»Eisemann« © Flora Klonner
»Eisemann« © Flora Klonner

Zirzensisch-performative Erzähl- und Schaukunst

ON THE EDGE, das spannende Festival für experimentelle Zirkuskunst, wird von 3. bis 11. November 2023 im Meidlinger Theater am Werk im Kabelwerk (ehemals Werk X) über die Bühne gehen. Ein Vorschau-Interview mit dem künstlerischen Leiter Arne Mannott.

Neue Formen von zirzensisch-performativen Narrativen. Experimentelle Zirkuskunst erfordert körperliche Präzision und offeriert ästhetisches Neuland. Es handelt sich um eine besondere Kunstform, die Tanz, Akrobatik, Performance, Bildende Kunst oder sogar Spoken Word zusammenführt. Artists aus Österreich, Deutschland, der Schweiz, Belgien, den Niederlanden und Israel präsentieren im Rahmen von ON THE EDGE aktuelle Entwicklungen im zeitgenössischen Zirkusschaffen. Kurator Arne Mannott arbeitet wesentlich daran, abseits des uns bekannten Zirkus mit Tieren oder Clowns Zirkuskunst als eigenständige und innovative Kunstform ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu hieven. Ein E-Mail-Interview mit ihm gibt Einblick ins bevorstehende Festival, das vom 3. bis 11. November 2023 im Theater am Werk in der Oswaldgasse 35A in Wien 1120 über die Bühne gehen wird. 

Ofir Yudilevitch © Ellie PolyRock

skug: Der Kultursommer Wien hat heuer vermehrt (oder mir ist das im Vorjahr weniger aufgefallen) Zirkuskunst ins Programm aufgenommen. Nach Anna Anderluhs Konzert mit Enfleurage im Juli zeigte das argentinische Mann-Frau-Duo Un Pie, das tags darauf auch beim Linzer Pflasterspektakel auftrat, eine grandiose Mixtur aus Akrobatik und Comedy. Kennst du Un Pie und, weil ich den Kultursommer Wien genannt habe, was unterscheidet ON THE EDGE vom Zirkusangebot des Wiener Gratisfestivals?

Arne Mannott: Das Duo kenne ich leider nicht. Was die beiden Festivals sicher unterscheidet, ist, dass der Kultursommer vor allem für Wiener*innen und österreichische Künstler*innen eine Plattform sein soll, ON THE EDGE zeigt auch viele internationale künstlerische Positionen, neben der Förderung und Präsentation von heimischen Künstler*innen natürlich. Beide Festivals arbeiten aber gleichsam daran, dass es mehr Orte für zeitgenössischen Zirkus gibt und dass Zirkus als eigenständige Kunstform wahrgenommen wird.

Die Erreichung des Ziels, Zirkuskunst als eigenständige und innovative Kunstform zu etablieren, rückt näher. Was siehst du als wesentlichen Unterschied zum konventionellen Zirkus bzw. zu Akrobatikformaten, die recht divers auf Straßenkunstfestivals dargeboten werden? 

Ich glaube, es sind mehrere Dinge. Zum einen bedienen sich zeitgenössische Zirkusformen recht intensiv an Elementen aus anderen Kunstsparten, vor allem Tanz und Performancekunst, und entwickeln damit ganz neuartige Ästhetiken und Dramaturgien. Zum anderen wird vermehrt »über die Technik hinweg« und vom Spektakel distanzierend gedacht: Die erlernten Techniken werden verwendet, um persönliche, politische oder gesellschaftliche Themen zu verhandeln. Das finde ich eine sehr schöne Entwicklung und wir versuchen, das vor allem auch als Festival aktiv zu fördern. Bei allen Unterschieden finde ich es aber auch immer wichtig, festzuhalten, dass es ein großes verbindendes Element gibt: die Liebe zum Zirkus mitsamt seinen doch ganz speziellen Requisiten und Apparaten, die es im klassischen wie zeitgenössischen Zirkus gibt. Persönlich finde ich es einfach wahnsinnig spannend, Künstler*innen zu unterstützen, die etwa Jonglage, Trapez, Akrobatik immer wieder neu erfinden und weiterdenken.

ON THE EDGE hält bereits bei der vierten Ausgabe, es wird eigenwillig von zehn rückwärts gezählt. Wo liegen die Ursprünge dieses bemerkenswerten Festivals für experimentelle Zirkuskunst und wo fanden während des vierjährigen Bestandes die ersten sechs Festspiele statt?

