Grauzone Poster
Grauzone Poster

In einem erfundenen Land

Die Liner Notes zur 40-Jahre-Grauzone-Compilation erzählen die Geschichten hinter den Songs einer der prägendsten Bands der Neuen Deutschen Welle.

Die Mitglieder von Grauzone verstanden sich als »Art-Band« mit Punk-Attitüde. Musik, visuelle Gestaltung, Film, Performance und ein eigener Stil bildeten eine Einheit. Ihre Songs sollten einfach sein, so dass man förmlich in sie hineinsehen konnte. Jede*r sollte in den Stücken eigene Bezüge feststellen und für sich individuell etwas anderes erkennen können. Ursprünglich bestand ihr Equipment aus Gitarre, Bass und Schlagzeug, erweitert wurde es durch Synthesizer und eine Drum-Maschine, auch wenn anfangs niemand richtig damit umzugehen verstand und sie meist mit repetitiven Tonschlaufen arbeiteten. Doch Grauzone experimentieren weiter und manchmal blieb dabei ein Ton als Geräuschkulisse. Dieses Hängenbleiben der Synthesizer oder die Möglichkeiten, einzelne Töne im Sample-Hold-Mode unendlich lang und abwechslungsreich zu halten, waren eine wichtige Inspiration für den zukünftigen Grauzone-Sound.

In den knapp zweieinhalb Jahren ihres Bestehens durchliefen Grauzone drei Phasen. Phase 1 war geprägt vom Willen, in den Songs und an den Konzerten Emotionen als Gestaltungsmittel einzusetzen, um diese unmittelbar in die Musik einfließen zu lassen. Das bedeutete, dass ihre Lieder kaum zweimal gleich gespielt werden sollten. Phase 2 war das Kollektiv im Sunrise Studio, wo nun alle Songs entstanden. Kreative Prozesse wurden bei den Aufnahmen von allen Anwesenden mitgetragen. Sogar der Studiohund Sonnie, für die an jeder Tür ein Seilzug mit einer Bierflasche hing, damit sie ungehindert von einem Raum in den anderen gehen konnte, war Teil dieses Kollektives. Phase 3 begann mit der Spaltung des Kollektivs in zwei Lager. Mit dem Abgang einiger Mitglieder, was sich natürlich auch in der Musik bemerkbar machen sollte, bis hin zur definitiven Auflösung.

Grauzone leben in einem erfundenen Land. Es ist das schönste und reichste der Welt, und der Betonverbrauch pro Kopf ist der größte. Aus großer Höhe sieht dieses Land aus wie ein Stück Filz, aber aus der Nähe wie ein gesäuberter Park. Die Spazierwege sind mit Sitzbänken gesäumt und die Straßen mit Bankensitzen. Die ersten Songs der Band hießen »My Eyes«, »Sommer 80«, »Grauzone«, »Plastikherz«, »Blaulicht«, »Dunkle Schatten«, aber auch schon die später bekannten Titel »Moskau«, »Eisbär«, »Raum« oder »Marmelade und Himbeereis«. Die Geschichten hinter diesen Songs finden sich in den Liner Notes zum »Grauzone« Doppelalbum im 40 Years Anniversary Box Set von WRWTFWW Records, das alle Songs aus der Grauzone-Diskographie vereint.

Lyrics für den Song »Ein Tanz mit dem Tod« © Marco Repetto

»Moskau«
In der Anfangsphase spielten Grauzone ihre Songs live. Diese wurden wie bei jeder anderen Band auch in ihrem Übungsraum geschrieben und geprobt. Später, als Grauzone keine Konzerte mehr gaben, entstanden alle Lieder im Studio. Die meisten Texte wurden von Martin »Tinu« Eicher geschrieben und waren eigenwillige Liebeslieder. Es war Tinus Eigenart, seine persönlichen Stimmungen, Erlebnisse und auch Träume textlich und musikalisch einzubringen. Er traf damit den Zeitgeist mit seinen künstlerischen Interpretationen auf den Punkt wie kaum ein anderer in dieser Zeit. Musikalisch liegen aufgrund der ursprünglichen Konzeption Welten zwischen der Umsetzung des Songs auf einem Konzert und der Studioversion, die uns bei diesem Song vorliegt. Ein monotones Schlagzeug wird von zwei Gitarrenriffs – die vom Song »Moskau Nights« von den Feelies aus New Jersey übernommen wurden – und einem wehmütigen Synthesizer begleitet.

