Viele Fragen bewegen die Regisseurin, Choreografin und Künstlerin Claudia Bosse, Leiterin der transdisziplinären Kompanie theatercombinat, in ihrem ersten Solo »Oracle and Sacrifice 1«. Eine zentrale Frage in ihrer Performance ‒ »ein Denken mit dem eigenen Körper« ‒ lautet: »Was wäre, wenn wir unsere Zukunft in unseren Organen tragen?« Inspiriert u. a. von babylonischen Blutopfern und etruskischen Eingeweideschauen werden assoziative und performative Verbindungen des Körperinneren mit dem Äußeren der Welt gesucht. Als »Kunst einer temporären Gemeinschaft« versteht sie ihre raumgreifenden Choreografien, bei denen sie Mythen, Rituale, (antike) Texte und Dokumente mit Körpern, Sprache, Objekten und Chören zu raumspezifischen Stücken verschränkt. Die Arbeiten von Claudia Bosse schaffen Übergangsräume zwischen Installation, Choreografie, experimentellem Theater, gesellschaftlichen Ritualen und Formen der Versammlung, kollektiven und individuellen Sprechakten. skug durfte schon vorab die Proben in der Zacherlfabrik besuchen und konnte sie ein paar Tage später zum Interview treffen.
skug: »Die Evakuierung der Gegenwart« steht im Untertitel deiner Solo-Performance »Oracle and Sacrifice 1«. Evakuieren kommt vom lateinischen »evacuare« und bedeutet »ausleeren«. Wovon soll die Gegenwart entleert werden?
Claudia Bosse: »Oracle and Sacrifice 1« ist eine Arbeit, die meine 25 Jahre Theaterpraxis ausleert. Mein Wissen als Regisseurin durch meinen Körper befragt. Mein Wissen in der Beschäftigung mit der Antike und Mythen wendet, verdreht, berührt. Eine Arbeit, in der ich meine Methoden überprüfe und untersuche, welche andere Wirklichkeit poetisches Handeln schaffen kann, welche Kraft dieses Handeln haben kann. Das ist eine völlig neue Erfahrung für mich. Und auch der Genuss von etwas Unkontrollierbarem, von etwas, das ich schwer formulieren kann. Aber wenn ich einige Tage nicht proben kann, fehlt mir etwas, weil dieser Raum des körperlichen Denkens und Handelns, der sich für mich neu eröffnet hat, mir im Alltag nicht gegeben ist. Es ist eine neue Erfahrung, mit meinem Körper im Moment zu denken, ein Denken, welches ich zunächst nicht vermitteln muss, aus dem aber Bewegungen, Sprechen, Handlungen, Töne entstehen. Dieses Denken ist paradox, sinnlich, überraschend, brutal. Mit der Performance versuche ich, einen Raum zu öffnen, der Zeiten auflöst, das Innere des Körpers als Kosmos adressiert und die Gegenwart evakuiert, in dem Wissen, dass alles, was unsere Zukunft sein wird, eigentlich schon da ist, in uns, um uns und mit uns. Alles ist schon da in dem Austausch mit den Stoffen und Lebewesen, die unser Ökosystem bilden. Wir müssen nur wagen, genau hinzuschauen, und unserem Assoziieren Vertrauen schenken. Ja, dem Poetischen vertrauen, genau dem, was sich nicht eindeutig einlösen lässt in Bedeutung, sondern sich vieldeutig widersetzt. Das genau ist das Orakel, etwas Poetisches, Kryptisches und nicht Eindeutiges, etwas, was den anderen, der interpretiert, benötigt, damit es erst stattfinden kann und viele Bedeutungen behält. Außerdem versuche ich zugleich, die Gewalt nicht zu ignorieren, die stattfindet und immer stattgefunden hat. Was hat Orakel oder Opferung mit der Gegenwart zu tun? Gelingt es, sinnlich-ästhetisches Denken über Fragilitäten der Gegenwart körperlich teilbar zu machen? Wie kann man mit sich selbst eine Mehrstimmigkeit erzeugen? Welche Stimme nimmt man an, wann löst sich das Lautbild vom Körperbild?
