© Mona Hutterer
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Ente ohne Lineal

Ein Urgroßvater, der Chinese war, ein anderer, der Wien von den Nazis befreite: In der Schule können spannende neue Informationen zutage treten. Stammbaum-Malen, Städte-Zeichnen oder Kritzeln wie ein Kleinkind hilft ukrainischen Kindern, ihren Schockzustand zu verlassen und endlich wütend zu werden.

»Als meine Eltern heirateten, hat jemand die Brücke zur Kirche gesprengt. Diese Brücke war aber der einzige Zugang zu unserer Halbinsel. Die gesamte Hochzeitsgesellschaft musste drei Tage in der Kirche verbringen – das waren über 200 Leute!« Kinder einer Wiener Mittelschule wurden gefragt, ein bedeutendes Ereignis aus ihrer Familiengeschichte zu erzählen. »Die 200 Menschen hatten aber genug zu essen, denn das Haus meiner Eltern stand neben der Kirche und im Garten gab es eine große Tafel«, erzählt der Junge aus Beirut aufgeregt weiter. Er strahlt aber auch über den Abenteuergehalt der Geschichte, als er so vor der Klasse steht.

Zum Thema Stammbaum-Malen tauchten bei vielen Kindern neue Informationen auf. Einige fragten erstmalig nach, wer ihre Urgroßeltern eigentlich waren. Ein Mädchen hebt die Hand: »Ich dachte eigentlich, meine ganze Familie hätte schon immer auf den Philippinen gelebt. Doch meine Mutter erzählte mir jetzt, dass mein Urgroßvater aus China einwanderte. Er war ein Geschäftsmann oder so etwas. »Die Zwölfjährige scheint irgendwie erfreut über diese Neuigkeit zu sein. Zwei berühmte Maler als Großvater und Urgroßvater hat ein Mädchen aus Odessa, das selber glaubt, nicht malen zu können. Kein Wunder bei den Vorfahren! Als sie endlich aufhört, sich selber zu blockieren, malt sie lauter riesige Augen, die auf Füßen durch die Welt gehen. Ein anderes ukrainisches Mädchen meint, dass ihr Urgroßvater Wien und Budapest von den Nazis befreit hätte. »Also, danke an deinen Urgroßvater«, sage ich. Ein stolzes, stilles Lächeln ist die Antwort.

Vor Kurzem hatte ich miterlebt, wie dieses schmale, feine Mädchen auf der Stiege einen ausführlichen Wutanfall hatte. Das einzige Wort, das ich verstand und das immer wiederkehrte, war »Psychologin«. Ihr Publikum war ein anderes ukrainisches Mädchen, das fast nichts redet, und beim Stammbaum-Malen den Hund der Familie in die Mitte der Verwandtschaftsbeziehungen stellte. Mit einem großen Herz rundherum. Ihr geliebter Hund befindet sich aber bei Oma und Opa in der Ukraine, denn in Österreich kann sie in der Wohnung eines privaten Quartiergebers keinen Hund halten. Dieses Mädchen, das ein schwarzes Strichmädchen vor einem Hintergrund aus lauter orangenen und roten Strichen zeichnete, die auch durch die Figur hindurchgehen, bräuchte aber dringend Unterstützung. Ihre Heimatstadt Kyiv malt sie als Silhouette – mit einem einzigen schwarzen Strich, der in der Luft zu schweben scheint. Manchmal scheint sie wie aus einer Trance zu erwachen.

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Mauern bauen

»Vielleicht habe ich mich so aufgeregt, weil meine Tante in Afghanistan gerade Corona hat«, mutmaßt ein pakistanisches Mädchen, nachdem es zweimal in höchster Nervosität vor die Klassentür rannte, um mit seiner Mutter zu telefonieren. Entnervt und überfordert gibt die Schülerin nach mindestens fünfzig in Kringelschrift eingezeichneten Verwandten auf ihrem Stammbaum auf. Die Mutter ruft zurück und fragt, was in der Schule los sei? Warum die pakistanische Tante wohl in Afghanistan lebt, wo die Situation für Frauen so schwierig ist? Sorgsam malen die Kinder mit afrikanischen Wurzeln die Gesichter ihrer Familie aus. Jedes farblich anders. Ein libysches Mädchen berichtet fröhlich von ihren sieben Brüdern – da sie die einzige Tochter ist, hat sie ein eigenes Zimmer. Für jedes Lebensjahr als Kleinkind weiß sie eigene Figuren zu zeichnen.