Textlich ist »Moskau« die Metapher für die Liebe zu einer Frau. Für die anderen Bandmitglieder war es die Faszination des Fernen, Unbekannten und eine romantische Vorstellung, die sie von der Stadt Moskau hatten. Es war der Traum vieler Bands, in Städten wie London oder Berlin aufzutreten, aber sicher nicht Moskau, wie dies für Grauzone in der Zeit des Kalten Krieges der Fall war. Stephan Eicher wählte für die Single-Hülle bewusst zwei Schnittmontagen aus dem Film »Panzerkreuzer Potemkin« von Sergei Eisenstein als Covermotiv, um einen Bezug zur Russischen Revolution herzustellen. Als ein weiteres russisches Stil-Element wurde für die Textbeilage die Reproduktion eines Ausschnittes der Prawda verwendet.

»Eisbär«
Auch hier entstand die endgültige Fassung des Songs erst im Studio. Tinu Eicher hatte den Text bereits verfasst; die massive Basslinie, auf die sich der Song aufbaut, kam von Bassist Christian »GT« Trüssel. Beim ersten Take klang es noch extrem nach dem Song »The Forest« von The Cure. Die Label-Crew von Off Course wies die Band darauf hin und verlangte persönlichere, eigene Ideen. So entstand der von wütenden Synthies gebrochene Song »Eisbär«. Stephan Eicher war maßgeblich für das Entstehen dieses Songs verantwortlich, weil er die Kreativität der Band wie kein anderer freisetzten konnte, außerdem konnte er Synthesizer damals bereits ganz gut bedienen.

Tinus Text basiert auf einem Albtraum, der sprechende Eisbären an den Wänden hatte. Damals, bei den Aufnahmen zum »Eisbär«, war Marco »Repi« Repetto am Schlagzeug noch nicht genug taktgenau, so dass der Toningenieur, Etienne Conod von den Sunrise Studios, beschloss, aus seiner Drum-Spur mittels einer Bandschleife einen Loop zu bauen – im damaligen analogen Zeitalter eine aufwendige Präzisionsarbeit. Es wurde der erste Loop in der Schweizer Musikgeschichte. Etienne erläuterte uns, dass es in München bei Disco-Produktionen üblich sei, das so zu machen, auch weil die Drum-Computer noch völlig in den Kinderschuhen steckten. So bekam der »Eisbär« plötzlich einen treibenden Disco-Beat, der dem Song mehr als nur gut stand. Noch wichtiger war, dass der Song genau den Zeitgeist traf und ihm einen bis dahin fehlenden Soundtrack lieferte. Auch in der vermeintlich ruhigen Schweiz sollten aufmüpfige Jugendliche mit ihren Forderungen das ganze Jahrzehnt hindurch die Gesellschaft nachhaltig beeinflussen.

»Raum«
Bei »Raum« ist der Einfluss von The Cure kaum zu überhören, sowohl im Gitarrenspiel als auch beim Gesang von Tinu – überdies befinden sich beide Songs in der gleichen Räumlichkeit. Bei The Cure ist es ein Haus, bei Grauzone ein Raum. Stephan erwähnt dabei GT mit seinem Bassspiel: »Die Ramones spielen ›A Forest‹ von The Cure!« GT gab sich nicht nur optisch wie ein Mitglied der New Yorker Punk-Band, er spielte ebenso auch einen absolut reduzierten Bass. Bei »Raum« geht eine Tür auf. Ein Gefühl von Angst, Hilflosigkeit, Leere und Stille macht sich breit. Du weinst und verbale Kommunikation ist nicht mehr möglich.

Der Song wurde wie »Eisbär« zum ersten Mal auf dem »Swiss Wave – The Album« LP-Sampler veröffentlicht. Auf der Coverrückseite wurde jede Band mit einem Gruppenfoto porträtiert. Bei Grauzone sieht man auf der Aufnahme ihres Übungsraums am Berner Bollwerk statt den fünf nur drei Mitglieder. Stephan taucht weder auf dem Foto noch in der Formation auf. Dafür wurde ein Foto seiner damaligen Freundin hinein montiert. Das weibliche Mitglied war ja eigentlich Claudine Chirac, die ebenfalls fehlt. Die Mitglieder von Grauzone zettelten hier absichtlich ein Verwirrspiel mit dem*der Betrachter*in an, was ihnen damals natürlich auch bestens gelang.

