Als Volksschulkind besuchte Michael Franz Woels die Karl-Punzer-Schule in Steyr, mit seiner Familie wohnte er in einer Reihenhaussiedlung in der Erwin-Puschmann-Straße. Als Kinder spielten er und sein Bruder in den Straßen, die nach Widerstandskämpfer*innen benannt waren, im nahegelegenen Auwald sahen sie manchmal die zugewachsenen Bombentrichter aus dem Zweiten Weltkrieg oder die verfallenen Eingänge zu den vielen Luftschutzstollen. Aber von einem ehemaligen Konzentrationslager sahen und ahnten sie nichts. Erst Jahre später wurde Woels die auf Zwangsarbeit beruhende und vom Soziologen Helmut Retzl beschriebene Geschichte des Stadtteils Münichholz – im Zweiten Weltkrieg extra für die Arbeiter*innen in der NSDAP-Rüstungsindustrie erbaut – bewusst. Wieder Jahrzehnte später, sensibilisiert durch die Awareness-Arbeit im öffentlichen Raum für die Stadt Wien 2023, wagte er 2024 den Schritt in die Vermittlungsarbeit und begleitet seit damals unterschiedlichste Gruppen – vor allem viele Schüler*innen-Gruppen – durch den sogenannten »Stollen der Erinnerung« in Steyr. Im Zuge dieser pädagogischen Vermittlungsarbeit lernte Michael Franz Woels auch seine damalige Kollegin, Historikerin Silke Umdasch kennen, mit der nun gemeinsam dieses Interviewunterfangen möglich wurde.
Diese Erinnerungsarbeit, auch im Rahmen von Workshops – unter anderem mit Rücksichtnahme auf einfache Sprache –, zeigte Woels immer wieder aufs Neue, wie wichtig der Dialog und der Diskurs über Themen wie Menschenrechte, demokratisches Handeln, Freiheitsvorstellungen etc. sind. Wir müssen uns darüber austauschen, wie wir unser Zusammenleben gestalten wollen, denn demokratische Systeme sind leider keine natürlichen Entwicklungen der menschlichen Zivilisation, sondern bedürfen täglicher Aushandlungsprozesse, die auch viel Empathie und Toleranz abverlangen. Die rechtsphilosophische Lektüre »Vom Wesen und Wert der Demokratie« von Hans Kelsen, auf dessen Überlegungen die österreichische Verfassung beruht, haben ihm vor Augen geführt, wie komplex demokratiepolitische Überlegungen sind und dass sie einer guten Vermittlung bedürfen. Um dieses Anliegen, demokratisches Handeln im ständigen, dialogischen Austausch zu erklären, zu begründen, zu festigen und in weiterer Folge die Gefahren antidemokratischer, menschenverachtender und rechtsextremer Tendenzen aufzuzeigen, soll dieser Beitrag zur Stärkung einer couragierten Zivilgesellschaft dienen. Denn: »Wir sind alle«, oder wie es der Exil-Schriftsteller, Drehbuchautor und Theaterregisseur George Tabori einmal so treffend formulierte – die Essenz der Menschenrechte auf drei Wörter verdichtend: »Jeder ist jemand.«
Jüdische Geschichte lernen
Das Gebäude der ehemaligen Synagoge in Steyr ist das einzige erhaltene in Oberösterreich aus der Zeit vor 1938. Es soll zu einem Lernort für historisches und gegenwärtiges jüdisches Leben umgewandelt werden, an dem Forschung betrieben und Wissen vermittelt werden kann. Zusammen mit bestehenden Gedenk- und Lernorten wie dem jüdischen Friedhof und dem »Stollen der Erinnerung« wird damit in Steyr eine einzigartige Erinnerungslandschaft in Österreich entstehen. Das Projekt mit dem Titel »Lernort Synagoge« soll nach der im Jahr 2026 geplanten Eröffnung in einen Dauerbetrieb übergehen. In der ersten Projektphase werden umfangreiche inhaltliche Recherchen durchgeführt, die die Grundlage für die spätere Ausstellung und alle Vermittlungsangebote bilden. Ziel ist es, einen authentischen Lernort zu schaffen, der nicht nur Individualbesucher*innen Zugang zur jüdischen Geschichte und zum jüdischen Leben im ländlichen Raum bietet, sondern vor allem für junge Menschen im schulischen Kontext attraktiv ist.
Silke Umdasch und Michael Franz Woels haben zwei für die Erinnerungskultur in Steyr maßgebende Personen befragt, zum einen die pensionierte Professorin für Geschichte und Französisch Waltraud Neuhauser-Pfeiffer. Sie war eine langjährige Mitarbeiterin im Mauthausen Komitee Steyr (1988–2013) und Mitkuratorin des Gedenkorts »Stollen der Erinnerung« in Steyr. Zuletzt ist von ihr im Verlag Ennsthaler das Buch »Dazugehörig? Jüdisches Leben in Steyr von den Anfängen bis in die Gegenwart« erschienen. Zum anderen antwortet der Religionspädagoge und Vorsitzende des Mauthausen Komitees Steyr Karl Ramsmaier. Er ist Verfasser zahlreicher zeitgeschichtlicher Artikel und Initiator von Aktivitäten zur Erinnerung an die Opfer der Nazi-Herrschaft in Steyr. Gemeinsam mit Waltraud Neuhauser-Pfeiffer hat er wichtige Nachforschungen zur NS-Zeit in Steyr und Garsten unternommen und prägt unter anderem als Initiator des »Stollens der Erinnerung« und des »Lernorts Synagoge« nachhaltig die Gedenkkultur in Steyr.

skug: Seit vielen Jahrzehnten ist Ihnen die Geschichte der Juden und Jüdinnen und der NS-Zeit in Steyr ein besonderes Anliegen. Mit Projekten, Veranstaltungen, lokalhistorischen Forschungen und Publikationen lassen Sie die Ursachen und Auswirkungen der menschenverachtenden Epoche der NS-Zeit nicht in Vergessenheit geraten. Mit Ihrer Publikation aus dem Jahr 2021 »Dazugehörig? Jüdisches Leben in Steyr von den Anfängen bis in die Gegenwart« haben Sie anhand von sechs Familienschicksalen die leidvolle Geschichte der jüdischen Mitbürger*innen in Erinnerung gebracht. Einer der wenigen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in Steyr niederließen, war Friedrich Uprimny. Sein Leben wird ebenso dargestellt wie die Geschichten jener, die nicht mehr in ihre ehemalige Heimatstadt zurückkehrten. Heute sind Gertrude Pincus, geborene Böck, Karl Fürnberg, Lotte Herrmann, geborene Schimmerling, Willi Nürnberger und Helene Seinfeld, geborene Popper, bereits verstorben.
Als Zeichen des Gedenkens verlegen Sie seit 2023 »Stolpersteine für Steyr«. Gewidmet sind sie Steyrer Opfern des NS-Regimes: Juden und Jüdinnen, Sinti und Roma, T4-Opfern, Homosexuellen, Widerstandskämpfer*innen und aus anderen Gründen Ermordeten. Allen, die verfolgt, vertrieben und ermordet wurden oder die ihrem Leben unter dem Verfolgungsdruck selbst ein Ende gesetzt haben. Der Künstler Gunter Demnig hat – seit 1996 und in Deutschland beginnend – über 100.000 »Stolpersteine« in fast 2000 Kommunen verlegt. Wie kamen Sie auf die Idee, diese Gedenkaktion auch in Steyr weiterzuführen? Können Sie uns kurz etwas zu Ihren Erfahrungen mit diesen Gedenkveranstaltungen erzählen?
