Michikazu Matsune: »Nothing is Something like Everything« © Michikazu Matsune
Michikazu Matsune: »Nothing is Something like Everything« © Michikazu Matsune

Der Countdown zur Brotzeit

Michikazu Matsunes Relativitäts-Performance »Nothing is Something like Everything« ist auf der Suche nach der Geschwindigkeit von Erinnerungen.

Raum und Zeit und Brot und Bühne: Seit 2004 kreiert der 1973 in Kobe, Japan, geborene Künstler und Choreograf Michikazu Matsune sehr eigenständige, ikonische Arbeiten, die im Zwischenraum von Performance, Installation, Gespräch und Text mittels subversiven Humors und nüchtern-poetischer Ironie gesellschaftliche Zustände reflektieren. Im Rahmen des ImPulsTanz Festivals 2024 zeigt er sein neues Gruppenstück »Nothing is Something like Everything«, eine zeitlich begrenzte Hommage an unseren durchgetakteten Lauf durchs Leben, gemeinsam entwickelt mit den Performer*innen Martina De Dominicis, Luiza Furtado, Daniel Hafner, Alexandra Mazek, Frans Poelstra und Nicola Schößler. skug besuchte ihn bei den Proben. 

skug: Ich möchte zunächst eine Seite aus deinem kürzlich erschienenen Buch »How did you sleep last night?« zitieren: »Acht Stunden Schlaf am Stück als Ideal ist eine ziemlich neue Erfindung. Es heißt, dass die Menschen früher in der Geschichte in Vier-Stunden-Blöcken schliefen und mitten in der Nacht für ein paar Stunden aufstanden. Die Nächte waren wichtige Momente für soziale Aktivitäten und Studien wie Astronomie oder Philosophie. Die Professionalisierung des Schlafs kam erst mit der industriellen Revolution. Heute wird unser Schlaf im Verhältnis zur Produktivität bewertet. Wenn wir über den Schlaf sprechen, mag es sich anfühlen, als ob wir in die Privatsphäre von jemandem eindringen. Aber unser Privatleben ist bereits darauf ausgerichtet, gesellschaftlich gut zu performen.« Also: Wie hast du letzte Nacht geschlafen?

Michikazu Matsune: Ich habe ok geschlafen, aber eigentlich leide ich schon seit mehreren Jahren an Nackenschmerzen und es wird nicht besser. Gestern Nacht oder besser gesagt heute Morgen hatte ich Schmerzen im Schlaf, sehr unangenehm. Das Leben als Künstler als Stressfaktor könnte ein Grund sein, und als Freiberufler kann man sich nie ausruhen. (lacht) Es fällt mir nicht leicht, die Nacht durchzuschlafen, und aus diesem Grund habe ich das Projekt The Institute of Sleepless Nights gestartet.

Performance-Kunst ist immer auch zeitbasiert – und der Aspekt des von der Zeit getriebenen Seins scheint das Hauptthema deiner kommenden Performance beim ImPulsTanz Festival zu sein. Der Titel »Nothing is Something like Everything« verdeutlicht deine poetische Art von Humor. Was ist damit gemeint?

Ich weiß nicht, warum mir dieser Titel in den Sinn gekommen ist. Ich trage den Titel nun schon seit mehreren Jahren mit mir herum. Dieser Satz tauchte plötzlich wie eine Wolke in meinem Kopf auf. Als ich anfing, über die neue Performance nachzudenken, war eines meiner ersten Bilder ein digitaler Countdown-Timer als zentrales Element auf der Bühne. Es hat nicht direkt etwas mit dem Titel zu tun, aber mit unserem Rund-um-die-Uhr-Dasein als Performer*innen. Ich begann, darüber nachzudenken, was dieses Bild für mich bedeutet und was es bedeutet, wenn Menschen behaupten, dass »die Zeit läuft« oder »die Zeit abläuft«. Dann tauchte der Titel, den ich irgendwo in meinem Kopf hatte, wieder auf und machte völlig Sinn. Gehen wir auf nichts oder auf alles zu? Diese Frage wurde das Konzept für dieses Werk. Es ist immer wieder überraschend, wie ein Werk Gestalt annimmt. Manchmal aus einer Recherche heraus, manchmal beginnt es mit einem Bild, manchmal mit einer bestimmten Gruppe von Performer*innen.

Es gibt ein älteres Werk von dir mit dem Titel »Confusing Times«. Gibt es eine Verbindung zur neuen Performance »Nothing is Something like Everything«?