»Marmelade und Himbeereis«
Repi und Tinu schrieben diesen Song gemeinsam. Für Repi mit seinen italienischen Wurzeln bedeutete Grauzone auch die Rückkehr zum Kitsch der italienischen Schlager, zum blumigen, schillernden Sound, den er als Teenager aus der Jukebox in den Gastarbeiterbaracken in Bern gehört hatte. Der Song mit dem beruhigenden Rauschen der Wellen im Vordergrund lässt die Zuhörer*innen sich in Sicherheit wiegen und gaukelt ihnen Ferienlaune vor. Gekoppelt mit Tinus typischem Songwriting geht alles seinen gewohnten Weg … wenn uns nicht am Ende des Songs mit dem Refrain »Wir sind alle prostituiert« vor Augen geführt würde, dass auch wir allesamt kleine Kapitalistenarschlöcher sind. Eine Hommage an den 1979 erschienen Song »We Are All Prostitutes« von The Pop Group aus Bristol in England.

»Schlachtet«
Bei »Schlachtet« kommt der Punk-Einfluss bei Grauzone klar zum Tragen. Repi und GT, die davor bei der Punkband Glueams die Rhythmussektion bildeten und für diesen Song verantwortlich sind, kannten natürlich auch den Song »Kill The Poor« von den Dead Kennedys aus San Francisco, mit dem charismatischen Frontmann Jello Biafra. Ein Song mit beißendem Humor, der den Standpunkt rechter Politik durchaus offensiv in seiner Wortwahl aufzeigt. Der Text und die Musik zielen hier ebenso auf die Methoden, die im Faschismus verwendet werden. Das Problem wird scheinbar gelöst, indem alles, was nicht »deren« Norm entspricht, geschlachtet wird. Der treibende, monotone Rhythmus, der von Gitarre und Schlagzeug hervorgerufen wird, sowie der kantige Gesang mit der Bestätigung durch den Doppelschlag der Hand Claps machen hier alles klar.

»Ein Tanz mit dem Tod«
»Ein Tanz mit dem Tod« ist eine sehr persönliche Geschichte zwischen GT und Repi. Sie wohnten damals in einem hässlichen, mehrstöckigen Gebäude übereinander, jeder in seiner eigenen kleinen Wohnung. Dort kamen sie im Haus durch einen Dealer mit Heroin in Kontakt. Für Repi war klar, dass der Konsum dieser Droge ihn letztendlich zerstören würde. Konträr dazu fand GT Gefallen an der Droge. Mit dem Song verarbeitet Marco diese Geschehnisse, er wurde von ihm komponiert und geschrieben. Um was es geht, ist gut hörbar, wenn Sänger Repi richtiggehend die Songzeilen »Tanz mit ihm, sprich zu ihm, geh zu ihm, bleib bei ihm« den Zuhörer*innen frontal ins Gesicht schreit … Ein Hilferuf und gleichermaßen eine Warnung!

»Ich lieb sie«
Ende 1980 gingen Grauzone für einige Tage für Aufnahmen von drei Songs in das Sunrise Studio. Neben »Moskau« und »Ein Tanz mit dem Tod«‹ wurde auch »Ich lieb sie« eingespielt. Hier macht die Band nun einen Schritt in Richtung kitschiger Synthie-Pop-Musik, welcher die Waliser Band Young Marble Giants der Gebrüder Moxham dazumal Pate stand. Im Februar 1980 erschien ihre einzige LP »Colossal Youth« bei Rough Trade. Wie Grauzone in der Schweiz spielten Young Marble Giants minimalistischen, introspektiven Sound in England, der zu diesem Zeitpunkt konträr zum angesagten Post-Punk stand. Tinu schreibt hier eines seiner schönsten Liebeslieder – klassisch, wie zu Zeiten der unschuldigen 1950er-Jahre. Dies bewog Urs Steiger, ihren Produzenten, bei der Textbeilage zur Single überall Herzchen zu platzieren. Bei der späteren Veröffentlichung auf dem Rücken des »Eisbären« schaffte es noch ein Herz, aber mit »flachem« Ende, auf den Umschlag.