Waltraud Neuhauser-Pfeiffer: In Steyr hat sich seit Ende der 1980er-Jahre eine Erinnerungskultur etabliert, die ihr Augenmerk im Besonderen auf die Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der Steyrer Jüdinnen und Juden und die Aufarbeitung der NS-Zeit gerichtet hat. Das Mauthausen Komitee Steyr, bei dem ich von Anbeginn 1988 bis 2013 ein aktives Mitglied war, hat in diesem Zusammenhang Wesentliches geleistet. Neben jährlichen Gedenkfeiern, Anbringen von Gedenktafeln und anderen Erinnerungsaktivitäten sind vor allem das Renovieren des jüdischen Friedhofs und der »Stollen der Erinnerung« – als begehbare Orte des Gedenkens und der Mahnung – zu nennen. So unverzichtbar diese »Gegendenkmäler« sind und bleiben werden, so sehr fehlte in Steyr mit den »Stolpersteinen« jenes Erinnern, das uns im Alltag immer wieder daran denken lässt, dass Verfolgte, Vertriebene und Ermordete des NS-Regimes einst unsere Nachbarn waren. Mit dem Projekt der »Stolpersteine« des deutschen Künstlers Gunter Demnig wird den traditionellen »großen« Erinnerungsorten ein neuer Gedanke hinzugefügt. Die 96 x 96 x 100 mm kleinen, in den Boden vor den Wohnorten von ehemaligen Juden und Jüdinnen eingelassenen »Stolpersteine« machen aufgrund ihres Aussehens darauf aufmerksam, dass hier einst Menschen lebten, die vertrieben oder ermordet wurden. Dieses metaphorische Stolpern ist ja in Wirklichkeit kein »Stolpern«, sondern wird zu einem Erinnern, das im Alltag verortet werden soll. »Stolpersteine« wurden im Jahr 2025 zum dritten Mal in Folge verlegt. Neben jüdischen Opfern werden seit dem Vorjahr auch T4-Opfer mit diesen Erinnerungszeichen gewürdigt. Bei den Verlegungsfeiern werden auch Nachkommen der Opfer eingeladen. 2023 reisten Nachfahren der jüdischen Familien Uprimny und Popper aus Israel, der Schweiz und Dänemark an, im Vorjahr Nachkommen der Familie Böck-Pincus aus Berlin und Wien, Kinder und Enkelkinder des T4- Opfers Anna Herzenberger aus Linz. Diese Anwesenheit der Nachkommen der Opfer gestalteten die Verlegungsfeiern sehr berührend. Ein großes Anliegen ist uns Projektinitiator*innen die Teilnahme von Jugendlichen. Schüler*innen aus dem BRG und der HLW Steyr nahmen an Organisations- und Projektentwicklungsarbeiten im Rahmen ihres Unterrichts an den vergangenen Projekten teil. Die Verlegungsfeiern werden alljährlich von 100 bis 150 Personen besucht und die Rückmeldungen sind positiv. Bemerkenswert ist auch, dass sich um die Vorbereitungsarbeiten zur Verlegung der Stolpersteine eine Gruppe von mehr als zehn Menschen gebildet hat, die mit hohem Engagement die Initiative trägt.
Das Mauthausen Komitee Steyr wurde 1988 unter dem Namen Mauthausen Aktiv Steyr gegründet und 2002 in Mauthausen Komitee Steyr umbenannt. Seit 12. Mai 2009 ist das Komitee offiziell ein Verein, es besteht aus rund 20 Mitgliedern, die sich monatlich treffen. Das Ziel des Mauthausen Komitees Steyr ist es, die Erinnerung an die Opfer der NS-Gewaltherrschaft wach zu halten, und zwar durch die Errichtung von Gedenktafeln, die Betreuung der Gedenkorte und der Dauerausstellung zum Thema Zwangsarbeit und KZ-Münichholz im »Stollen der Erinnerung« sowie die Erforschung der Geschichten der Opfer und die regelmäßige Abhaltung von Gedenkfeiern. Die jährliche Gedenkfeier am jüdischen Friedhof um den 9. November und die jährliche Befreiungsfeier beim KZ-Denkmal an der Haagerstraße sind dabei Fixpunkte. Ein besonderes Anliegen ist dem Komitee die Pflege des jüdischen Friedhofes und die Erforschung des KZ-Außenlagers Steyr-Münichholz. Das Mauthausen Komitee Steyr arbeitet eng mit dem Mauthausen Komitee Österreich, der Amicale de Mauthausen (französische Lagergemeinschaft Mauthausen), der Associazione Nazionale ex Deportati nei Lager nazisti (ANED) aus Italien und dem Museum Arbeitswelt Steyr zusammen. Das erste Mahnmal für alle Opfer des Nationalsozialismus wurde in Steyr 1948 errichtet. Das KZ-Denkmal an der Haagerstraße – unweit des ehemaligen Ortes des KZ-Außenlagers Münichholz – wurde bereits 1953 von der Amicale de Mauthausen errichtet. Was führte (erst) in den 1980er-Jahren zur Gründung des Mauthausen Komitees Steyr?
Karl Ramsmaier: Die Waldheim-Affäre 1986 brachte die Opfer-These, dass Österreich das »erste Opfer« des Nationalsozialismus sei und daher jede Verantwortung für Verbrechen des NS-Regimes von sich weisen könne, zu Fall. Die Verdrängung und Verharmlosung der von Österreicher*innen in den Jahren der NS-Herrschaft 1938 bis 1945 begangenen Verbrechen nahm ein Ende. Nun rückte die Erinnerung an die Gegner*innen des NS-Regimes und die Opfer der Shoa in den Mittelpunkt. Im »Ge- und Bedenkjahr 1988«, bei dem erstmals ausführlich über den »Anschluss« und die NS-Herrschaft in Österreich diskutiert wurde, fanden auch in Steyr verschiedene Veranstaltungen zu dieser Thematik statt. Um diese Diskussion weiterzuführen, wurde im September 1988 das Mauthausen Komitee Steyr gegründet, damals noch unter dem Namen Mauthausen Aktiv Steyr. Bei der Reflexion der Veranstaltungen des »Ge- und Bedenkjahrs 1988« wurde auch die Frage gestellt, ob es in Steyr auch Jüdinnen und Juden gab, und wenn ja, was mit ihnen geschah. Nachdem niemand eine Antwort auf diese Fragen wusste, war die Erforschung des Schicksals der Steyrer Jüdinnen und Juden eine erste Aufgabe. Zusätzlich trafen sich ab Mitte der 1980er-Jahre Interessierte zur Unterstützung der Lagergemeinschaft Mauthausen bei der Organisation der jährlichen Befreiungsfeier. Daraus entwickelte sich das Mauthausen Komitee Österreich. Von Anfang an wollte man an jedem Ort eines Außenlagers von Mauthausen ein lokales Mauthausen Komitee aufbauen. Das Mauthausen Komitee Steyr war eines der ersten.

Seit dem 14. Jahrhundert lässt sich die Ansiedlung von Jüd*innen in Steyr nachweisen. Bereits 1371 sind Restriktionen des Handels überliefert, ab 1420 wurden Jüd*innen ob und unter der Enns der »Hostienschändung« beschuldigt, sie wurden verhaftet, zur Konvertierung gezwungen und bei Weigerung vertrieben oder gar verbrannt. Dies zeigt, dass es auch in Oberösterreich eine lange Geschichte der Verfolgung und Ermordung einer jüdischen Minderheit gibt. Sie haben in den 1990er-Jahren genauer zur Geschichte der Jüd*innen in Steyr recherchiert, und gemeinsam mit Karl Ramsmaier 1993 (Neuauflage 1998) das Buch »Vergessene Spuren. Die Geschichte der Juden in Steyr« veröffentlicht. Was stellte sich bei der Recherche als besonders schwierig heraus? Welche öffentlichen Stellen waren bei der Weitergabe von Informationen hilfreich, welche Stellen wollten Informationen eher vorenthalten?
Waltraud Neuhauser-Pfeiffer: Schwierig gestaltete sich die Suche von noch lebenden Nachfahren, da sie gezwungen waren, in der NS-Zeit zu emigrieren. Bereits ab 1987 besuchte ich mit Georg Neuhauser erstmals den letzten noch lebenden Nachkommen der Familie Uprimny auf dem Wieserfeldplatz in Steyr, dessen Eltern und zwei seiner Geschwister im Holocaust ermordet wurden. Von ihm stammen die Grundinformationen über die jüdischen Bewohner*innen von Steyr. Mit ihm gewannen wir einen guten Freund, der uns viele Kontakte vermittelte und auch im Mauthausen Komitee aktiv mitwirkte. Die Erinnerung an das jüdische Leben in Steyr war ihm ein Herzensanliegen. Er leitete zwei Jugendsommerlager zur Renovierung des jüdischen Friedhofs. In den 1990er-Jahren konnten wir einige Nachkommen in den USA, Israel, Großbritannien, Berlin und Wien besuchen und mittels »oral history« Zeitzeug*innengespräche durchführen, die in unsere Publikation »Fluchtspuren« einflossen. Im Stadtarchiv Steyr waren einige Quellen auffindbar, jedoch waren viele von anderen Magistratsabteilungen noch nicht in das Archiv gelangt. Das Landesarchiv Oberösterreich, das Melde- und Standesamt sowie das Grundbuch der Stadt Steyr gewährten uns Akteneinsicht. Auch im historischen Meldearchiv Wien, im Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Linz und Wien, im Staatsarchiv Wien und auch in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem konnten wir Quellenmaterial recherchieren.
Karl Ramsmaier: Die Recherche war sehr mühsam und aufwendig, weil es praktisch überhaupt keine Vorarbeiten gab. Es gab eine gute Zusammenarbeit mit dem OÖ Landesarchiv und mit Archiven in Israel. Auch die Überlebenden und die Nachkommen der Steyrer Jüdinnen und Juden waren eine große Stütze. Mit der Unterstützung des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes konnten wir immer rechnen. Dazu unterstützen uns noch viele kleinere Archive und Institutionen. Wenig Unterstützung und Interesse fanden wir beim damaligen Steyrer Stadtarchivar.
