»BONES and STONES in the landscape« in Reshfaleoen © Marine Gastineau
»BONES and STONES in the landscape« in Reshfaleoen © Marine Gastineau

Das Tragbare und das Ertragbare

Claudia Bosse präsentiert im September mit »BONES and STONES in the landscape« Theater in der Landschaft am Areal des Symposion Lindabrunn.

Seit 2022 arbeitet die international tätige Regisseurin, Choreografin und Künstlerin Claudia Bosse an dem 4-Jahres-Zyklus »ORGAN/ismus poetik der relationen«, der mit der Premiere von »BONES and STONES« im Tanzquartier Wien eröffnet wurde. Im Juni 2023 erschien eine Publikation über die Arbeiten von Claudia Bosse und theatercombinat im Alexander Verlag Berlin. In der Serie »Postdramatische Theater in Portraits« liefert der Band »Claudia Bosse – Kein Theater. Alles möglich« Einblicke in ihre Anfänge und einen guten Überblick über ihr bisheriges Schaffen: »Seit über 25 Jahren prägt Claudia Bosse ein Theater, das die eigenen Grenzen radikal in Frage stellt. Ob sie den politischen Stoffen mit Elfriede Jelinek, Heiner Müller, Bertolt Brecht, Aischylos, Racine oder Shakespeare den zugehörigen Theatergrund buchstäblich entzieht oder in hybriden Materialkonstellationen dem Publikum einen Raum des Nicht-Verstehens eröffnet, Claudia Bosse und das theatercombinat agieren dort, wo das Theater zur Disposition steht: in einem Feld zwischen Sprache, Raum, Chor und Körper, Choreografie, Installation, Performance und Ritual.« skug hat mit Bosse in ihrem kühlen Souterrain-Arbeitsatelier in der Mommsengasse in Wien über die kommende Arbeit »BONES and STONES in the landscape« gesprochen.

»BONES and STONES in the landscape« in Reshfaleoen © Marine Gastineau

skug: Ich habe die Premiere von »BONES and STONES« im Dezember 2022 in der höhlenartigen Halle G im Tanzquartier Wien gesehen. Vermutlich auch als Reaktion darauf habe ich das Buch »Urwelten. Eine Reise durch die ausgestorbenen Ökosysteme der Erdgeschichte« von dem englischen Paläontologen und Evolutionsbiologen Thomas Hallidays gelesen. Der englische Titel »Otherworlds. A world in the making.« passt finde ich auch gut als Paraphrasieren zu deiner Performance »BONES and STONES«. Was hat dich an der Auseinandersetzung mit der sogenannten erdgeschichtlichen Tiefenzeit interessiert?

Claudia Bosse: Durch meine Arbeiten im Wald für »ORACLE and SACRIFICE in the woods« wurde mir klar, dass, im Gegensatz zum Arbeiten in geschlossenen Räumen, hier verschiedenste Zeiten und (Lebens-)Rhythmen zugleich verhandelt werden. Unterschiedlichste Lebewesen und Stoffwechsel-Prozesse bestimmen diesen Raum, die menschliche Zeit und ihre Rhythmen sind nur eine mögliche Zeitform, auf die Bezug genommen werden kann. Unglaublich komplexe und oft mikroskopisch kleine Systeme unterhalb der Waldoberfläche, die auch ein Versorgungs- und Kommunikationsnetzwerk darstellen, entziehen sich der Sichtbarkeit. Der Wald ist ein enges Zusammenspiel von Entstehungs- und Verwesungsprozessen; und von einem menschlichen Körper würden zum Beispiel nur die Knochen überbleiben.

Über die Knochen bin ich dann thematisch sozusagen noch tiefer ins Erdinnere eingedrungen und habe versucht, unser Zeitdenken in Verbindung mit unserem Planeten zu verstehen und auch in Frage zu stellen. Welches Verhältnis haben wir zu Materialien und Substanzen? Warum sind wir meist nur in der Lage, Stoffe als Ressource zu betrachten? Auch Öl und Erdgas sind ja organische Substanzen aus vergangenem Leben, die durch Kompression und Temperaturveränderung entstanden sind. Wie kann man über die Konsequenzen unserer Zeit nachdenken? Wirkungen und Folgen, die oft nur im Zeitraum von Menschenleben gedacht werden, ermessen? Unser Handeln, unser Umgang mit dem, was uns umgibt, hat und hatte aber weitreichende Folgen und Konsequenzen, die die zeitliche Dimension eines Menschenlebens bei weitem überschreiten.

