Der Wiener Bürgermeister Ludwig betritt die große Bühne des Arkadenhofs im Rathaus mit der Gewissheit eines Mannes, der das Richtige tut. Die Corona-Krise hat Gesellschaft und Wirtschaft eingesperrt und schrumpfen lassen und gerade auch die Kulturszene hart getroffen. Deshalb wurde im Mai 2020 eiligst ein Board zusammengetrommelt, das den letztjährigen Kultursommer in einem enormen Kraftakt innerhalb weniger Wochen aus dem Boden stampfte. Der Bevölkerung Wiens zur Freude, den Künstler*innen auch zur Unterstützung. Das Virus blieb und schlug im Herbst noch härter zu. Ein zweiter Kultursommer ist damit durchaus folgerichtig. Für sechs Millionen Euro lädt die Stadt nun auf 40 Plätzen an 40 Tagen zu 1000 Acts, mit 2000 beteiligten Künstler*innen von Klassik und Pop über Literatur und Theater bis hin zu Clubbings unter der Donaustadtbrücke.
Das Programm eines hocherfahrenen Kurator*innenteams ist sicherlich gut, wenn auch beim Drüberbrowsen recht frei von Überraschungen. (Eine lobende Erwähnung: Die Konzerte vor den »Häusern zum Leben«, also vor Altersheimen, sind eine wirklich nette Idee, die den Bewohner*innen im letzten Jahr sehr gut gefiel …) Die gewisse Vorhersehbarkeit des Line-ups ist auch dem Konzept geschuldet, dass laut Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler bewusst »Kraut und Rüben« sei, denn es ginge nicht um das »Ego eines Kurators oder einer Kuratorin«, sondern darum den kulturellen Reichtum der Stadt zu zeigen. Es ist eine dieser seltsamen Pointen der Geschichte, dass die Eindämmungsmaßnahmen gegen das Coronavirus seuchentechnisch genau das verlangen, was die Stadt Wien seit Jahren vornehmlich fördern will: ortsansässige Kunst. Eine strategische Entscheidung, die zugleich richtig und falsch ist, weil sie Wien zwar stärkt, die Stadt aber auch auf den Selbstbezug festnageln könnte.
Seid umschlungen, Millionen!
Es geht aber auch um den Inhalt. Kunst hat bekanntlich eine Message und die buchstabiert Bürgermeister Ludwig gerne einmal paradigmatisch anhand des Eröffnungskonzertes vor dem Rathaus am 3. Juli 2021 aus. Es wird Beethovens »Neunte« gegeben und damit dessen Verarbeitung der Erfahrung der französischen Revolution. Das alte Griechenland, Größe, Erhabenheit, Hoffnung auf neues, besseres Leben etc. – wie bekannt. Autor der Textvorlage war ein gewisser Schiller, dessen Worte 2021 etwas abgestanden wirken und die deshalb durch Neudichtungen von 15 Autor*innen aus 15 Ländern ersetzt werden. Die neue Hymne wird dann wiederum von Kinderchören aus ebenso vielen Ländern vorgetragen. Beziehungsreicher geht kaum und die Idee ist so lieb, dass man ein anerkennendes Zwickerbussi an alle Beteiligten austeilen möchte.
Wir lernen, was einst öde Ode des einzelnen Genies war, wird ersetzt durch demokratische Teilhabe. Das ist auch richtig so. Genauso wie das Bemühen, ein Abbild der Stadt auf die Bühne zu hieven, in dem auch ein anti-kapitalistischer Klimastreik-Sound die Bässe wummern lassen darf und natürlich nach Kräften auf Diversität geachtet wird. Der etwas unschöne Beigeschmack liegt aber im Zweck und der nicht zu übersehenden Autorenschaft. Es ist nie ganz klar, ob die Bevölkerungsbelustigung nicht auch schon wieder Wahlkampfvorbereitung ist. Weil nämlich weder Sozialdemokratie noch Stadtverwaltung dem revolutionären Impuls (siehe Beethoven/Schiller) folgen können oder gar wollen, wird historisiert und possierlich gemacht, was potenziell Sprengkraft hat, hätte, gehabt hat oder einmal haben könnte (je nachdem).
Also bleibt unterm Strich: Wir sind eine (vergleichsweise) bunte Welt in Wien, wir wollen hier miteinander klarkommen und uns in der Krise über Wasser halten. Ist doch logisch, oder? Wo aber Kunst weder erhabener (?) Selbstzweck ist, sofern es so etwas überhaupt gibt, noch Agit-Prop für das neue und nie dagewesen Lebens sein kann und darf, wird der Hof für die Touristiker*innen und die Banken gemacht. Die sorgen sich ganz selbstverständlich um die »Kulturregion« und die Nächtigungszahlen, wie sie auch sogleich auf der Pressekonferenz im Rathaus bekunden. Die Wirtschaft muss halt wieder zum Brummen gebracht werden. Und plötzlich zeigt sich augenscheinlich, was sich am besten mit den (leicht abgewandelten) Worten Getrude Steins sagen lässt: »Ein Kultursommer ist ein Kultursommer ist ein Kultursommer.« Ob in Wien oder Gars am Kamp.
Eines noch …
Alles was man tut, hat bekanntlich seinen gewollten oder ungewollten politischen Inhalt. Und da kocht gerade wieder eine Diskussion hoch. Das Bemühen des »roten Rathauses« mit dem Kultursommer ist unverkennbar auch ein (etwas halbherziges) Bekenntnis zur Vielfalt der Kulturen der Stadt. Die SPÖ hätte es nicht deutlicher und schlechter fassen können als mit dem Wahlspruch »Integration vor Zuzug«, der natürlich eine tiefe Verbeugung vor den Rechten im Lande ist. Dennoch, man möchte offenkundig den »Fremden« eine Chance geben und man will, dass sie Teil der Stadt sind. Deshalb wurde erneut eine Diskussion über die Staatsbürgerschaft von SPÖ (und auch Grünen) angestoßen. Die ÖVP sieht ihre Chance gekommen und heult sogleich mit völlig falschen und übertriebenen Zahlen los. Die türkise »Familie« befürchtet eine neue (gefährliche?) »Wählerschaft« und »Masseneinbürgerung« und stoppt nur kurz vor dem Schlagwort der »Überfremdung«. In Momenten wie diesem möchte man es sich auf dem geräumigen Schoß von Bürgermeister Michael Ludwig bequem machen, sich ein Eis spendieren lassen und sich denken: Die liebe Göttin mag eine gute Frau sein, die Stadt Wien ist eh super und die anderen haben eben einfach ein Rad ab. »Wien, dreh bitte auf!«