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The Caretaker

»Everywhere At The End Of Time – Stage 4«

History Always Favours The Winners

Nichts ist einschneidender als der mentale Zerfall. Die Störung des Gedächtnisses, der Verlust des Bewusstseins und die voranschreitende Auflösung der eigenen Persönlichkeit – das Leben wird zu einem fragmentarischen Bruchstück der Vergangenheit. »Der Vorteil des schlechten Gedächtnisses«, so schrieb Friedrich Nietzsche einst, »ist, dass man dieselben guten Dinge mehrere Male zum ersten Mal genießt.« Natürlich lässt sich diese Beobachtung aber genauso gut in die entgegengesetzte Richtung auslegen. Dieselbe schlechte Nachricht, dasselbe schlechte Ding wird immer und immer wieder erlebt. Gefangen im Schwellenzustand, unweigerlich verwunschen, ja verflucht, ohne es jemals mehr zu merken. Vergeht die Trauer über den Tod eines Menschen, wenn man jeden Tag aufs Neue davon erfährt?

The Caretaker ist seit jeher jenes Projekt, mit dem James Leyland Kirby eben diese Fragen und Beobachtungen entgegnet. Vor Kurzem erschien der vierte von sechs geplanten Teilen des Projekts »Everywhere At The End Of Time«. Um diese vierte Stufe zu verstehen, um sie in ihrer umfassenden Bedeutung und Prozesshaftigkeit würdigen und einordnen zu können, sollte man über die vorangegangenen, allesamt auf Kirbys Label History Always Favours The Winners herausgebrachten Veröffentlichungen aufgeklärt sein. The Caretaker dreht sich thematisch jedenfalls um den geistigen Verfall und die zeitliche Ausdehnung, die mit dem zunehmenden Verlauf der Demenz einhergeht. Im Ursprung ist das Projekt – nicht nur namentlich – an Stanley Kubricks Film »The Shining« und dessen Protagonisten angelehnt. Die unweigerliche Flucht in die Nostalgie, in eine Vergangenheit, die so nie stattgefunden hat und doch leidlich vermisst wird, gilt als das zentrale Thema der ersten drei Stufen und bietet somit Anhaltspunkte, wo derlei langsam zu verschwimmen droht. Man durchläuft die symptomatischen Ausprägungen der unterschiedlichen Stadien der Dementia, spürt die einst hell ausgeleuchteten und klar erscheinenden Erinnerungen verblassen, bis sie schließlich zaghaft zerlaufen und sich in eine endlose Unkenntlichkeit aufzulösen beginnen.

Dieses Stadium ist spätestens mit dem vierten Teil des Projekts erreicht. Dort, wo noch vereinzelte Spuren der Reminiszenz ersichtlich waren, ist jetzt Rauschen. Manchmal blitzen Teile von deformierten Erinnerungen in diesem ewigen Rauschen auf, sie überlagern sich, verschwinden, aber nichts bleibt mehr. Es entsteht eine Leere, die so schwebend und uferlos ist, dass man, einmal die Orientierung verloren, nicht wieder zurückzufinden imstande ist, selbst wenn dieses »zurück« nichts anderes bedeutet als die Fähigkeit zur Erinnerung an eine verloschene Vergangenheit. Wir erleben den Verfall, aber wir wissen nicht, ob dieser Verfall noch erlebt wird. Was bleibt von der Erinnerung, wenn nur noch ihre Idee besteht? Wenn selbst die Idee nur noch die Essenz ihres ehemaligen Seins ausmacht? Der Körper expandiert und löst sich auf. Das ist gespenstisch, weil man nicht mehr weiß, dass man weiß, dass da etwas war, wo jetzt nichts mehr ist.

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