»Film 2«
»Film 2« ist der perfekte Grauzone-Song. Veröffentlicht auf dem Album im Oktober 1981, erstellten die Eicher-Brüder dazu Anfang 1982 ihren einzigen Videoclip. Dieser Clip wurde zweimal, am 3. März und 10. April, im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt und ist heute auf YouTube konserviert. Bei diesem Song vereinen sich alle Elemente, für die Grauzone eingestanden sind: Musik, Film, Performance, visuelle Gestaltung, Raum, Kälte und eine große Sensibilität. »Film 2« hat keine klassische Strophe, keinen Gesang und auch keinen Refrain (ursprünglich existierten lediglich einzelne Songzeilen). Die kurze Anfangssequenz könnte aus einem John-Carpenter-Film-Soundtrack stammen, dann ein Hauch von Dub, Takt für Takt baut sich der Song langsam auf, heute würde man »Track« dazu sagen, das Synthesizer-Arpeggio klingt leicht bedrohlich, der Beat hält an, die Rhythmik ist verdammt eng. Diese explizite Rhythmik war ihrer Zeit deutlich voraus und nahm einiges vorweg, was später an treibender Elektronik in diversen Genres folgen sollte. Ohne es zu wissen, leistete die Band damals sicher Pionierarbeit.

»Film 1«
»Film 1« unterscheidet sich wie kein anderer von allen anderen Grauzone Songs. Die Collage, die aus verschiedenen Soundschnipseln und Stimmen zusammengesetzt wurde, transportiert eine bedrohliche, für diese Zeit typische Endzeitstimmung. Die beiden Eicher-Brüder nahmen den Song im Frühjahr 1981 mit einer 4-Spur-Maschine selbst auf und veröffentlichten ihn kurz darauf auf dem »Misch Masch« Kassetten-Sampler (schon damals am Ende der A-Seite aufgeführt). Neuabonnent*innen vom »Tell« Magazin, für Schweizer Verhältnisse eine eher nonkonformistische Zeitschrift, erhielten dieses Tape umsonst mit ihrer ersten Ausgabe nach Hause geliefert. Zu »Film 2« besteht absolut keine Verbindung und so wird er auch hier, abermals nicht weiter überraschend, »Film 1« als letzter Song aufgeführt.

»Hinter den Bergen«
Die private F+F Schule für Kunst und Design in Zürich war in den 1970er- und 1980er-Jahren ein wichtiger Ort für die »neue« Kunst- und Musikszene in der Schweiz. Neben Stephan besuchten zu der gleichen Zeit auch die beiden Liliput-Musikerinnen Klaudia Schifferle und Angela Schleizer die Schule. Angela war damals besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Barrack. Zusammen mit Angela und Dani Affolter veröffentlichte Stephan bereits 1980 unter dem Kürzel S.A.D. (Stephan-Angela-Dani) eine Kassette mit zwei Gedichten. »Hinter den Bergen« ist ein weiteres Gedicht, geschrieben von Angela, das bekannte Persönlichkeiten (Maggie T. steht für Margaret Thatcher) in absurde Kontexte stellt. Mystische Sagen, die hinter den Bergen vor langer Zeit stattgefunden haben, wo Stimmen durch das Echo der Täler an uns herangetragen werden, gehören genauso zu der Schweiz wie das Absurdum in den 1980er-Jahren, in dem wir aufgewachsen sind. Exakt so klingt auch dieser Song.

»Maikäfer flieg«
Maikäfer flieg
Der Vater ist im Krieg
Die Mutter ist im Pommernland
Und Pommerland ist abgebrannt

Dies ist ein bekanntes deutschsprachiges Volks- und Kinderlied. Der Inhalt des Liedes beschreibt vordergründig den damals unter Kindern weit verbreiteten Brauch, Maikäfer einzufangen und wieder fliegen zu lassen. Die Eicher-Brüder wuchsen in einer Familie auf, in der Volkslieder rezitiert wurden, und so ist es nicht weiter erstaunlich, dass man oft den Eindruck gewinnt, dass es sich bei Grauzone-Liedertiteln um Volkslieder handeln könnte. Eine Kette streift über den Boden, ein weiteres verfremdetes Geräusch im Hintergrund, alles mit starkem Echo versehen, ein monoton klagender Synthesizer nahe an einer Orgel setzt ein, Martins verletzte Stimme, ein Gitarrenriff, weitere Stimmen, ein klagendes, extrem verfremdetes Saxophon und weitere Geräusche … Der Tod und die Hoffnungslosigkeit, wie der betäubte Gang über ein Schlachtfeld mitten in einem verlorenen Krieg und die schleichende Erkenntnis, dass Pommerland abgebrannt ist, sind greifbar nahe.

