopft, damit diese Frage im Körper blieb. Man glaubte daran, dass beim Öffnen der Eingeweide das Sonnenlicht, welches auf die Organe fällt, den Willen der Götter lesbar macht. Diese Orakel beruhten also immer auf Verhältnisse und Relationen, und waren keine isolierten Aktionen.
In Akten der Opferung hat man auch Kosmologien des Denkens offengelegt. Die Etrusker haben zum Beispiel ihre sechzehn Gottheiten auf eine »Lehrleber« aufgetragen. Auch die Bronzeleber von Piacenza überträgt die Gottheiten auf ein Organ. Das waren Systeme von für uns kryptischen Übersetzungen, aber selbst unsere Schriften und Wörter sind ja auch nicht immer eindeutig, sondern meist Interpretationen unterworfen. Jede*r trägt die gesamte Kosmologie in sich. Das Spekulieren mit historischen Zusammenhängen sind Versuche, dieses Gefangensein in der Ausweglosigkeit bestimmter gegenwärtigen Narrative zu durchbrechen. So können einengende Ideologien, unbefriedigende Arten und Weisen des Denkens, aufgebrochen und alternative Handhabbarkeiten von Zeitlichkeiten geschaffen werden. Denn die Dauer eines Menschenlebens ist erdgeschichtlich nicht einmal eine Randnotiz. Dessen sollte man sich immer wieder einmal gewahr machen – um die in vielen Tragödien vorkommende, unglaubliche Hybris des Menschen zu hinterfragen, der sich immer wieder über alles hinwegzusetzen scheint.
Kommen wir zurück zu deinem Schauplatz, der Wiener Prater Auenwaldlandschaft. Der Klangkünstler Günther Auer, der das Hörstück mitgestaltet hat, hat diese Gegend einen »akustischen Ausnahmeraum« genannt.
Dieser Teil der Praterau war bis 1871 Überschwemmungsgebiet. Dann wurde die Donau reguliert – wie weit die Regulierung mit der Weltausstellung 1873 zusammenhängt, wäre eine interessante historische Frage. Nun vertrocknet dieses Auengebiet und der Bestand hat sich verändert. Die Reste der einstigen Auenlandschaft kollidieren mit den Geräuschen der Stadt und der Hundezone. Wie verändert sich dieser Raum akustisch über die einzelnen Jahreszeiten? Die Blätter halten den Schallpegel des Stadtlärms etwas ab. Auch die Luftfeuchtigkeit spielt eine Rolle bei der Schallübertragung. Während der Brutzeit hört man wieder viele Vogelstimmen, man hört die Jahreszeiten aufgrund der Aktivitäten der Vögel und Insekten. Günther Auer hat meine Erzählstimme mit akustischen Erinnerungen zu anderen Zeitpunkten in dieser Landschaft vermischt. Diese vielschichtige Komposition arbeitet mit der Überlagerung des Aufgenommenen über im Moment stattfindende Geräusche.
Peter Jakober hatte bei der Regisseurin Anna Viebrock mit Bühnenbildstudent*innen ein Orgelpfeifenstück in der Akademie der Bildenden Künste gemacht. Ich habe diese Arbeiten im Semperdepot gesehen und ihn eingeladen, eine Komposition für »Oracle and Sacrifice in the Woods« zu konzipieren, weil mich diese metallische Verlängerung des Atems als Klang total interessiert hat. Diese Beatmung des Waldes, die seine Komposition darstellt, konnte ich dann durch die einzelnen Personen des Chors choreografisch verräumlichen. Diese klanglich-rhythmischen Interventionen werden zu einer akustischen Vermessung dieser Landschaft. Und dann in der Dunkelheit des Abends verschwinden.
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