Ein 140 Meter langer Stollen unter dem Schloss Lamberg, der von Häftlingen des KZ Steyr-Münichholz – eines von 19 oberösterreichischen Außenlagern des Konzentrationslagers Mauthausen – gebaut wurde, ist seit 2013 Schauplatz der Gedenkausstellung »Stollen der Erinnerung«. Die Ausstellung thematisiert die Krisenzeit der 1930er-Jahre, erwähnt den Ausbau der damaligen Steyr-Werke zu einem führenden Rüstungskonzern und bespricht das Schicksal von Häftlingen aus dem KZ Steyr-Münichholz und jenes von Zwangsarbeiter*innen – anhand von Fotos, Dokumenten, Zeichnungen und Gegenständen – sowie die lokale Erinnerungskultur nach 1945. Ursprünglich war so eine Ausstellung im letzten noch bestehenden Gebäude auf dem Areal des ehemaligen KZ Steyr-Münichholz geplant. Wer war der damalige Besitzer und wie kam er in den Besitz dieses Gebäudes? Wie reagierte er auf die Idee der Nutzung als Ausstellungsfläche?
Waltraud Neuhauser-Pfeiffer: Das Mauthausen Komitee Steyr plante, eine sogenannte »Zeitgeschichte-Werkstätte« in der letzten KZ-Baracke, der ehemaligen Lagerkantine des KZ-Außenlagers Steyr-Münichholz, zu errichten. Als der Besitzer – den Namen weiß ich nicht mehr – 1993 davon erfuhr, dass wir das Gebäude unter Denkmalschutz stellen wollten, ließ er das Gebäude in einer Nacht-und-Nebel-Aktion illegal abreißen. Großes Medienecho mit Protesten folgten. Auch Simon Wiesenthal reagierte schockiert über den Abriss. Die letzten auf Privatgrund befindlichen Reste der ehemaligen KZ-Baracke auf Privatgrund wurden 2019 beseitigt.
Karl Ramsmaier: Schon 1988 hatte das Komitee die Idee, dort eine Gedenkstätte einzurichten. Ende 1992 wurde die Idee weiterentwickelt: Der Gedenkort sollte eine Außenstelle des Museums Arbeitswelt werden. Anfang März 1993 unterbreitete das Komitee diesen Vorschlag dem damaligen Bürgermeister Hermann Leithenmayr. Mitte März 1993 ließ der Besitzer, Malermeister Erich Sulzenbacher, die Baracke illegal abreißen. Sulzenbacher hatte mitbekommen, dass das Komitee bestrebt war, die Baracke unter Denkmalschutz stellen zu lassen. Er befürchtete vermutlich dadurch einen Wertverlust der Immobilie. Wann und wie er in den Besitz des Gebäudes kam, wissen wir nicht.

Die ehemalige Synagoge in Steyr ist das einzige erhaltene Gebäude einer jüdischen Glaubensgemeinschaft aus der Zeit vor 1938 in Oberösterreich. Es soll zu einem Lernort für historisches und gegenwärtiges jüdisches Leben umgewandelt werden, an dem Forschung betrieben und Wissen vermittelt werden können. Zusammen mit bestehenden Gedenk- und Lernorten wie dem jüdischen Friedhof und der Dauerausstellung im »Stollen der Erinnerung« wird in Steyr eine in Österreich einzigartige Erinnerungslandschaft entstehen. Das geplante Projekt trägt den Titel »Lernort Synagoge« und soll nach der Eröffnung 2026 in den Dauerbetrieb übergehen. In der ersten Projektphase werden umfangreiche inhaltliche Recherchen durchgeführt, die die Grundlage für die spätere Ausstellung und alle Vermittlungsangebote bilden. Können Sie etwas über die spezielle Geschichte der Synagoge erzählen? Warum wurde sie im November 1938 nicht zerstört? Wie wurde das Gebäude bis 1945 und danach genutzt?
Karl Ramsmaier: Das Gebäude war ursprünglich ein Restaurant der Bürgerlichen Aktienbrauerei. 1894 kaufte die zwei Jahre zuvor gegründete Israelitische Kultusgemeinde Steyr das Gebäude. Im Gebäude befand sich eine Gedenktafel mit den Sponsoren. In den 1990er-Jahren wurde diese Tafel durch einen Zufall wiedergefunden. Nicht nur Heinrich Schön, Rabbiner von 1896 bis 1926, sondern auch der letzte Rabbiner Chaim Nürnberger wohnte hier mit seiner Familie. Im August 1938 wurde das Gebäude von Franz und Anna Pichler arisiert. Sie nutzten das Erdgeschoss als Fahrradgeschäft. Das ist auch der Grund, warum das Gebäude nicht zerstört wurde. Im Gebäude war auch eine Abteilung des Magistrates Steyr (Anm.: perfiderweise ein Amt für Fürsorge) untergebracht. Nach dem Krieg wurde die Israelitische Kultusgemeinde von Holocaust-Überlebenden neu gegründet und die Synagoge 1946 neu eingeweiht. Im nahegelegenen DP-Lager (Anm.: Displaced-Persons-Lager) am Tabor waren 1.800 jüdische Flüchtlinge untergebracht.
Waltraud Neuhauser-Pfeiffer: Ja, Ende Oktober 1894 wurde das Restaurationsgebäude der Bürgerlichen Aktienbrauerei in der Bahnhofstraße 5 von der Kultusgemeinde Steyr angekauft und zu einem Bethaus umgebaut. Eine Gedenktafel über den Kauf und die Spenden des Gebäudes befindet sich auf dem jüdischen Friedhof in Steyr, die vom Journalisten Johann Stögmüller in den 1990er-Jahren zufällig bei einem Steinmetz gefunden wurde. Langjähriger Rabbiner war von 1896 bis 1926 Heinrich Schön, ihm folgte bis 1938 Chaim Nürnberger. In der November-Pogromnacht 1938 brannten vielerorts die Synagogen, es kam zu Ausschreitungen und Verhaftungen. In Steyr blieb die Synagoge verschont, da sie schon im August 1938 arisiert worden war. Nach 1945 fand ein Restituierungsverfahren mit den Vorbesitzern Franz und Anna Pichler (Fahrradhändler), die die Ariseure des Gebäudes waren, statt. Im Februar 1946 gründeten die jüdischen Flüchtlinge des DP-Lagers 231 am Tabor wieder eine Israelitische Kultusgemeinde und die Synagoge wurde wieder genutzt. Dort – in der Pachergasse 1 – befand sich auch der Sitz der Kultusgemeinde. Die Geschäfte der Israelischen Kultusgemeinde Steyr führte ab September 1946 als Vorstand Eugen Schwarz, als Schriftführer fungierte Siegfried Süßkind. Im März 1948 wurde Jonas Drucker zum Präsidenten und Margarethe Füreder, geb. Eisler, zum Kultusrat gewählt. Beide wurden auch zu Kuratoren der aufgelösten ehemaligen israelitischen Kultusgemeinde in Steyr bestellt und gleichzeitig beauftragt, deren Vermögen sicherzustellen und für religiöse Zwecke bereitzustellen. Da die jüdischen DPs nach der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 legal auswandern konnten, sank ihre Zahl deutlich. Auch Jonas Drucker legte sein Amt im Juli 1949 zurück. Ende Oktober 1949 wurde die Israelitische Kultusgemeinde Steyr von der Linzer Kultusgemeinde als Rechtsnachfolgerin übernommen. Am 8. November 1992 wurde eine Gedenkstele vor dem Gebäude auf öffentlichem Grund an der Pachergasse 1 enthüllt, nachdem sich der Besitzer geweigert hatte, eine bereits fertiggestellte Gedenktafel mit dem vom Mauthausen Komitee vorgesehenen Text an der Hauswand anbringen zu lassen. Nachdem die Stele 2006 beim Umbau des Gebäudes durch die Raiffeisen-Bank entfernt und dabei beschädigt und beschmutzt worden war, wurde das Mauthausen Komitee Steyr initiativ. Schließlich konnte eine neue Gedenkstele an derselben Stelle in der Pachergasse 1 am 11. September 2007 enthüllt werden.

Zentral bei der Vermittlung im »Lernort Synagoge« ist die Orientierung anhand von Biografien. Was macht Biografien im Speziellen so aufschlussreich in der Aufbereitung dieser Inhalte?