»Wütendes Glas«
Wurde beim »Eisbär« unser Lebensgefühl, bei »Hinter den Bergen« das Absurdum der Gesellschaft aufgezeigt, in der wir aufgewachsen sind, wird bei »Wütendes Glas« unser Aufbegehren textlich wie musikalisch von Stephan und Repi eingefangen. Im Sommer 1980 gaben Grauzone zwei Konzerte, eines in einem besetzten Tramdepot, das zweite in der Reitschule von Bern. Dort spielten sie unter anderem ihren gleichnamigen Song »Sommer 80«. »Wütendes Glas« wurde genau ein Jahr nach dem »heiße« Sommer 1980, der als Synonym für die Jugendunruhen in Zürich und anderen Schweizer Städten steht, erstmals für das Album eingespielt. Nach dem Abgang von Repi und GT gingen die Eicher Brüder im Frühling 1982, neu mit Ingrid Berney am Bass und Schlagzeug, abermals in das Sunrise Studio und spielten den Song komplett neu für ihre letzte Plattenveröffentlichung ein. Diese Maxi-Version befindet sich auch auf diesem Tonträger. Neu sind unter anderem die rhythmisch knallenden Hand Claps, hervorgerufen durch eine Drum-Maschine, und diese Version verfügt über weit mehr Geschwindigkeit als die ursprüngliche Aufnahme. Eine erhöhte Frequenz pumpt Adrenalin in dein Gehirn und lässt den tanzenden Körper den Verstand verlieren.

 

»Kälte kriecht«
Leg deine Hand auf meinen Körper
Schließ deinen Mund
Vergiss all die Wörter
Kälte kriecht durch die Wände
Und bedeckt unsere verletzten Hände
Kälte kriecht durch die Wände

Bei »Kälte kriecht« kommen zwei uns unbekannte Personen ins Spiel. Die erste ist Aqua Regis, mit einem fantastischen Clip, der auf YouTube hochgeladen wurde. Suchen und anschauen! Die andere heißt customer21 und hat einmal einen sehr persönlichen und berührenden Kommentar für das »Grauzone«-Album bei Discogs geschrieben: »I was 15. I’ve been heavily in love in those days and I always heard it on my Walkman walking home from my girlfriend through the neon lighted streets, staring at the illuminated factories and the motorway. I can’t describe this kind of industrial romantic as it fitted perfectly to my romantic feelings about the girl. Think Grauzone keeps this both poles still. And I always like to hear this great record again … ›Denn Kälte kriecht durch die Wände und bedeckt unsere verletzten Hände!‹«

»Kunstgewerbe«
Das Kunstgewerbe umfasst die handwerkliche, maschinelle oder industrielle Herstellung von Gebrauchsgegenständen mit künstlerischem Anspruch. Ein Tonträger beinhaltet die handwerkliche, maschinelle und industrielle Herstellung von Songs mit künstlerischem Anspruch. Die Gebrüder Eicher haben diesen einminütigen instrumentalen Song für das Album komponiert und eingespielt. Wie eine Maschine hämmern die drei monotonen Synthesizer-Töne zu einem imaginären Stummfilm der 1920er-Jahre ein.

»Der Weg zu zweit«
Eines der wenigen Promotion-Fotos, das aus der Zeit existiert, zeigt, wie Stephan seinen Arm um seinen jüngeren Bruder Martin legt. Sie stehen beide vor einem Hintergrund, der einen gemalten Sternenhimmel darstellt. Im Songtext heißt es: »Wir tragen Sterne, wir wollen lachen und wollen scherzen, dann wieder weinen und traurig scheinen. So muss das sein, so wird das sein … der Weg zu zweit ist halb so weit.« Die Brüder Eicher erbten von ihrem Vater die Leidenschaft für Musikinstrumente und die Musik an sich. Im Elternhaus hatten sie eine Art Bar, wo ihr Vater ihnen oft seine Platten vorspielte, griechische und Balkan-Folklore, dazu jenische Lieder. Gefühle und Kommunikation wurden bei den Eichers schon früh öfters über die Musik transportiert. Und so heißt es weiter: »Wir beißen Scherben, versuchen Gifte, kräftig hassen, zärtlich lieben, etwas finden, um es zu verlieren. So muss das sein, so wird das sein … der Weg zu zweit ist halb so weit.« Obwohl Stephan glaubt, dass er ein schlechter Textschreiber wäre, stammen diese sehr schönen Zeilen für »Der Weg zu zweit« von ihm.