»BONES and STONES in the landscape« in Reshfaleoen © Marine Gastineau

Die amerikanische Autorin Ursula Kroeber Le Guin erwähnte in ihrem kurzen Essay »The Carrier Bag Theory of Fiction« (1986) ‒ in dem sie Narration als eine Tragetasche versteht, um Geschichten zu sammeln und weiterzugeben ‒ die Tragetaschen-Theorie der menschlichen Evolution von der feministischen Journalistin Elizabeth Fisher (bedeutende Publikation: »Women’s Creation: Sexual Evolution and the Shaping of Society« aus dem Jahr 1979): »The first cultural device was probably a recipient. Many theorizers feel that the earliest cultural inventions must have been a container to hold gathered products and some kind of sling or net carrier.« Das führt mich direkt zu einem Zitat von dir aus einem Artist-Talk zu »BONES and STONES«: »Das Tragbare ist nicht nur bei Steinen begrenzt. Das Tragbare und das Ertragbare.«

Wie kann aus den Überresten von Geschichten etwas Neues kreiert werden? Ich habe die Arbeit »BONES and STONES« sehr bewusst mit einem Ensemble aus Frauen gemacht. Diese Frauen tragen unterschiedlichste Leben mit sich. Ich greife zur Veranschaulichung eine Sequenz im Stück »BONES and STONES« heraus: Die Knochen von verschiedensten Lebewesen werden aus einer Plastiktüte ‒ einer Carrier Bag unserer Zeit ‒ auf die Bühne ausgekippt, um dann daraus wieder gemeinsam etwas zu konstruieren ‒ und dabei den Raum und die Anwesenden einzunehmen. Das alles ist ein Auslegen, ein materielles Denken, ein Verunreinigen und Gegenschalten von Assoziationen. Ich hatte Bilder von dieser »Carrier Bag Theory of Fiction« von Le Guin in meinem Kopf, aber auch Bilder vom Film »Nacht und Nebel« von Alain Resnais ‒ von Körpern und Knochenhaufen in den Vernichtungsmaschinerien des Nationalsozialismus. 

Aber auch gedankliche Bilder von den sogenannten Trümmerfrauen in Deutschland, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur versucht haben, die Trümmer freizulegen und wieder aufzubauen, sondern die auch die Wälder wieder aufgepflanzt haben, die aufgrund von Reparationsleistungen für Schäden abgeholzt wurden. Es gab in Deutschland ein 50-Pfennig-Stück, auf dem eine Frau abgebildet ist, die eine Eiche pflanzt. Das sind so verschiedene Wiederanfänge und Arten des Zurückblickens, die für mich zur Verschneidung von Ebenen wichtig waren. Übergänge und Sprünge von Motiven, die verschiedene Zeiten aufrufen, und keine unmittelbaren linearen und logischen Verankerungen darstellen müssen. Das ist ja das Schöne am künstlerischen Denken, Schaffen und Eröffnen: Ich habe die Möglichkeit, Perspektiven und Zeiten zu verschränken und danach das Unkontrollierbare in den Lesarten durch die Zuschauenden zu erfahren.

»BONES and STONES in the landscape« in Reshfaleoen © Marine Gastineau

Danke, du lieferst mir damit eine Überleitung zur nächsten Frage. Kathrin Tiedemann, die gemeinsam mit Fanti Baum heuer die Publikation »Kein Theater. Alles möglich« veröffentlicht hat, hatte folgende Interpretationen und Lesarten zu deiner Performance »BONES and STONES«: Zum einen die existenzielle Frage wo fängt das Leben an, wo hört es auf? Zum anderen auch die Frage nach popkulturellen Referenzen und Referenzen zu Kriegsschauplätzen.

Ich arbeite oft mit einfachen Materialien, bei diesem Stück »BONES and STONES« zum Beispiel mit Gepäckwägen und Gurten. Die Materialitäten sollten dabei aber nicht als reine, einlösbare Zitate verstanden werden …

… wie auch der riesige Röhrenknochen von einem Mammut? Die sogenannte Mammutsteppe im Pleistozän war das größte, einheitliche und zusammenhängende Ökosystem der Erdgeschichte. Gleichzeitig haben auch kleinste Landschaften in den selbstgebauten Mini-Biosphären, in den Hermetosphären, einen Platz auf der Bühne. Die Anatomin Gerlinde Maria Gruber war bei der Recherche sozusagen die Knochenfrau, mit der Architektin Barbara Imhof hast du die Hermetosphären gestaltet.

Gerlinde Maria Gruber hat mir sehr passioniert über den Verfall, die Substanz und die Veränderbarkeit von Knochen erzählt. Ich habe von ihr gelernt, dass Knochen sich alle sieben Jahre komplett erneuern und dass an den Knochen die Bewegung des Körpers abgelesen werden kann, da er auf die Reizung durch Bewegung reagiert. Es gibt in den Knochen auch schwammartige Zonen, die eine gewisse Flexibilität haben. Knochen sind lebendige Organe, da sie auch Blutkörperchen herstellen können. Choreografisch habe ich versucht, den Körper, den man ja häufig eher muskulär begreift, zu untersuchen, indem man ihn durch Knochen in den Raum verlängert. Ein Gefüge aus knapp über 200 Knochen bildet unseren Körper. Wo befinden sich die beweglichen und wo die eher unbeweglichen Teile? Die Lebensweisen eines Körpers sind auch nach dem Ableben in den Knochen lesbar, wie man auch in Steinen oder landschaftlichen Erhebungen klimatische Veränderungen motivisch erkennen kann.