Waltraud Neuhauser-Pfeiffer: Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich Menschen vor allem über Biografien und das Lebensschicksal anderer Menschen angesprochen fühlen. Biografien berühren emotional und ermöglichen auch, Berührungspunkte zum eigenen Leben herzustellen. Seit langer Zeit sind mir Biografien, insbesondere die Lebensgeschichten der jüdischen Holocaustopfer und von deren Nachkommen, ein besonderes Anliegen. Ich bin überzeugt, dass sich die großen politischen Ereignisse in den individuellen Pogromnacht Lebensgeschichten widerspiegeln. Besonders junge Menschen können auf diese Weise die Lebensberichte, die in der NS-Zeit für die jüdische Bevölkerung, aber auch für andere Verfolgung, Vertreibung und Ermordung bedeuteten, persönlich nachvollziehen und demokratiepolitische Erkenntnisse gewinnen. Die Berichte können Betroffenheit und Empathie auslösen. Auch was Emigration und Verlust der Heimat für die Betroffenen bedeutete, kann auf diese Weise in das Bewusstsein gelangen und sich möglicherweise im konkreten Handeln auswirken. Mein bereits 1999 verstorbener historischer Lieblingsautor Sebastian Haffner stellt in seinen persönlichen Erinnerungen 1914–1933 fest, und dies scheint hoffnungsvoll zu sein: »Es mag demgegenüber paradox klingen, aber es ist nichtsdestoweniger eine schlichte Tatsache, daß sich die wirklich zählenden Ereignisse und Entscheidungen unter uns Anonymen abspielen, in der Brust einer jeden zufälligen und privaten Einzelperson, und daß gegenüber diesen simultanen Massenentscheidungen, von denen ihre Träger oft selbst nichts wissen, die mächtigsten Diktatoren, Minister und Generäle vollständig wehrlos sind. Und es ist ein Merkmal dieser entscheidenden Ereignisse, daß sie niemals als Massenerscheinung und Massendemonstration sichtbar werden […] sondern stets nur als scheinbar privates Erlebnis Tausender und Millionen Einzelner.« Für junge Menschen ist es auch von Bedeutung, sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Dazu bedarf es einer pädagogischen Anleitung durch Lehrer*innen, die im Rahmen von in verschiedenen höheren Schulen bereits praktizierten Projekten unter dem Titel »Gerettete Familiengeschichten« die Jugendlichen dazu bewegen, anhand von alten Fotografien und Gesprächen mit den Großeltern ihre Familiengeschichte darzustellen. Als Abschluss steht eine würdige Präsentation der vielen Familiengeschichten, bei der auch die Familienmitglieder und besonders die ältere Generation eingeladen werden. Was im »Lernort Synagoge« stattfinden soll, ist noch Gegenstand von Überlegungen. Auf jeden Fall soll die Synagoge nicht nur ein Ausstellungsraum sein, sondern es sollen auch Workshops stattfinden und es soll ein Begegnungsraum verschiedener Kulturen sein. Interessanterweise leben und arbeiten in dieser Bahnhofsgegend viele Menschen mit muslimischem Hintergrund.
»Man kann sich kaum etwas anderes vorstellen, was die Seele so zerstört, wie wenn man gezwungen ist, gegen den eigenen Willen Akte willkürlicher bürokratischer Grausamkeit zu vollziehen. Zum Gesicht des Apparats zu werden, den man verachtet. Zu einem Monster zu werden. So ist es meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass die beängstigendsten Ungeheuer in der populären Literatur nicht einfach damit drohen, den anderen zu zerfleischen, zu foltern oder zu töten, sondern ihn selbst zu einem Monster zu machen. Man denke nur an Vampire, Zombies und Werwölfe. Das ist so entsetzlich, weil sie nicht nur den Körper, sondern auch die Seele bedrohen. Und es ist vermutlich der Grund, warum insbesondere Heranwachsende sich davon angezogen fühlen. Die Adoleszenz ist genau die Zeit, in der die meisten von uns zum ersten Mal mit der Aufgabe konfrontiert werden, nicht zu einem Monster der Art zu werden, die wir verachten«, so der Anthropologe David Graeber. Wie lässt sich die Transformation von Menschen in monströse Verbrecher während der Zeit des NSDAP-Faschismus anhand von Täter*innen-Beispielen in Steyr erklären?
Waltraud Neuhauser-Pfeiffer: Anhand von Täterbiografien lässt sich erkennen, dass Menschen, die bis zur NS-Zeit unauffällige, »normale« Bürger waren, wie beispielsweise August Eigruber, Otto Perkounig, Franz Reichleitner aus Steyr, zu grausamen Tätern in der NS-Diktatur wurden. Persönliche Karrierechancen, Propaganda und Gruppendruck in einer Berufsgemeinschaft, etwa innerhalb des Polizeiapparates, aber auch der Gewöhnungseffekt von Grausamkeiten an der Kriegsfront und hinter der Front spielen dabei sicher eine Rolle. Auch die schlechte wirtschaftliche Lage, Not und Elend in den 1930er-Jahren, besonders in Steyr, waren dafür maßgeblich, dass viele neidvoll nach Deutschland blickten, wo sich die wirtschaftliche Lage seit der Machtergreifung Hitlers 1933 erholte. Ich bin keine Psychologin, daher kann ich nur betonen, dass es mir persönlich bis heute trotzdem unverständlich ist, wie es tatsächlich so weit kommen konnte, dass so viele Menschen an einem diktatorischen Regime mitwirkten und zu Täter*innen und Mitläufer*innen wurden. Vielleicht konnte Hannah Arendt mit ihrem kontrovers diskutierten Buch über den Eichmann-Prozess »Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen« von 1963 dazu beitragen, das sogenannte »Böse« zu entschlüsseln. Dass es auch nach 1945 bei vielen zu keiner Einsicht und Trauer über ihr moralisch verwerfliches Handeln und ihr Mitläufertum kam, ist einerseits dem propagierten »Opferstatus« des offiziellen Österreich nach 1945 bis zur Waldheim-Affäre 1987 geschuldet, andererseits aber auch der Furcht, eigene Schuld eingestehen zu müssen. Die Tatsache, dass viele nicht sehen wollten, was zu sehen war, wie das »Verschwinden« von jüdischen Mitbürger*innen, von politischen Gegner*innen des Regimes und von T4-Opfern, war in der Zeit der NS-Diktatur teilweise der Angst zuzuschreiben, selbst vom Regime verfolgt zu werden, aber auch von der Überzeugung, auf der »richtigen« Seite zu stehen. Nach 1945 war Verdrängen, Vergessen und der Wiederaufbau nach den massiven Zerstörungen des Krieges an der Tagesordnung. Sicherlich war jedoch auch das Beklagen der Toten aus den eigenen Familien zu bewältigen. Der Blick war nach vorne gerichtet, was nach sechs Jahren Kriegszeit verständlich ist, dennoch wäre es für eine Gesellschaft – besonders für künftige Generationen – von großer Bedeutung, die »Trauer« zuzulassen, die Schuld und Mitschuld anzunehmen und aufzuarbeiten.
Karl Ramsmaier: Der Steyrer Kriminalbeamte Franz Reichleitner machte in der NS-Zeit Karriere, wurde stellvertretender Büroleiter der Euthanasie-Anstalt Hartheim und schließlich Kommandant von Sobibór, einem deutschen Vernichtungslager im heutigen Polen. 150.000 Menschen, vor allem Jüdinnen und Juden, wurden dort unter seiner Kommandantur ermordet. Reichleitner ist damit der größte Massenmörder von Steyr. Im verbrecherischen System der Nationalsozialisten bekam er unumschränkte Macht, so konnte er sich als Herr über Leben und Tod fühlen. Ich schließe mich der Kriminalpsychologin Lydia Benecke an, die sagt: »Es sind Menschen, die schwere Straftaten begehen, keine Monster.« Damit sind diese Menschen, so auch der Massenmörder Franz Reichleitner, voll für ihre Taten verantwortlich. Das Bedürfnis, Macht auszuüben, steckt offenbar in jedem Menschen. Ein verbrecherisches System wie das der Nationalsozialisten ermöglichte es Menschen, dieses Bedürfnis ohne jede Beschränkung auszuleben und unvorstellbare Verbrechen zu begehen. Die menschenverachtende Ideologie der Nationalsozialisten ermöglichte ihnen dabei noch das Gefühl, einer guten Sache zu dienen.

»Das Managertum ist zum Vorwand für die Schaffung einer neuen, verdeckten Form des Feudalismus geworden, in der Reichtum und Stellung nicht aus wirtschaftlichen, sondern aus politischen Gründen zugewiesen werden – oder besser gesagt: in der es jeden Tag schwieriger wird, den Unterschied zwischen dem, was man als wirtschaftlich und politisch bezeichnen kann, zu erkennen«, so der Kulturanthropologe David Graeber. Seit ein paar Jahren ist der Begriff des Technofeudalismus, vor allem durch den Politiker und Autor Yanis Varoufakis bekannt gemacht, aufgekommen. Welche Rolle spielten in den 1930er-Jahren (vor allem leitende) Manager in Steyr bei der Implementierung des nationalsozialistischen Regimes? Welche Rolle spielten und spielen sie bei der (Verhinderung von) Erinnerungsarbeit an diese Zeit danach?