»In der Nacht«
(Tränen) »In der Nacht« ist mit knapp fünf Minuten weitaus der längste und darüber hinaus ein sehr ungewöhnlicher Grauzone-Song. Das Intro bildet ein quälend sakral tönender Synthesizer, der sich bis knapp eine Minute vor dem Ende hinzieht. Nach etwa einer Minute setzt dasselbe rhythmische Kettenschleifen über den Boden ein, das wir bereits von »Maikäfer flieg« kennen. Eine monotone Gitarre gesellt sich als vordergründiger Takt hinzu und eine kaum zu verstehende Stimme rezitiert im Hintergrund die Songzeilen, während rückwärts abgespielte Geräusche an einem vorbeiflirren. Nach vier Minuten ist nur noch das rhythmische Kettenstreifen übrig, das sich nun zu zerschlagenem Glas in langsamer werdenden Tonlagen verwandelt, bis hin zu einem in sich zusammenfallenden Haus. Ein vertonter Albtraum.

»Träume mit mir«
Bei diesem Liebeslied finden wir keine negativen Zeilen wie »Ich und du, wir liegen auf Scherben, ich und du beginnen zu sterben« (»Ich und du«) oder »Wir beißen Scherben, versuchen Gifte, kräftig hassen, zärtlich lieben, etwas finden, um es zu verlieren« (»Der Weg zu zweit«). Text und Musik sind für Grauzone-Verhältnisse geradezu optimistisch und warm. Hier heißt es: »Deine Augen, tausend Sterne, für alle in dieser Welt« oder »Du verzauberst mir die ganze Welt«. Tinu und Ingrid waren auch ein Paar zu der Zeit.

»Ich und du«
Der Song ist aus mehreren Gründen ungewöhnlich, vor allem wegen des Zeitpunktes, zu dem er eingespielt wurde. Kurz bevor sich Grauzone auflösten, wurde der Song von den Eicher-Brüdern mit Inrid Berney im Sunrise Studio im März 1982 für die letzte Veröffentlichung, die Maxi-Single »Träume mit mir«, aufgenommen. Stark gitarrenlastig, ist es ein klassischer New-Wave-Song, bei dem der Synthesizer nur zweitrangig erscheint. Doch derartige Kompositionen spielten Grauzone eigentlich nur in ihrer ersten Bandphase, als sie noch Konzerte gaben.

Der Song war in seiner ursprünglichen Fassung zum ersten Mal im September 1981 zu hören. Stephan veröffentlichte damals unter dem Pseudonym Zorro Schlubowitz eine selbstproduzierte Kassette in kleiner Auflage. Auf diesem Tape befindet sich die interessante Urfassung von »Ich und du«. Diese unterscheidet sich nahezu komplett von der mit Grauzone aufgenommenen. Bei Zorro Schlubowitz ist es ein fast Folk-Gitarrenstück, gekoppelt mit einem nervösen Synthie-Track, bei dem lediglich die ersten beiden der später auf vier erweiterten Strophen existieren. Auf derselben Kassette befindet sich auch eine Neuinterpretation von »Hinter den Bergen« sowie eine frühe Version von »Paris« und zwei von »Komm zurück«. Die letzteren beiden sind auf der Mini-LP »Souvenir« enthalten, mit der Stephan noch im selben Jahr nach der Auflösung von Grauzone seine bis heute andauernde Solokarriere startete.

Anniversary Box Set
Stephan Eicher besitzt heute die gesammten Rechte an allen Studioaufnahmen von Grauzone. Zum 40-jährigen Jubiläum der Bandgründung veröffentlichten er und das Genfer Label We Release Whatever The Fuck We Want Records das komplette Songmaterial digital, auf CD und Vinyl. Die Krönung ist eine Vinyl-Box, limitiert auf 1.000 Exemplare. Diese beinhaltet u. a. das Doppelalbum »Grauzone« mit Liner Notes von Lurker Grand. Der hier vorliegende Text wurde dort erstmals veröffentlicht.

https://wrwtfww.com/album/limited-edition-40-years-anniversary-box-set

https://www.grauzone-band.de/

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Text
Lurker Grand, Redaktion

Veröffentlichung
15.09.2021

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