Ich mache Arbeiten in verschiedenen Formaten. »Confusing Times« war eine Serie von Uhren mit falschen Zifferblättern. Sie war Teil eines Ausstellungsprojekts und der Klang von zwölf tickenden Uhren in dieser Installation war beeindruckend. Die Idee zu »Confusing Times« entstand 2020 während der Zeit von Covid und der Erfahrung, sich in Zeit und Raum zu verlieren. Die Zeit ist ein wiederkehrendes Thema in meinen Arbeiten. Eines der grundlegenden Elemente einer Performance ist für mich das gemeinsame Erleben von Zeit. Menschen kommen zusammen, um eine Vorstellung zu sehen und eine Erfahrung zu teilen: Zeit, Gedanken, Raum … In »Nothing is Something like Everything« versuchen wir, eine Brücke zwischen verschiedenen Zeiten zu schlagen, indem wir zum Beispiel Erinnerungen aus unserer Kindheit erzählen. Woran erinnern wir uns? Was können wir vielleicht wiedererleben? Ein Performer ist bereits siebzig Jahre alt und schildert, wie er die Zeit erfahren hat – zum Beispiel seinen Haarausfall. Eine Geschichte, die ich erzähle, handelt von einem alten Schwarz-Weiß-Foto, das meinen Vater vor den Pyramiden in Ägypten zeigt, auf einem Kamel sitzend. Als Kind war ich von diesem Foto sehr fasziniert. Wenn ich an meinen bereits verstorbenen Vater denke, habe ich dieses Bild vor Augen, wie er lächelnd auf einem Kamel vor den Pyramiden sitzt. Dreißig Jahre später war ich auch dort und ritt auf einem Kamel. Es war ein seltsames Gefühl, an dem gleichen Ort zu sein, an dem mein Vater vor so vielen Jahren war … und überraschend, dass die Welt um die Pyramiden herum in Farbe war! Später fand ich heraus, dass ein Kamel ein halbes Jahrhundert alt werden kann. Könnte es sein, dass ich auf demselben Kamel geritten bin, auf dem mein Vater einst geritten ist? Diese Geschichte fasziniert mich. Wie gehen wir gefühlsmäßig mit Zeitspannen um? Für mich ist es ein Paradoxon und der Zauber von Performance, dass die Zeit in diesem Sinne unlogisch ist, denn man kann das Leben meines Vaters erleben, ohne ihm jemals zu begegnen. Und die Redewendung »Man vergisst die Zeit« ist auch eine Art zu sagen, dass man ganz in etwas vertieft ist, einer Geschichte zuhört und die Zeit für diesen Moment tatsächlich vergisst. Aber in »Nothing is Something like Everything« ist immer eine riesige Countdown-Uhr zu sehen, so dass man pausenlos mit dem Vergehen der Zeit bzw. der Vergänglichkeit unseres Seins konfrontiert wird, während man uns auf der Bühne zusieht. Ein Paradoxon wie der Titel.

Abgesehen von den Paradoxien in Bezug auf die Wahrnehmung und Messung von Zeit, was können wir sonst von der Aufführung erwarten?

Wir werden mit verschiedenen Brotsorten auftreten, und das steht symbolisch für die Vielfalt in uns und auch innerhalb unserer Performance-Gruppe. Es ist reizvoll, zu versuchen, die Zeit über den Prozess der Brotherstellung zu verstehen. Was kennzeichnet das Leben eines Brotes? Es braucht verschiedene Prozesse, um das Korn zu entwickeln. Dann ist viel Wissen nötig, um Mehl und später den Teig herzustellen. Wir waren begeistert, als das Thema Brot aufkam und haben sofort angefangen, mit Brot zu tanzen. Es ist interessant, wie ein Brot altert und hart wird, und wir scherzen, dass ein Salzstangerl mit der Zeit sogar zu einer Waffe werden könnte. (lacht) Wie bei der Logik oder Unlogik der Zeitwahrnehmung spielen wir auch mit den Aspekten des Realen oder Unwirklichen. Ich entwickle Bühnenstücke, die oft realistisch scheinen und sich ironischerweise mit der Situation des Performens befassen. In diesem Stück findet sich eine weitere Ebene der Unwirklichkeit. Ich weiß, das klingt jetzt ein bisschen abstrakt, aber man wird sehen, wie wir mit dieser Frage auf verschiedene Weise spielen und sogar darüber singen. Vielleicht müssen wir noch unwirklicher werden, um wieder wirklich sein zu können!

Du bist in einem anderen Kulturkontext, in Japan, aufgewachsen. Wie würdest du die kulturellen Unterschiede im Umgang mit der Zeit beschreiben?

Ja, der Umgang mit Zeit und Terminen ist stark kulturell konnotiert. Wir haben eine Performerin aus Brasilien, und es ist lustig, denn sie sagt: »Pünktlich zu kommen, ist unhöflich. Man sollte zu spät kommen!« (lacht) Wir scherzen über die Tatsache, dass das Konzept der Zeit eine kulturelle Konstruktion ist. Natürlich sind wir alle Individuen und es gibt unterschiedliche Fälle. Aber das gemeinsame Verständnis, wie wir in einer Gesellschaft mit Zeit umgehen, kann sehr unterschiedlich sein. Und natürlich ist die Zeit heutzutage ein dominantes Regulativ, das unser Leben diktiert. Können wir frei von der Zeit sein? Oder sind wir alle Sklaven der Zeit? Unsere ganze Gesellschaft basiert auf diesem strengen System und der Ordnung des Kapitalismus. Wir sollten acht Stunden in einem Block schlafen, um dann acht Stunden arbeiten zu gehen. Aber dieses Konzept ist erst einige Jahrhunderte alt. Eine Sonnenuhr zum Beispiel deutete noch auf einen kosmologischen Zusammenhang der Zeitmessung hin. Warum bemühen wir uns so sehr, diesen achtstündigen Schlafrhythmus ohne Unterbrechung als Ideal zu erreichen? Ich scheitere jede Nacht! 

Michikazu Matsunes »Nothing is Something like Everything« ist von 31. Juli bis 2. August 2024 im Rahmen von ImPulsTanz im Schauspielhaus zu sehen.

Link: https://www.impulstanz.com/performances/pid1681/

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