Karl Ramsmaier: Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler Georg Meindl war schon ab 1922 bei den österreichischen Nationalsozialisten aktiv. Seine frühe Mitgliedschaft bei der illegalen NSDAP half ihm zu einem unglaublichen Aufstieg im Dritten Reich. Wenige Tage nach dem sogenannten »Anschluss« Österreichs an Hitler-Deutschland wurde er von Hermann Göring als Generaldirektor der auf Rüstung umgestellten Steyr-Daimler-Puch AG eingesetzt. Es war den Reichswerken Hermann Göring unter großem politischen Druck gelungen, die Steyr-Daimler-Puch AG als größtes österreichisches KFZ- und Rüstungsunternehmen dem Konzern anzugliedern. Meindl wurde zu einer Schlüsselfigur der deutschen Kriegsindustrie und regierte das Unternehmen wie ein Diktator. Es gelang ihm, dass Außenlager des KZ Mauthausen in Steyr-Münichholz, St. Valentin, Melk, Peggau, Aflenz bei Leibnitz und Wiener Neudorf für die industrielle Produktion errichtet wurden. Steyr-Münichholz wurde ab 14. März 1942 als Außenlager von Mauthausen geführt. 1944 stieg Meindl zum SS-Brigadeführer auf. Meindl blieb bis Kriegsende Generaldirektor der Steyr-Daimler-Puch AG. Am 10. Mai 1945 wurde in einer niedergebrannten Hütte in Sierninghofen bei Steyr eine verkohlte Leiche gefunden, bei der es sich wahrscheinlich um Meindl handelte. Ob Unfall oder Selbstmord, wurde nie geklärt. Das Management der Steyr-Daimler-Puch AG blieb außer dem Generaldirektor Georg Meindl im Wesentlichen gleich. An einer Aufarbeitung der NS-Geschichte des Unternehmens hatte man nicht nur kein Interesse, sondern beseitigte viele Dokumente und belastendes Material. Als es Anfang der 2000er-Jahre um eine Entschädigung der noch lebenden KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter*innen ging, konnten diese mit keiner Unterstützung des Unternehmens rechnen. Bei einem ukrainischen KZ-Häftling konnte ich das konkret miterleben. Auch manche Lokalpolitiker standen einer Aufarbeitung der NS-Geschichte der Steyr-Werke ablehnend gegenüber. Noch 1994 äußerte ein Steyrer Vizebürgermeister bei einem Vortrag des Historikers Dr. Bertrand Perz die Meinung, dass es dem Mauthausen Komitee Steyr nur darum ginge, die Steyr-Werke schlecht zu machen, wenn von einem KZ-Außenlager Steyr-Münichholz gesprochen werde.
Waltraud Neuhauser-Pfeiffer: Sie finden eine Darstellung der NS-Zeit in Steyr bei Karl-Heinz Rauscher, der das Buch »Steyr im Nationalsozialismus« (zwei Bände) publiziert hat. Zum Thema der Entnazifizierung: Was die »Mitläufer« und NS-Beamten betrifft, so wurde mit dem Entnazifizierungsgesetz versucht, die NS-Belasteten zu bestrafen. Man unterschied zwischen »minderbelastet« und »belastet« und wurde öffentlich registriert. Es kam zum Verlust der vollen staatsbürgerlichen Rechte, zum Beispiel der Teilnahme an der Nationalratswahl. Auch Sühnezahlungen, Sühnesteuern, Berufsverbote und Dienstentlassungen waren Strafmaßnahmen. Es war für die Verwaltung – auch in Steyr – schwierig, die Entnazifizierung mit dem Wiederaufbau der Wirtschaft zu vereinen, da in Österreich ca. eine halbe Million Menschen registriert waren. 1957 wurden die Entnazifizierungsgesetze aufgehoben und eine Amnestie der »Belasteten« ausgesprochen. Die Geschworenenprozesse der 1960er- und 1970er-Jahre endeten meist in einem Freispruch. Wie bekannt, trat bereits 1949 der VdU – Verband der Unabhängigen, ein Sammelbecken ehemaliger Nazis, zur Nationalratswahl an und wurde nach der SPÖ die zweitstärkste Partei. Auch für Steyr bestätigte sich die gescheiterte Entnazifizierung. Siehe Artikel von Doris Hörmann in: https://www.steyr.at/Amtsblatt_Sonderausgabe_2025_6
Noch einmal der Publizist David Graeber: »Das Fachgebiet der Wirtschaftswissenschaften entstand aus der Moralphilosophie (Adam Smith war Professor für dieses Fach) und die wiederum war ursprünglich ein Teilgebiet der Theologie. Viele wirtschaftswissenschaftliche Konzepte lassen sich unmittelbar auf religiöse Ideen zurückführen. Deshalb haben auch Argumente, die von Werten handeln, stets eine theologische Färbung.« Die offizielle Kirche hat sich – abgesehen von ein paar widerständigen Einzelpersonen – dem Hitler-Regime nicht entgegengestellt. Ich bin auf den Begriff des »Klerikalfaschismus« gestoßen, den man schon auf die Zeit des Austrofaschismus anwenden könnte. Als klerikalfaschistisch werden faschistische Regime bezeichnet, bei deren Aufbau, Organisation und Aufrechterhaltung der Klerus eine wichtige Funktion hat. Oder, um es mit der deutschen Theologin und Dichterin Dorothee Sölle zu sagen: »In unserer christlichen, deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts hat Gehorsam eine katastrophale Rolle gespielt. Ich vermute, daß wir heute als Christen die Pflicht haben, den Gehorsam überhaupt zu kritisieren, und daß diese Kritik radikal sein muß.« Wie lässt sich diese Situation konkret in Steyr beschreiben? Welchen Beitrag leistete die offizielle Kirche in Steyr an der Erinnerungsarbeit nach dem Ende der NSDAP-Terrorherrschaft?
Karl Ramsmaier: In der katholischen Kirche gab es Widerstand, aber die Kirche als Ganzes leistete nicht Widerstand. In Steyr ist der Priester und spätere Stadtpfarrer Johann Steinbock zu nennen, der Anfang September 1941 verhaftet und im Jänner 1942 nach Dachau überstellt wurde. Auch die Steyrer Jesuiten Johann Schwingshackl und Josef Meindl sind hier zu nennen. Schwingshackl bekam 1943 Redeverbot und wurde 1944 verhaftet, nachdem er in einem Bericht an seinen Ordensoberen ein vernichtendes Urteil über den Nationalsozialismus gefällt hatte. Er wurde wegen Wehrkraftzersetzung Mitte Dezember 1944 zum Tod verurteilt. Meindl leistete Widerstand im Verborgenen, versorgte geflüchtete Häftlinge mit Zivilgewand und ließ zu Weihnachten 1944 Hostien für KZ-Häftlinge ins Lager schmuggeln. Der Pfarrer der evangelischen Kirche Hugo Fleischmann stand dem Nationalsozialismus überaus positiv gegenüber. Hitler war für ihn ein »Werkzeug der göttlichen Führung«, wie er 1940 in einem Brief an seine Konfirmanden schrieb. Nach dem Krieg war Erinnerungsarbeit für die Kirche in Steyr über Jahrzehnte kein Thema. Weder reflektierte man die eigene Rolle in dieser Zeit, noch wurde das Thema in Bildungsveranstaltungen aufgegriffen. Es gab wie in der übrigen Gesellschaft das große Schweigen und das kleine Erinnern. Eine Ausnahme war Stadtpfarrer Johann Steinbock. Er besuchte als Religionslehrer mit Schulklassen regelmäßig die KZ-Gedenkstätte Mauthausen. 1986 leistete das Projekt »Zivildienst als Friedensdienst«, das von der Katholischen Jugend getragen wurde, einen wesentlichen Beitrag dazu. Ab dem »Ge- und Bedenkjahr 1988« wurde das Thema auch in den Kirchen vermehrt aufgegriffen. 1995 wurde von Religionslehrer*innen an Steyrer Schulen anlässlich des Jahrestages »50 Jahre Befreiung« im Steinbruch der KZ-Gedenkstätte Mauthausen ein Gedenkgottesdienst mit 5.000 Schüler*innen organisiert. Das »Denkmal 9.5.95« beim Eingang der Schlossgalerie in Steyr erinnert daran. 2008 errichtete die Katholische Jugend in Erinnerung an die Häftlinge des KZ-Außenlagers Ternberg in der letzten erhaltenen Baracke einen Gedenkraum. 2025 beschloss die Pfarre Steyr mit ihren 15 Pfarrgemeinden, die jährliche Gedenkfeier am jüdischen Friedhof und die jährliche Befreiungsfeier beim KZ-Denkmal offiziell zu unterstützen, zu bewerben und daran teilzunehmen. Die evangelische Kirche organisierte 2025 einen Vortrag mit dem Titel »Die Rolle der Kirche(n) im Dritten Reich«.

Der deutsche Politikwissenschaftler Eugen Kogon wurde wegen seines christlich motivierten Widerstands gegen den Nationalsozialismus mehrere Jahre im KZ Buchenwald interniert. Bekannt wurde der Befürworter einer europäischen Integration durch seine Publikation aus dem Jahr 1946: »Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager.« Von ihm stammt dieses Zitat: »Die schlimmste Erbschaft, die der Nationalsozialismus hinterlassen hat, ist der Geist des Hochmuts, der Selbstherrlichkeit, der Gewalt und des Hasses.« Wie finden Sie dieses Zitat? Würden sie aus heutiger Sicht etwas ergänzen?
Karl Ramsmaier: Dieser Aussage stimme ich zu. Sie trifft immer noch den Ungeist des Nationalsozialismus. Ich würde vielleicht noch hinzufügen: Menschenverachtung, Empathielosigkeit und die Leugnung der gleichen Würde aller Menschen.