Das Stück in Kopenhagen beim Metropolis Festival im August war ein interessantes Zwischenstück bei der Entwicklung zur kommenden Performance im Steinbruch Lindabrunn ‒ wir werden übrigens ein Bus-Shuttle-Service dorthin anbieten. In Kopenhagen fand die Arbeit »BONES and STONES« auf einer künstlich aufgeschütteten Insel aus aufgelockertem Schutt statt, einem ehemaligen Industriestandort für die Werften und die Marine ‒ also einem artifiziell geschaffenen Raum, der nun eine Art dritte Landschaft ist, Werftgebäude und aufgebrochene Betonflächen, aus den Pflanzen wachsen, Werfthallen und ein Hafengebiet, auf dem Dinge lagern, die aus dem Meer gezogen wurden. Ein Areal, das sich gerade in einem Stadtentwicklungsprozess befindet. Wir haben mit der Performance im Innenraum einer ehemaligen Admiralsturnhalle begonnen und sind dann raus auf ein Terrain gegenüber einer Kläranlage und eines Biothermie-Kraftwerks, das auch Rauch ausstieß, wie unsere Konstrukte aus den Ziegeln der Turnhalle. Am Ende der Aufführung haben wir die Biosphären ‒ als Beginn des ersten, entstehenden Lebens aus dem Wasser ‒ auf floßartigen Hafenelementen abgestellt. Ein Mammutknochen und ein Frauenkörper – als Repräsentation einer ausgestorbenen und vermutlich bald ausgestorbenen Spezies ‒ wurden auf das Meer hinausgeschickt. Wo werden diese ankommen? Als ich danach wieder nach Wien zurückkam, waren all die glatten und geschlossenen Oberflächen für mich unfassbar. In Refshaleoen – dieser Halbinsel vor Kopenhagen – gab es überall Schotter, offene Flächen, es kamen dazwischen Pflanzen durch, Wind, Wasser und Wolken waren ständig präsent. Hier scheint es so eine unglaubliche Angst zu geben vor dem, was sich unter dem Boden befindet. Alles wird geschlossen und asphaltiert.

»BONES and STONES in the landscape« in Reshfaleoen © Marine Gastineau

Eine alarmierende Wahrnehmung. Jemand, der auch sehr feinfühlig durch den Zeitgeist blickt, ist Alexander Kluge. Wie könnte ich ihn am besten beschreiben?

Ein Phantast des Denkens …

Danke, eine wunderbare Beschreibung. Alexander Kluge, ein Phantast des Denkens, hat im Zusammenhang mit Filmen und den Reaktionen, die sie auslösen können, sinngemäß gesagt: »Versteinerte Gedanken verflüssigen sich in Form von Tränen.« In welchen Momenten erfährst du diese Reaktionen, dieses Gerührt-Sein?

Der Film »Nacht und Nebel« von Alain Resnais war eine totale Erschütterung, weil er eine unglaublich präzise Sprache aufsucht und durch eine montageartige Betrachtung Unfassbares berührbar macht. Auch von der Architektur des Klosters Sainte-Marie de La Tourette bei Lyon von Le Corbusier war ich sehr gerührt. Ich hatte den Eindruck, dass es die Praxis der Religion als Körper im Raum für mich komplett verändert. Es war im höchsten Maße eingreifend und hat mich total erschüttert. Alle gewohnten Ordnungen waren versetzt. Über den Altar ist man zum Beispiel in das Gebäude hineingekommen. Ich kenne diese Empfindung des Gerührt-Seins auch beim Arbeiten an Performances, wenn eine Mischung aus Erschöpfung und einer großen existenziellen Tiefe einsetzt ‒ eine Kontrolle des Denkens kann körperlich eindringen und aufgelöst werden. Und auch Landschaften können mich berühren. Wir haben bereits eine Recherche für die nächste Arbeit begonnen, die sich »haunted landscapes or the breathing out of earth« nennt. Einerseits haben wir aktive Vulkane besucht und inzwischen auch die größte Wüste innerhalb von Deutschland, die durch einen Waldbrand 1942 entstanden ist. Die Lieberoser Wüste wurde danach zu einem militärischen Übungsgelände, das man eigentlich nicht betreten durfte. Beim Betrachten des Bodens dieser riesig dimensionierten Steppenlandschaft kann man ganz kleine, kaminrote Flechtenköpfchen entdecken. In solchen Momenten erkennt man die Irrelevanz und die irrsinnige Überschätzung unserer Spezies außerhalb von sicheren und konstruierten Umgebungen. Eigentlich müsste man sofort mit der Spitzhacke losgehen und die erstickenden, inadäquaten Straßen in Städten aufschlagen, damit die darunter liegende Erde dort endlich wieder atmen kann.

Links:

Die Premiere von »BONES and STONES in the landscape« findet am 9. September 2023 auf dem Areal des Symposion Lindabrunn statt, mit weiteren Aufführungen am 10. und 16. September 2023 und Bus-Shuttle-Service ab Wien. Nähere Informationen unter: https://www.symposion-lindabrunn.at/ und https://www.theatercombinat.com/projekte/bones/bonesstones_landscape.html. 

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