Ein Junge, der nur mit Lineal zeichnen kann und ansonsten gerne andere Kinder stört, fragte seine Oma am Telefon nach ihren Vorfahren. Sie weinte nur und sagte nichts. Die Fragezeichen betreffen die Zeit des Nationalsozialismus. Der Vater verweigert dem Jungen sämtliche Antworten. »Hast du noch einmal in Sofia angerufen?«, frage ich. Der Junge mauert – ähnlich der Mauer, die sein Vater zu bauen scheint. »Vielleicht will dein Vater dich nur schützen?«, rate ich. Schulterzucken. »Ansonsten finde ich das gemein von ihm, dir nichts zu sagen!« Auch zu diesem Statement nur Schulterzucken. Dieser Junge hat wohl aufgegeben? Nachdem er nach ausführlichem Stören anderer Kinder vor die Türe musste (die Lehrerin holt ihn aber bald zurück), und komplett in Gesicht und Körperhaltung erstarrte, beobachte ich in der Pause, wie ein anderer Junge einfach zu ihm hingeht und ihn umarmt. Das Erstarrte löst sich, er lächelt. Ein selbstbewusster Junge mit nigerianischen Eltern stellt sich probeweise in die Ecke mit dem Gesicht zur Wand, um dieses erniedrigende Gefühl einmal auszuprobieren! Diese Kinder sind unglaublich. Wie sie sich gegenseitig unterstützen und halten.

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Feuerspeiender Vulkan

Als ein Mädchen ihre Stadt Kyiv malen möchte, beginnt ein Tränensturzbach zu fließen. Dazwischen lächelt sie aber. »I miss my city«, sagt sie. Probeweise und selbst überfordert lege ich ihr ein schwarzes Tonpapier vor die Nase, das ich gerade in der Hand halte, und bitte sie, wie ein Kleinkind drauf los zu kritzeln. Furios kritzelt sie in Höchstgeschwindigkeit mit roten und weißen Kreiden herum. Auch das nächste Papier ist sofort voll. Nach dem dritten schwarzen Tonpapier, auf dem ebenfalls ein feuerroter Vulkan zu speien scheint, zeichnet sie auf dem Boden des Klassenzimmers auf einem riesigen Tonpapier weiter. Sie bearbeitet das dunkelblaue Papier so stark, dass es sich in Fetzen auflöst. Als sie aber anfängt, selbstvergessen und wütend auf einem Bein auf ihrem Bild herumzuhüpfen, läuft ein griechischer Junge nervös hin und her. Er verrät mir, dass er ähnliche Gefühle zur Stadt Wien hege, wie das Mädchen wohl zu Kyiv. Seine geliebte Stadt Athen malte er wie eine Galaxie, in Schwarz über gelbem Meer schwebend. Drei Kinder sagen, dass sie eifersüchtig wären auf die Art, wie dieses ukrainische Mädchen seine Gefühle ausdrücken könnte – mit Erfolg aus ihrem Körper und Geist herausholt. Ich bitte die 12-jährige Ukrainerin, mit dem Herumgehüpfe aufzuhören. Es ist auch zu laut.

In der Pause sammelt das Mädchen alle Fetzen ihres Bildes ein und legt sie vorsichtig in eine Mappe, die sie mit nach Hause nimmt. Ein älteres, schwarzes Mädchen kommt extra aus der letzten Bank nach vorne und betrachtet sorgsam die einzelnen Fetzen. Lange steht sie ehrfürchtig und staunend davor, ähnlich einer Museumsbesucherin vor einem Kunstwerk von Jackson Pollock oder Jean-Michel Basquiat. Statement gibt sie keines ab. Diese Kinder haben aus vielerlei Gründen tief in sich eingeprägt, eigene heftige Gefühle zu beherrschen und zu unterdrücken. Überschießende Gefühle, resultierend aus Flucht- und Migrationserfahrungen über Generationen, angekommen in einem Land, dass die eigenen familiären Kriegserfahrungen erfolgreich unterdrückt hat – ins Unterbewusstsein abgeschoben, wo sie seltsame Blüten treiben. Gelandet und angelangt in einem Land, das nun andere Kriegserfahrene unterdrückerisch dazu auffordert, diesem Vorbild zu folgen.