Waltraud Neuhauser-Pfeiffer: Diesem Zitat stimme ich aus der damaligen Sicht heraus zunächst zu, füge jedoch an, dass es Gegenbewegungen besonders in der 1968er-Generation und danach gab, die versuchten, die Geschichte des Nationalsozialismus aufzuarbeiten und viele Gedenkstätten an ehemaligen Konzentrationslagern zu errichten bzw. Gedenkarbeit in vielen Formen anzubieten. Auch die sogenannte »Friedensbewegung« ist ein Erbe der 1968er-Generation. Heute ist es wieder wichtig, demokratiepolitisch aufzuklären und rechte Hetze und Propaganda in den verschiedenen Medien, besonders aktuell in den sozialen Medien, zu bekämpfen. Der Rechtsruck in so vielen Ländern ist ein bedrohliches Zeichen, dass die Demokratie gefährdet ist. Daher ist die Politik gefordert, auch wirtschaftspolitisch die richtigen Weichen zu stellen, für mehr Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen und zu versuchen, extremrechten Tendenzen mit allen zu Gebote stehenden Mitteln entgegenzuwirken. Die diversen Medien spielen dabei eine große Rolle, besonders jene, die dem politischen Investigativ-Journalismus verpflichtet sind. Letztere müssen gefördert werden und Menschen, die den »fake news« und verdeckter oder offener Hetze in einseitigen Medien anheimfallen, sollten stärker aufgeklärt werden und Zugang zu meinungsdiverseren Medien finden. Wie, ist mir noch nicht klar.
Im Rahmen eines Zivilcourage-Workshops des Mauthausen Komitees Österreich (geleitet von Margarete Boos und Malte Schütt) habe ich das sozialpsychologische Prozessmodell der Hilfeleistung kennengelernt. Es beschreibt die einzelnen Schritte und Hindernisse, die ein Mensch, der sozialen Mut bei einer Notlage eines anderen Menschen beweisen muss, gedanklich und moralisch durchläuft. Zwei Hindernisse beschäftigen mich nun – neben den Aspekten der Ablenkung, dem Kompetenzmangel und der sozialen Hemmung – und zwar das Hindernis der pluralistischen Ignoranz und das Hindernis der Verantwortungsdiffusion. Ihren Erfahrungen nach, welchen Effekt haben Erinnerungskultur-Vermittlungsprogramme (»Stollen der Erinnerung«, »Jüdische Spuren in Steyr«, »Politikwerkstatt«), wie sie das Museum Arbeitswelt in Steyr anbietet, auf Jugendliche?
Waltraud Neuhauser-Pfeiffer: Selbstverständlich spielen alle diese Angebote eine große Rolle für Jugendliche. Vor allem sollen sie mit der jüngeren Geschichte, besonders der NS-Zeit konfrontiert werden. Welche konkreten Auswirkungen die einzelnen Angebote auf Jugendliche haben, müsste im Detail untersucht werden. Mir scheint, dass möglichst viele verschiedene Zugänge langfristig gesehen doch ihre Wirkung zeigen. Und es ist wohl auch wesentlich, dass es nicht bloß bei einer Art Belehrung bleibt. Vermutlich müssten mehr dialogische, diskursive, also debattenfördernde Vermittlungsprogramme entwickelt werden, um Effekte überhaupt ansatzweise zu erahnen. Lokalgeschichte, also die NS-Vergangenheit vor Ort, da wo die Jugendlichen leben und zur Schule gehen, ist ganz sicher ein wichtiger Faktor für eine nachhaltige Erinnerungspädagogik. Programme des »Stollens der Erinnerung«, der »Politikwerkstatt« im Museum Arbeitswelt, Rundgänge im Rahmen der »Jüdischen Spuren« und der »Stolpersteine«, der Besuch des jüdischen Friedhofs etc. und der neu entstehende »Lernort Synagoge« bieten ja vielfältige Möglichkeiten des Lernens vor Ort für Jugendliche, müssten aber auch auf ihre Wirkmächtigkeit hin überprüft werden. Immer wieder müssen neue kreative Angebote gesucht werden, um die Jugendlichen dort abzuholen, wo sie stehen. Den Lehrer*innen und außerschulischen Pädagog*innen, aber auch dem Elternhaus und der Peer Group kommen dabei wesentliche Rollen zu. Dabei sollen die Jugendlichen aktiv an Programmen mitwirken und selbst kreativ werden. Ein Artikel von Erwin Dorn und mir über Erinnerungspädagogik ist zu finden unter: https://www.steyrerstolpersteine.at/weiterfuhrende-links/
Karl Ramsmaier: Wir müssen davon ausgehen, dass Menschen sich schwertun, ihre Meinung zu äußern, wenn sie sich in der Minderheit fühlen. Auch das Phänomen, dass man sich in einer Gruppe in Notsituationen zurückhält und darauf verlässt, dass andere helfen, kennen wir alle. Die erinnerungskulturellen Vermittlungsprogramme ermöglichen den Jugendlichen, sich eine eigene Meinung zu bilden, Zivilcourage einzuüben, vorbildliches Handeln von Widerstandskämpfern und Widerstandskämpferinnen kennenzulernen und sich über die Folgen von Gleichgültigkeit und Menschenverachtung in der Geschichte Gedanken zu machen. Trotzdem muss man realistisch bleiben: Erinnerungsarbeit ist keine Garantie, dass junge Menschen gegenüber rechtsextremer Ideologie resistent werden oder bleiben.

Die deutsch-chinesische Politikwissenschafterin und Schriftstellerin Liya Yu beschäftigt sich mit neuesten Erkenntnissen neuropolitischer Forschungen. Diese Forschung geht davon aus, dass es für bestimmte politische Phänomene Erklärungen aus der Gehirnforschung gibt. Auf neurologischer Ebene lassen sich Phänomene oder Auswirkungen der konstanten Dehumanisierung von Menschen – die man bewusst ausschließt und demütigt – feststellen, die man in dieser Art alleine mit Umfragen oder mit Verhaltensbeobachtung nicht erklären kann. Durch ständige Entmenschlichung wird schließlich die Empathiefähigkeit so weit verringert, dass ein anderer Mensch neurologisch wie eine Sache wahrgenommen und auch so behandelt werden kann. Gerade deshalb scheint eine frühkindliche und schulische Erziehung und Belohnung von solidarischem Verhalten sehr wichtig. Sind für Sie diese Erkenntnisse der Neuropolitik in ihrer kritischen, bewusstseinsbildenden Arbeit relevant?
Waltraud Neuhauser-Pfeiffer: Ich bin keine Psychologin, glaube aber, dass »eine frühkindliche und schulische Erziehung und Belohnung von solidarischem Verhalten« tatsächlich eine wichtige Rolle spielen. Dieses Lernziel, das mit Schlagworten wie »soziale Kompetenz« und »emotionale Intelligenz« umschrieben wird, sollte in den pädagogischen Einrichtungen einen viel höheren Stellenwert gewinnen. Dabei sind neue pädagogische Konzepte, altersübergreifendes Lernen in Kindergärten und Schulen, Integrativklassen, Gesamtschulen, offenes Lernen und vieles mehr von Bedeutung. Zum Abschluss will ich noch eine positive Perspektive in die Zukunft wagen: Die Vergangenheit ist nicht mehr und nicht weniger als die Wirklichkeit aller bisherigen Existenz. Demzufolge ist die Gegenwart, die auf diese Wirklichkeit gegründete, die uns umgebende Welt. Wir sind selbst mit unseren Lebensformen Teil und Verursacher dieser Welt. Für die Zukunft bedeutet dies, jene schreckliche Wirklichkeit aus der Vergangenheit zu erkennen und nicht zu vergessen und all jene Wirklichkeiten, auf die wir heute mit Stolz zurückblicken, weiterzuentwickeln und ihr damit zu einer zukünftigen lebenswerten Existenz zu verhelfen. Aber ein solcher Zugang zu einer möglichen gestaltbaren Wirklichkeit ist ohne Kenntnis und ohne ständige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Makulatur.
Karl Ramsmaier: Die entscheidende Frage ist, wie und wo unsere Kinder und Jugendlichen dieses soziale und solidarische Verhalten lernen und einüben können. Hier spielen die Eltern, Kindergärten und Jugendgruppen eine entscheidende Rolle. Solidarisches Verhalten lernt man, indem man es bei anderen erlebt, sowie durch das Tun. Nachdem es nur mehr wenige Jugendgruppen der Religionsgemeinschaften, Parteien, Gewerkschaften und Vereine gibt, fallen diese größtenteils aus. Auch Jugendzentren spielen für die Jugendlichen kaum mehr eine Rolle. Wo gibt es »Lernorte« in unserer Gesellschaft, wo Jugendliche dieses solidarische Verhalten lernen können? Menschenwürde, Menschenrechte, Solidarität, Empathie, Respekt, Wertschätzung und Zuwendung zu den Schwächeren sind wichtige Haltungen jeder erinnerungskulturellen Arbeit.
Gibt es besondere Erfahrung in der Vermittlungsarbeit, auf die Sie gerne zurückblicken? Gibt es Momente, die in Erinnerung geblieben sind bzw. bleiben werden?