Woher stammt dein Interesse an Orakel- und Opferkulten?
Aus meiner jahrelangen Arbeit mit antiken Texten, der Beschäftigung mit dem Kosmismus und meinen Erfahrungen mit anderen Kultur- und Glaubenspraktiken, die ein komplett anderes Weltbild haben. Das Theater ist aus Opferritualen entstanden. Bei meiner letzten Tragödien-Regiearbeit »Thyestes Brüder! Kapital – Anatomie einer Rache«, mit einem antiken Text von Seneca über Thyestes, hat mich die detaillierte Beschreibung einer Tötung und Zubereitung von Körpern interessiert. Atreus tötet aus Rache die Kinder seines Bruders Thyestes. Diese Tötung wird so beschrieben, als ob sie nach einem Opferbrauch vollzogen wurde.
Seit wann beschäftigen dich diese Themen?
In meiner Auseinandersetzung interessiere ich mich seit Langem für diesen spezifischen Moment: Wo ist der Übergang zwischen gebilligter Gewalt und einem Verbrechen? Beim Recherchieren bin ich auf etruskische und babylonische Praktiken gestoßen, bei denen ein Opfertier in einem bestimmten Ritual getötet wurde. Diesem Tier wurde vor der Tötung eine Frage ins Ohr geflüstert. Nach dem Opfern las man die Antwort aus der Leber. Die Lektüre der Leber ist das Orakel. Man durfte als Herrscher nur in den Krieg ziehen, wenn das Orakel die entsprechende Auskunft gegeben hat. Es gibt ein Dokument dieser Praxis, die Bronzeleber von Piacenza, eine Leber, auf die die etruskische Kosmologie übertragen wurde. Eine Art Schulungsobjekt oder Leseanleitung zum Leberlesen. Das Orakel ist eine Aussage, die erst gedeutet werden muss. Es braucht Interpreten, wie z. B. Priester oder Haruspizien, die Organe lesen und mehrdeutige Worte bilden, die anschließend verschiedentlich ausgelegt werden können. Aus dem Inneren eines Körpers, den Organen, leiten sie kosmische Weltzusammenhänge und die Zukunft ab. Rituale sind Übergänge, bei denen temporär die alltägliche Ordnung außer Kraft gesetzt wird. Eine Konzentration, ein Zustand mit transitorischer Wirkung. Dieses Transitorische oder Transformatorische ist für mich Kennzeichen von Kunst ‒ die Überführung eines profanen Gegenstandes oder Lebewesens in eine andere Ordnung, eine andere Zeitlichkeit, ein anderes Bedeutungssystem, eine andere Aktivierung, eine andere Aufmerksamkeit einer Gemeinschaft.
In welchen Zusammenhang stellst du deinen Körper?
Ich stelle mich mit Iphigenie, Kassandra, der Erinnerung an die Totenrituale in Toraja, Abbildungen von Opferungen, mit der Bronzeleber von Piacenza und allem, was ich gelesen habe, in einen Raum. Ich bin markiert oder affiziert von Gesprächen mit Freund*innen oder Expert*innen. Dieser Raum ist ein Raum der Konfrontation: Hier bearbeiten mein Körper und meine Erfahrungen mein Wissen. Diese Art der Verunsicherung, darauf bin ich neugierig. Ich bin die Gegenwart, die all das kombiniert, oder das Medium. Es geht um ein Aufnehmen und ein Sich-in-Bezug-Setzen. Was liest man, was ist die Interpretation, der Vorgang der Unterscheidung? Was bedeutet das Aufprallend auf Elemente, die sich in einem Raum versammeln? Welche unterschiedlichen Kombinationen, Liaisonen, Relationen im Raum und in der Zeit können sich ereignen?
Das sind viele Fragen. Welche Antworten hast du gefunden?