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You just die

Als erstes Schulprojekt hatte sich die Kunstlehrerin eine ambitionierte Aufgabe ausgedacht: Zum Thema Antisemitismus sollten die Kinder eigene Entwürfe für das umstrittene Wiener Lueger Denkmal erstellen. Das berüchtigte Denkmal, das momentan der Installation »Lueger temporär« von Nicole Six und Paul Petritsch (einer Art hölzerner Hochschaubahn mit bunten Symbolen für die sechzehn anderen Wiener-Lueger-Stellen) benachbart liegt. Das Schulprojekt resultierte in wirklich spannenden Ergebnissen: Der Junge aus Beirut entwarf ein roboterähnliches Wesen, eine Art Panzerfigur, die den Betrachter des Denkmals tötet, wenn er das erneuerte Antisemitismus-Denkmal fünf Minuten lang anschaut! »Aber deine Figur hat ja gar keine Waffe, wie soll das gehen?«, frage ich ihn, als er mir den zweiten ausgefeilten, zu Hause noch verbesserten Entwurf zeigt. Der Junge reibt sich die Augen, wischt sich mit der Hand über das Gesicht und lächelt: »Ich weiß auch nicht, wie das geht – but you just die!« Die Roboter-Maschine steht auf einer sich drehenden Walze und wirkt sehr radikal in ihrem Bestrafungsmodus. Wofür wohl die Walze ist? Später sagt der erst vor Kurzem in Österreich angekommene Junge noch, dass er selber dieser gepanzerte Mann mit nur einem Arm wäre. »That’s me…«

Ein ukrainischer Junge, der viel älter als die anderen Kinder ist, belässt in seinem Entwurf die Lueger-Prachtfigur an Ort und Stelle und stellt ihr ein enormes schwarzes Dreieck gegenüber und entgegen. In Form und Farbe erinnert dieses Dreieck an den schwarzen Winkel, der im Konzentrationslager inhaftierte sogenannte »Asoziale« kennzeichnete. Darunter waren auch Mädchen, die in Wien auf der Baumgartner Höhe in ein Arbeitslager für Arbeitsverweigerer kamen. Wenn die Kids dort auch noch auffielen oder protestierten, wurden sie im Handumdrehen weiter ins Konzentrationslager verfrachtet. Es gibt keine Erinnerungstafel dazu. Das schwarze Dreieck des Ukrainers ist durch eine Art schwarze Linien-Installation mit dem Lueger-Denkmal verbunden. Eine ebenfalls radikale, ganz eigene Lösung.

»Ein schönes Selbstporträt hast du gezeichnet«, sage ich zu dem bulgarischen Jungen, der sich anscheinend entschlossen hat, erstmalig etwas ohne Lineal zu zeichnen. »Ich zeichne doch keine Selbstporträts«, protestiert er und geht einen Schritt rückwärts. »Und was ist das?«, frage ich, breite die Hände aus und deute auf die abgebildete Ente, die er im Kindergarten gelernt hat zu zeichnen. Der Kopf ist rund, der Schnabel okay, aber der Körper sieht mir schon wieder verdächtig nach Lineal aus. »Die ist super, deine Ente.« Er lächelt.

»Lueger temporär« © Iris Ranzinger/KÖR GmbH 2022

Anmerkung der Redaktion: Unsere Autorin Kerstin Kellermann durfte im Rahmen einer Projektarbeit am Kunstunterricht einer Wiener Mittelschule teilnehmen. Da die Schule keine Zeichnungen zur Verfügung stellen konnte: Die Enten-Bilder in diesem Artikel, ohne Lineal gezeichnet von 12-jährigen Kindern, stehen ersatzweise für die Freude am Ausdruck, die Kindern im Fach bildnerisches Gestalten ermöglicht wird.

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