Waltraud Neuhauser-Pfeiffer: Ja, ich erinnere mich lebhaft an die ehemaligen jüdischen Bewohner*innen von Steyr, die anlässlich der Buchpräsentation »Vergessene Spuren. Geschichte der Juden von Steyr« 1993 nach Steyr gekommen sind. Sie gingen mit uns an die höheren Schulen und erzählten ihre Geschichten von Flucht und Vertreibung und von der Ermordung ihrer Familienmitglieder. Das waren Zeitzeug*innenberichte aus erster Hand und es war berührend und aufwühlend für die Schüler*innen und die begleitenden Lehrer*innen. Ein besonderes Projekt waren auch die »Geretteten Familiengeschichten« an der HLW Steyr in der Klasse, an der ich vor einigen Jahren Klassenvorstand war und das ein paar Jahre an der Schule weitergeführt wurde. Die Schüler*innen hatten ihre Großeltern/Verwandten anhand eines alten Fotos über ihr früheres Leben (Kriegserlebnisse, Flucht, Vertreibung, NS-Zeit) interviewt. Diese Geschichten hörten die Jugendlichen teilweise zum ersten Mal. Im Rahmen einer würdigen Ausstellung in der Schule, in denen Ausschnitte der Lebensgeschichte ihrer Verwandten zu lesen und auch ein Foto zu sehen waren, wurden diese Großeltern/Verwandten zu einem Gesprächsabend eingeladen. Das war ein berührendes Erlebnis für alle Beteiligten.
Karl Ramsmaier: Ich erinnere mich noch gut an den ersten Vermittlungstag, den Tag der offenen Tür im »Stollen der Erinnerung« am 26. Oktober 2013. Am Abend davor wurde der »Stollen der Erinnerung« mit über 400, auch internationalen, Gästen eröffnet. Wir haben für den nächsten Tag mit rund 50 Menschen gerechnet, die sich über den Tag verteilt diese neue Ausstellung ansehen möchten. Es sind aber 1.200 Besucher*innen gekommen und man musste sich lange anstellen, um überhaupt in den Stollen kommen zu können. Das war für Steyr ein zeitgeschichtlicher Mega-Event. Dieses Projekt hat dann auch mehrere Auszeichnungen bekommen, auf die wir sehr stolz sind. Im Stadtzentrum kommt das Thema Zwangsarbeit und Konzentrationslager nun in Form eines unterirdischen Zeitgeschichte-Museums in die Mitte der Stadt. Welche Stadt kann das anbieten? Ein weiteres Projekt, das wir schon fast 20 Jahre durchführen, ist der »Tag des Denkmals« am jüdischen Friedhof. An diesem Tag machen wir am jüdischen Friedhof Führungen und es kommen bis zu 150 Menschen, die sich für die jüdische Geschichte in Steyr interessieren. Es kommen meiner Einschätzung nach auch viele Menschen, die sich vermutlich einen Vortrag in einer Bildungseinrichtung zu diesem Thema nicht anhören würden. Sie machen an diesem Tag die Erfahrung, dass die Grabsteine an diesem Ort »sprechend werden«. Durch die Vermittlung von zum Beispiel jüdischen Familiengeschichten wird dieser Ort ein Stück weit wieder lebendig. Der Steyrer Friedhof ist ja eigentlich auch ein aktiver Friedhof und kein Museum. Ein Friedhof kann im Judentum auch gar nicht aufgehoben werden, weil das Grab Eigentum des Toten auf ewig ist.

Wie würden Sie die Zielgruppe der Vermittlungs- und Erinnerungsarbeit definieren?
Waltraud Neuhauser-Pfeiffer: Für mich ist die Zielgruppe der Vermittlungs- und Erinnerungsarbeit in erster Linie die junge Generation, also die Jugendlichen ab ca. 14 Jahren bis zur Matura. Hier gibt es die Möglichkeit, von der Schule ausgehend Erinnerungs- und Vermittlungsarbeit zu leisten, zum Beispiel im »Stollen der Erinnerung«, auf den »Jüdischen Spuren«, den Spuren der »Stolpersteine«, dem jüdischen Friedhof etc. Besonders wichtig scheint mir das Lernen vor Ort und die Konfrontation mit der eigenen Familiengeschichte zu sein.
Die Täter*innenforschung stellt einen wichtigen Aspekt in der Aufarbeitung und Forschungsarbeit in der Geschichtswissenschaft dar. Wie gestaltet sich diese im engeren regionalen Umfeld? Gibt es Nachfahren von (bekannten) Täter*innen, die sich dazu geäußert haben? Wie kann man mit Täter*innenschaft in der Nachkriegsgesellschaft umgehen?
Karl Ramsmaier: Die Nachforschungen gehen immer noch weiter. Über Franz Reichleitner ist wieder neues Material aufgetaucht. Ich war vor Kurzem bei einer Veranstaltung, bei der eine Person anwesend war, deren Großonkel Franz Reichleitner war. Und diese Familie hat nun ein Interesse daran, diese Vergangenheit zu behandeln. Beschwerden oder Kritiken von Personen, die Nachfahren von Täter*innen sind, die im »Stollen der Erinnerung« erwähnt werden, sind mir nicht bekannt.
Waltraud Neuhauser-Pfeiffer: Wir – eine Gruppe von engagierten Menschen im Umfeld der »Stolpersteine«-Gruppe – begannen, Menschen der zweiten/dritten Generation (Kinder und Enkelkinder, auch entferntere Nachkommen der Kriegsgeneration) zu interviewen. Da die Kriegsgeneration weitgehend verstorben ist, ist es uns wichtig, zu erfahren, wie die NS-Zeit in der Familie besprochen wurde bzw. wie die eigenen Verstrickungen in das NS-Regime erzählt oder auch verschwiegen wurden. Es ist uns aber auch wichtig, zu erfahren, wie mit der eigenen NS-Familiengeschichte umgegangen wurde/wird und welchen Einfluss diese NS-Erzählung auf das eigene Leben hatte/hat. Ein Großneffe von Franz Reichleitner war unter den Interviewten, was besonders interessant für uns, aber auch für die Besucher*innen war. Im Rahmen der Steyrer Gedenkwoche 2025 stellten wir in der »Langen Nacht des Erinnerns« am 6. Mai 2025 den Besucher*innen an sieben verschiedenen Orten, die einen Konnex zur NS-Zeit in Steyr aufweisen, sieben Interviews vor. Es kam dabei zu interessanten Gesprächen Manche berichteten auch danach, dass sie durch diese Interviews dazu bewogen wurden, selbst mehr in der Familiengeschichte zu recherchieren. Während man sagen könnte, dass einige der großen Täter für ihre Taten gebüßt haben, gibt es so viele andere, die ohne Einschränkung ihr normales Leben weitergeführt haben. Zur Flucht verhalfen – wie bekannt – NS-Flüchtlingsorganisationen wie der Vatikan mit der sogenannten »Rattenlinie«. Om Sonderamtsblatt der Stadt Steyr, Juni 2025, kann man über die Täterbiografien (Ransmayr, Reichleitner, Perkounig), die von Doris Hörmann, Erwin Dorn und Waltraud Neuhauser-Pfeiffer geschrieben wurden, viel mehr dazu erfahren: https://www.steyr.at/Amtsblatt_Sonderausgabe_2025_6
Wie definieren Sie in Ihren Arbeiten/in Ihrem Vorgehen Täter*innenschaft?
Waltraud Neuhauser-Pfeiffer: Täter*innenschaft bedeutet für mich, dass Menschen von der NS-Ideologie überzeugt und in sie verstrickt waren oder aktiv (bzw. auch als Schreibtischtäter*innen) mitgewirkt haben. Dies sind die eigentlichen Täter*innen. Besonders schlimm ist es, wenn diese Menschen nicht zur Rechenschaft gezogen wurden, was oft der Fall war. Es ist auch schrecklich, wenn Menschen, die in der NS-Zeit gelebt haben, auch nach 1945 – nachdem man sehen und erfahren konnte, was in den KZs geschah, was der Holocaust war und welche furchtbaren Auswirkungen das NS-Regime gezeitigt hat – noch immer nicht bereit waren, von dieser Ideologie abzurücken. Es gibt allerdings viele Mitläufer*innen, die sich nicht über die Tragweite und die Auswirkungen der NS-Ideologie bewusst waren, weil sie damals in einer wirtschaftlich prekären Lage waren, als sehr junge Menschen von der NS-Propaganda eingelullt oder von den Eltern davon überzeugt wurden. Doch auch diese sind von der nachträglichen Reflexion über das Geschehen nicht auszunehmen. Und auch diese Erfahrungen sind für die junge Generation relevant und interessant, um auszuloten, wie verführbar und beeinflussbar der Mensch ist.