Angefangen hat alles 2019 mit einem Gastspiel. Esther Holland-Merten, die damalige künstlerische Leiterin von WUK performing arts, hatte Lust, mehr Zirkus zu wagen, und so haben wir anfangs ein Schwerpunktwochenende organisiert, quasi als try-out. Da der Zuspruch – und die Zusammenarbeit – so gut waren, haben wir einfach weitergemacht und sind 2020 als Festival gestartet.

Luuk Brantjes © Manon Verplancke

Was hat dein Interesse für Akrobatik und Artverwandtes geschürt? Gab es ein spezielles Ereignis in der Kindheit oder während der Jugend? Und wie erfolgte der Weg zum Kurator für Zirkuskunst?

Ich hatte das große Glück, dass ich sehr früh in den Kinderzirkus gekommen bin und gleich alle Disziplinen erlernen durfte. Weiter ging es mit einer Jugendzirkuscompagnie, die mehrmals die Woche trainiert und auch schon größere Aufführungen realisiert hat. Das war quasi wie eine Zirkusausbildung neben der Schule. Nach vielen Jahren der eigenen künstlerischen Tätigkeit habe ich Lust bekommen, mehr »von außen« zu arbeiten. Mir macht es einfach Riesenspaß, Menschen zusammenzubringen und spannende Künstler*innen zu finden, zu begleiten und gemeinsam Projekte für das Festival zu spinnen.

Du hast auch Philosophie und Politikwissenschaft fertig studiert. Inwiefern schillert das in der Programmierung durch?

Ich finde es wichtig und schön, künstlerische Positionen zu zeigen, die größere gesellschaftliche Themen aufzeigen und diskutieren: Wie wollen wir zusammenleben? Was können wir tun angesichts großer Krisen? Ich finde, Zirkuskunst darf und soll sich da ruhig noch mehr einmischen, das versuche ich ein Stück weit zu fördern. Das Studium hat mich hierfür sicher sensibilisiert und mein Denken geschärft. 

In Turin gibt es eine Zirkusschule. Wie aber erfolgt die Ausbildung in Österreich oder in Deutschland? 

Leider gibt es im deutschsprachigen Raum bislang noch keine Vollzeitausbildung im zeitgenössischen Zirkusbereich, dafür aber einige kleinere Programme und Teilzeitausbildungen. So gut wie alle Künstler*innen aus Deutschland und Österreich, die ich kenne, gehen nach Belgien, Frankreich, Spanien oder in die Niederlande zur Ausbildung. Wir können immer nur hoffen, dass sie danach zurückkommen …

Der Festivaltitel ON THE EDGE trifft auf das Eröffnungsstück absolut zu. »Eisemann«, aufgeführt von den Künstler*innen Victoria Halper, Kai Krösche und Aurelia Eidenberger, zollt Josef Eisemann Tribut. Einem Seiltänzer, der 1949 besonders riskante Manöver über dem Donaukanal vollführte, um seiner finanziellen Notlage zu entrinnen. Das Schauspiel gipfelte in der Überquerung des Seils mit seiner Tochter auf den Schultern, was für beide tödlich endete. Bei der Hommage an Eisemann geht es wohl 100 Prozent sicher zu und wie wird diese inhaltlich vonstattengehen?

100-prozentige Sicherheit gibt es nicht, da die Protagonistin ja live über ein Seil läuft, wenn auch natürlich nicht in 40 Meter Höhe. Wir erzählen die Geschichte von Eisemann und vor allem auch die Hintergründe, die ihn zu dieser wahnsinnigen Aktion bewegt haben. Es gab ja keine Zirkusse 1949 in Wien, die Künstler*innen mussten also aus der Not heraus improvisieren und unkonventionelle Orte und Kontexte andenken. Ich mag noch gar nicht so viel über das Stück verraten, aber es wird ein spannender Mix aus Seiltanzkunst, Performance und Videoprojektionen. 

Laurence Felber © Jona Harnischmacher

Es gibt das Eingehen derartiger Wagnisse heute immer noch, doch Sicherheitsvorkehrungen wie etwa bei von Wolkenkratzer zu Wolkenkratzer gespannten Seilen lassen sich wohl keine treffen? Anscheinend ist dem Menschen die Sensationslust eingeschrieben, was meint der Philosoph Arne Mannott dazu?