Zuletzt war ich lange in Indonesien, um dort eine Arbeit zu realisieren: »The Last Ideal Paradise«. Die Erfahrung mit der animistischen Religion in Indonesien ‒ Auseinandersetzung mit anderen Zeitkonzepten, das Abrücken von Linearitäten, Kausalitäten und rein genealogischem Denken, hat mein Denken stark verändert. Sowohl Zukunft als auch Gegenwart und Vergangenheit sind im indonesischen Glauben gleichzeitig anwesend und ineinander verkettet. Laut den Etruskern tragen wir die Kosmologie in den Organen und die Bio-Kosmisten halten das Sterben für einen Fehler und behaupten, Gerechtigkeit kann nur stattfinden, wenn alle Toten wiederauferstehen können.
»Vielleicht sind Opferungen Rituale kollektiver Übereinkunft, die ein Trauma bearbeiten, um den Schutz der gefährdeten Gemeinschaft einzufordern«, schreibst du.
Es gibt verschiedene Theorien, warum Opferhandlungen vollbracht werden und wurden. René Girard z. B. hat über Gewalt und das Heilige geschrieben. Wiederholt die Opferung eigentlich ein gesellschaftliches Trauma, das über die legitimierte und konzentrierte Gewalt katalysiert wird? Gewalt wird so kontrolliert eingesetzt, aber trotzdem gibt es ein Opfer.
Du hast im Zuge der Vorbereitungen und Recherchen für »Oracle and Sacrifice 1« im Juni zu einem Labor eingeladen.
Das Labor war eine Bestandsaufnahme und Austausch verschiedener Zugänge und Forschungsperspektiven. Robert Steijn beschäftigt sich mit verschiedenen schamanistischen Praktiken aus der Perspektive einer westeuropäischen Performance. Die Künstlerin Julia Zastava hat eine Alltagspraxis, die sie »out of the blue« nennt, eine andere Bewusstseinsform. Die Alt-Philologin Laura Gianvittorio-Ungar hat ihr historisches Wissen über Opferdarstellungen und Orakelpraxen geteilt, anhand überlieferter Kunstwerke, die eben keine Dokumente sind. Die Künstlerin und Philosophin Elisabeth von Samsonow beschäftigt sich aus feministischer Perspektive mit Elektra und der Ökonomie des Orakels sowie der Ökonomie des Opfers. Mit Dea Widya, Architektin und Künstlerin aus Indonesien, habe ich im Rahmen meines Stückes »The Last Ideal Paradise« in diesem Jahr in Jakarta zusammengearbeitet. Sie war für mich eine Agentin in eine andere Kultur und in ein anderes Verständnis, bei dem Orakel und Opferungen zur Alltagskultur gehören. Dea Widya setzt sich als zeitgenössische Architektin auch mit traditionellen Architekturen auf Java auseinander, damit, wie der Umgang mit den Elementen und dem Glauben sich in Formen der Architektur niederschlägt. Himmelsrichtungen wurden in Indonesien sehr spät eingeführt, davor hat man sich am Vulkan Merapi orientiert, der nicht nur ein topografisches Zentrum war. Man ging auch davon aus, dass das Leben auf Java ursprünglich aus diesem Vulkan kam.
Ein Zugang, der im europäischen Verständnis auf Unverständnis stößt.
Ich habe sie gefragt, wie wir in der Regenzeit für die Aufführung »The Last Ideal Paradise« eine temporäre Architektur im Außenraum zum Schutz der Zuschauer*innen bauen können. »Das brauchen wir nicht«, hat sie gesagt. »Wir müssen nur einen Regenschamanen engagieren. Oder vielleicht sogar zwei. Ist sicherer.« Das hat mich zunächst verstört. Dann habe ich verstanden, dass das Adressieren und Kommunizieren mit den Elementen eine Alltagspraxis ist. Ein Schamane ist in Indonesien so eine Art Dienstleister ‒ nur das Goethe-Institut hatte Probleme bei der Abrechnung.
Gab es andere Situationen dieser Art?