Karl Ramsmaier: Bei der Auswahl der Täter*innen im »Stollen der Erinnerung« haben wir drei Kategorien angewendet: Die erste Kategorie sind Täter*innen, die im NS-System Karrieren gemacht haben, wie Franz Reichleitner oder Georg Meindl. Zur zweiten Kategorie zählen Täter*innen des KZ-Außenlagers Steyr-Münichholz, während in der dritten Kategorie Täter*innen des Todesmarsches der ungarischen Jüd*innen genannt werden. Eine weitere Einschränkung für uns war das Vorhandsein eines Fotos. Bei der gezeigten Täterin gab es zum damaligen Zeitpunkt noch kein Foto. Mittlerweile ist ein Foto von Karoline Burner (Anm.: Im Frühjahr 1940 wurde sie als Büroangestellte in die NS-Tötungsanstalt Hartheim bei Linz angeworben. Dort war sie für das Verfassen der Sterbeurkunden und für die Korrespondenz mit den Angehörigen der Opfer zuständig) aufgetaucht. Prinzipiell brauchten wir Fotos und historische Dokumente und Informationen, Hinweise und Berichte. Leider hat man das nicht mehr von allen Täter*innen. Generell noch einmal zum Prozess der Ausstellungswerdung: Das Material, das uns zur Verfügung stand, war ungefähr das Fünffache davon, was wir ausstellen konnten. Wir mussten filtern und austarieren, weil eine Ausstellung ja kein historisches Buch ist, in dem man das komplette Material ausfalten kann. Diese Ausstellung sollte in eineinhalb Stunden bewältigbar sein. Die Spiegelung des Themas in der Architektur des Raumes ist eine wichtige Erlebniserfahrung. Der Raum, den wir für die Präsentation der Täter*innen im Stollen ausgewählt haben, war ein sehr enger – er sollte das Gefühl eines Gefängnisses vermitteln.

Sind zukünftige Projekte geplant, von denen Sie uns schon berichten können/wollen/dürfen?
Waltraud Neuhauser-Pfeiffer: Wir bleiben noch dran an den »Geretteten Familiengeschichten«, da dies ein Modell für Schulen ist, das leicht umsetzbar und für das »Demokratielernen« ein wesentlicher Baustein ist. Für mich sind widerständige Menschen Vorbilder, besonders in Diktaturen und in demokratiegefährdeten Zeiten. Hier möchte ich noch an Biografien über diese Menschen arbeiten.
Karl Ramsmaier: Der »Lernort Synagoge« ist eine faszinierende Idee, das Mauthausen Komitee Steyr und das Museum Arbeitswelt und andere arbeiten zurzeit an der Verwirklichung. Dieser symbolische Ort ist das einzige erhaltende Synagogengebäude in Oberösterreich. All die über die Jahre gesammelten Dokumente, Fotos und Gegenstände, der unheimliche Fundus an Material, das können wir nun gut gebrauchen.
Haben Sie in den Jahren Ihrer Tätigkeit einen Wandel in der Erinnerungsarbeit erlebt?
Waltraud Neuhauser-Pfeiffer: Ja, ich denke, dass es heute viele Jugendliche gibt, die nicht mehr viel über die NS-Diktatur und den Austrofaschismus wissen. Wir sind in einer Zeit der »Geschichtsvergessenheit«. Doch gerade heute, wo der Rechtsextremismus und der Antisemitismus wieder salonfähig geworden sind und die Demokratie in vielen Ländern wieder gefährdet bzw. schon ausgehebelt ist, ist es besonders bedeutend, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und aus der Geschichte die richtigen Lehren zu ziehen. Daher sollte in den Schulen, in pädagogischen Einrichtungen, in den Medien (besonders auch in den sozialen Medien), in den Familien und in Peer Groups wieder viel mehr über die jüngere NS-Vergangenheit und Geschichte gesprochen und gearbeitet werden.
Karl Ramsmaier: Unsere Arbeit ist professioneller geworden. Wenn ich an die 1980er-Jahre denke und an den Beginn des Mauthausen Komitees, so hatten wir damals überhaupt keine Erfahrungen, wie man zum Beispiel mit Politiker*innen umgeht, wie man Kontakte findet oder Veranstaltungen organisieren kann. Durch Learning by Doing haben sich unser Know-how und die Kontakte zur Presse entwickelt. Wir sind am Anfang auch nicht wirklich ernstgenommen worden, das muss man auch ganz klar sagen. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Vizebürgermeister von Steyr, der 1992 bei einem Vortrag des Historikers Bertrand Perz zum Thema das KZ-Außenlager Steyr-Münichholz in der Diskussion danach gesagt hat, dass wir nur die Steyr-Werke schlechtmachen wollen. Wir haben gelernt, mit solchen Situationen umzugehen. Was mich auch zu diesem Thema immer wieder beschäftigt: Wir müssen bei der Erinnerungsarbeit realistisch bleiben. Der Besuch einer Gedenkstätte ist keine Garantie, dass Menschen nicht rechtsextrem werden. Uns muss bewusst werden, dass dieser Trend zum Rechtsextremismus durch die Vermittlung von Fakten von Exper*innen alleine nicht aufgehalten werden kann. Es ist eine offene Frage und auch eine demokratiepolitische Notwendigkeit, den richtigen Ansatzpunkt für mehr Menschenrechtsbildung und für den Kampf gegen den Faschismus und Rechtsextremismus zu finden. Was wirkt dagegen tatsächlich? Ich habe auch einmal in einem Jugendzentrum gearbeitet. Sowohl bei autoritären Familienstrukturen wie auch bei sozialer Verwahrlosung ohne Haltungen und Werte in der Familie kann bei Jugendlichen das Bedürfnis nach autoritären Umgangsformen und diktatorischem Verhalten entstehen. Diese Jugendlichen dürfen keine Machtstellung bekommen. Es darf keine Toleranz für Propaganda für ein menschenverachtendes System geben. Orte wie Jugendzentren wären nach wie vor wichtig: betreute, konsumfreie Orte für Jugendliche. Es braucht ursprüngliche Erfahrungen, nicht nur digital vermittelte. Diese ursprünglichen Erfahrungen vermitteln manchmal auch rechtsextreme Gruppen (Lagerfeuer, Übernachtungen), doch darf die Gesellschaft diesen Erlebnischarakter solchen Gruppen nicht überlassen. Es gibt kaum mehr Jugendzentren, das ist ein Defizit. An inhaltlicher Jugendarbeit mangelt es meiner Meinung nach sehr.
Gibt es bei all den Projekten, die Sie begleitet und an denen Sie gearbeitet haben, eines, dass man als Herzensprojekt hervorheben kann?
Waltraud Neuhauser-Pfeiffer: Zurzeit sind es die »Stolpersteine«, da sie auch im Alltag sichtbar sind und man sie spontan zum Anlass nehmen kann, über die Vergangenheit zu reden. Dabei werden Lebensgeschichten sichtbar, die mir ein besonderes Anliegen sind.
Karl Ramsmaier: Ich habe katholische Theologie und Religionspädagogik studiert, war Seelsorger und Religionslehrer. Meine Diplomarbeit in katholischer Theologie habe ich über den bekannten evangelischen Theologen Dietrich Bonhöfer geschrieben. Dietrich Bonhöfer war im Widerstand sehr aktiv, auch in der Staufenberg-Gruppe, und in meiner Diplomarbeit habe ich mich sehr intensiv mit seiner Theologie beschäftigt. Für ihn war wichtig, dass christlicher Glaube die Gesellschaft und das Zusammenleben im Sinne der Humanität und Gerechtigkeit positiv gestaltet. Das hat mich stark geprägt. Unter dem Namen »Widerstand und Ergebung« wurden die Briefe von Dietrich Bonhöfer aus dem Gefängnis Berlin-Tegel veröffentlicht. Dieses Taschenbuch habe ich als Jugendlicher in meiner Gymnasiumzeit gekauft und gelesen. Und dieses Buch hat mich damals schon ungeheuer beeindruckt. Für mich ist jegliche Erinnerungsarbeit, vor allem immer auch die aktuelle, ein Herzensprojekt.
Quellen:
- Graeber, David: »Bullshit Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit«, Klett-Cotta 2020
- Haffner, Sebastian: »Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933«, Deutsche Verlags-Anstalt 2000
- Kelsen, Hans: »Vom Wesen und Wert der Demokratie«, Scientia Verlag 1981
- Mauthausen Komitee Steyr (Hg.): »Stollen der Erinnerung. Zwangsarbeit und Konzentrationslager in Steyr«, new academic press 2016
- Neuhauser, Georg/Neuhauser Waltraud: »Fluchtspuren. Überlebensgeschichten aus einer österreichischen Stadt.«, Edition Sandkorn 1998
- Neuhauser-Pfeiffer, Waltraud: »Dazugehörig? Jüdisches Leben in Steyr von den Anfängen bis in die Gegenwart«, Ennsthaler Verlag 2021
- Neuhauser-Pfeiffer, Waltraud/Ramsmaier, Karl: »Vergessene Spuren. Die Geschichte der Juden in Steyr«, Edition Sandkorn 1993
- Rammerstorfer, Günther/Retzl, Helmut: »Steyr – Münichholz. Mustersiedlung, Glasscherbenviertel, Zukunftsmodell«, Ennsthaler Verlag 2019
- Rauscher, Karl-Heinz: »Steyr im Nationalsozialismus« (zwei Bände), Weishaupt 2003