Ich glaube, es gibt immer Menschen, die noch einen Tick weitergehen wollen, die die Grenzen des Möglichen und aber auch die persönliche Grenze ein Stück weit verschieben wollen. Das Spannende ist ja auch, dass es nur ganz, ganz wenige Menschen gibt, die auch psychisch dazu überhaupt in der Lage sind. Ich denke zum Beispiel an die Extremkletter*innen, die ohne Seil Steilwände bezwingen, oder eben auch an Philippe Petit, der 1974 ohne Sicherheitsseil zwischen den beiden Türmen des World Trade Center umherbalanciert ist. Die geistige Konzentration und das 100-prozentige Ausblenden aller Dinge um einen herum ist absolute Voraussetzung für solche Extremaktionen. Auf der anderen Seiten lieben wir alle das Spektakel und die Sensationen, da wird sich kaum wer entziehen können. Kritisch wird es immer nur dann, wenn die das Spektakel ausübende Person in Gefahr gerät. Und da ergibt sich im Grunde die durchaus spannende philosophische Frage, ab wann es denn eine reale Gefahr ist bzw. was ich mir ohne moralische Gewissensbisse anschauen darf oder will. Hätte man bei Eisemann vielleicht eine (behördliche) Grenze ziehen müssen, damit man den Künstler schützt und die Sensationsgier zurückdrängt? Das sind letztlich große Fragen nach Moral und Verantwortung.

Sehr spannend, auch weil ich selber im Kabelwerk, ganz nahe an der U6 Tscherttegasse wohne und die U-Bahn-Abfahrtsdurchsagen bei offenem Fenster in der Wohnung hören kann, finde ich, dass Tanja Peinsipp und Susa Siebel diesen öffentlichen Stadtraum vom 3. bis 5. November (18:00 bzw. 14:00 Uhr am Sonntag) in ihre Arbeit einbeziehen. Der Weg von dieser U-Bahn-Station zum Festivalzentrum des Theaters im Werk dient als Ausgangspunkt ihrer Performance zwischen Zirkus und Tanz. Wie werden die historischen, sozialen sowie baulichen/architektonischen Bezugspunkte in ihr Stück »195-05-21« einfließen? Und was besagt diese Zahlenkombination, die für einen Laien nicht zu entschlüsseln ist?

Die beiden Künstler*innen sind vorher in Residenz bei uns und werden in der Zeit das Areal intensiv körperlich erforschen. Auf das Ergebnis dürfen wir gespannt sein! »195-05-21« steht für das Fachkürzel zur Benennung des Berührungsstroms, ist also eine Anspielung auf die Kabel, die hier früher hergestellt wurden. 

»195-05-21« © Igor Ripak

»195-05-21« findet im Rahmen von circus re:searched statt. Was ist die Intention davon und welche Aufführungen von circus re:searched seien Interessierten empfohlen?

circus re:searched ist ein Programm, das Künstler*innen aus dem deutschsprachigen Raum in ihren experimentellen und transdisziplinären Recherchen und Kreationen unterstützt. Wir laden sie zu Residenzen ein und bieten Aufführungsmöglichkeiten an. Neben der Performance von Tanja Peinsipp und Susa Siebel haben wir zum Beispiel vor einigen Jahren den Kreationsprozess der Schweizer Künstlerin Laurence Felber unterstützt und können sie dieses Jahr endlich bei ON THE EDGE mit »Questions to the Endless« zeigen!

Wer tiefer in die Avantgarde-Zirkussphäre reinschnuppern will, sollte am 5. November um 11:00 Uhr bei coffee&circus vorbeischauen. Was bietet dieses Vernetzungs- und Diskursformat von ON THE EGDE an?

Dieses Jahr gibt es eine kurze Vorstellung vom Wiener Kollektiv TRAP, welches die größte Halle für Zirkustrainings in Wien betreibt. Danach übernimmt der Dramaturg Michael Isenberg und wird mit uns gemeinsam über Dramaturgie im Zirkus-Kontext nachdenken. Was kann das sein, welche Tools können wir nutzen und was braucht es konkret, um zirzensische Kunst stärker dramaturgisch zu denken?

Während des Festivals werden drei Kurzfilme aus der Reihe »arte Bühnenreif« gescreent. Was ist die Thematik dieser drei Streifen, die dank einer Kooperation von ON THE EDGE mit arte Frankreich und La Blogothèque gezeigt werden? 

Es werden drei französische Compagnien vorgestellt. Die Compagnie Singulière zeigt ihre Hochrisiko-Performance »AmalgameS«. Bastien Dausse und Julieta Salz wurden filmisch dabei begleitet, wie sie ihr eigens entwickeltes Akrobatik-Requisit im Pariser Park La Villette präsentieren. Der dritte Kurzfilm porträtiert die wunderbare Gruppe PDF, Porté de Femmes, zu Deutsch: von Frauen getragen, eine französische Compagnie, die aus acht Frauen besteht. Ich freue mich sehr, dass wir hier arte wieder als Kooperationspartner an der Seite haben!

ON THE EDGE #7: Theater am Werk im Kabelwerk, Oswaldgasse 35A, 1120 Wien, 3.–11. November 2023

Link: https://www.ontheedge.at/

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