Wir haben in einem leerstehenden Filmstudio gearbeitet. Dea hat gesagt, dass die Katzen nicht in das Nebenhaus gehen, weil es von Geistern besetzt sei. Es gibt dort eine andere Art, wie man Tiere, Elemente und Licht liest. Im javanesischen Denken gibt es keine Leere. Jede Leere ist besiedelt, von Geistern Verstorbener. In der spezifisch indonesischen Form des Islam bildet dieser eine synkretistische Fusion mit der animistischen Religion. Diese Erfahrungen und das Arbeiten in Indonesien haben mein Verhältnis zur Natur verändert, mein Verständnis der Ökologien von Gemeinschaften, Materie und Elementen. Es ist auch ein weiterer Teil von »Oracle and Sacrifice« nächstes Jahr in Surakarta geplant. Dort möchte ich recherchieren und Material entwickeln für »Oracle and Sacrifice 5«, das im Sommer 2021 in den Wiener Wäldern mit Chor und mehr Beteiligten stattfinden wird.
Dein Solo »Oracle and Sacrifice 1« wird im Oktober im Tanzquartier Wien gezeigt. Welche Rolle haben die Kompliz*innen in diesem Stück?
Die Kompliz*innen sind meine Verbündeten. Kompliz*innen des gesamten Prozesses sind die Künstlerin Julia Zastava und der Komponist Günther Auer. Günther stellt mir Sound zur Verfügung, mit dem ich experimentiere, gemeinsam ist ein Song entstanden und wir diskutieren über den Prozess, über Kunst. Julia ist bei vielen Proben. Sie beschreibt, was sie sieht, wenn ich etwas ausprobiere, macht Vorschläge und bildet eine Art Horizont für diese Arbeit. Kompliz*innen on stage sind Jonas Tonnhofer und (Anm.: Namensvetterin) Claudia Bosse. Jonas ist 15 und in diesem Übergang zur Geschlechtsreife ‒ genau das Alter vieler Opfer bei Opferkulten vor dem Beginn der Tragödie. Claudia Bosse als deutsche Staatsanwältin ist zuständig für Gewaltverbrechen in Bielefeld. Ich habe von ihren Gerichtsfällen in Zeitungen gelesen: Welche Perspektive hat sie auf Gewalt als Vertreterin des Rechts? Welche Form von Gewalt ist rechtlich legitimiert? Das Verrückte ist, dass ausgerechnet diese Arbeit wegen der neuen Hygienebestimmungen nun von einer geplanten begehbaren Landschaft zu einer frontalen Bühnenarbeit werden muss.
Du sprichst bei »Oracle and Sacrifice 1« von »ästhetischem Übertragen«. Was kann man sich darunter vorstellen?
Es geht um das Lesen, das Aktivieren und das ästhetische Denken und Handeln in und mit einem Raum und in dem Moment, in dem es stattfindet. Ist performatives Handeln im Raum eine Zeichnung, bei der kein Strich ausradiert werden kann, sondern wo jeder Schritt und jede Setzung eine Spur hinterlässt? Wie können Elemente ihre Bedeutung verändern und über den Verlauf zu transformatorischen Objekten werden? Welche Elemente habe ich über die Sprache, über den Laut, über den Einsatz der Stimme? Welche Vorgänge des körperlich Inneren und Äußeren als Weltumraum kann mein Körper befragen? Ich arbeite sehr intuitiv. Es sind Transformationen von Symbolen, von Objekten, von Fragen, von meinem Körper. Zu diesem Prozess wird man als Zuschauer*in eingeladen. Eine Zerlegung fragiler Zustände.
oracle and sacrifice
ist der beginn einer serie
die sich mit zwei unterschiedlichen grammatiken auseinandersetzt
grammatiken eines möglichen weltzusammenhangs
eine spekulation des immateriellen und imaginären raums der kunst
grammatiken der poetischen voraussage und der opferung
es sind lesevorgänge die zusammgenhänge in der zeit eröffnen
lesen in organen wolken dem flug der vögel
der intimität der opferung
der tötung
als anerkennung eines fremden nicht begreifbaren
es sind momentane spekulationen
poetische verfahren in der zeit
die transformieren und das innere zum äußeren machen
wie auch das äußere zum inneren
ein zusammenhang ein gefüge eine abhängigkeit
ein satz im raum und in der zeit
eine unordnung eine ordnung
imaginationen ins unwahrscheinliche
Claudia Bosse
Link: http://www.theatercombinat.com/projekte/oraclesacrifice/os1.htm
https://tqw.at/event/oracle-and-sacrifice-1-bosse/