75 Jahre danach ist offenbar Zeit für ein Seiterl: »Seit dem Zweiten Weltkrieg« wird zur Phrase einer Neubestimmung von Demokratie als National-Folklore. Ist es ein subtiler Hinweis darauf, dass für das große austropatriotische Wir auf die öffentlichen Viren die geöffneten Wirten folgen sollen, wenn der Bundeskanzler seinen Sinn für Bier in Zeiten der Corona-Demokratie auf eigentümliche Weise, aber sehr grundsätzlich betont? Die Verbindung zwischen zweierlei Corona stellt dabei nicht eine Marke her, sondern Sebastian Kurz höchstselbst als oberster durchgriffsermächtigter Marken- und Brauchtumspfleger der Nation.
Die Phrase »Seit dem Zweiten Weltkrieg« war seit März 2020 häufiger als sonst zu hören, zumal aus den Reihen der Bundesregierung, oft in Verbindung mit dem Allzweckwort »Herausforderung«: Die Corona-Krise sei »die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg«. Die Kriegsreferenz als Epochenmarker und das neoliberale Wording, das an Konkurrenzkämpfe erinnert, zu denen man »herausgefordert« wird (und die man als Pandemiemaßnahmenklassenbester besteht): Beides ist ein Leerwort – und gerade als solches grundlegend. Beides ist Teil von sprachlichem Brauchtum, das – wie hier gezeigt werden soll – ein folkloristisches Verständnis des Zweiten Weltkriegs bezeugt. Und insofern demokratiepolitisch problematisch.
Die »Vielgeprüften« vor neuen Herausforderungen
Zum 75. Jahrestag seines Endes – in Europa datiert mit der Kapitulation Nazi-Deutschlands am 8. Mai 1945 – wird der Zweite Weltkrieg Corona-bedingt weltweit anders erinnert, wohl viel weniger und quasi »weniger primär«, als das bis Februar zu erwarten gewesen wäre. Zugleich führt die Regierung vom Kanzler abwärts den Bezug auf diesen Krieg im Mund, eben als Gradmesser für eine Herausforderung. Deren Anmutung strahlt unweigerlich auf den Zweiten Weltkrieg ab: Implizit erscheint dadurch auch dieser Krieg als eine Herausforderung, die »die Österreicherinnen und Österreicher« gemeistert haben (und war nicht auch damals Europa tief beeindruckt?), als etwas, das ihnen zugestoßen ist. Dass Österreichs Bevölkerung größtenteils als Teil des Nazi-Staats und seiner Gewaltapparate an einem Angriffskriegs- und Massenmordprojekt beteiligt war, das am 8. Mai 1945 sehr spät aber doch beendet werden konnte, ist so aus dem Blickfeld entfernt. Und zwar eleganter, als es jede Artikulation des nationalen Gründungsmythos von »Österreich als Hitlers erstes Opfer« je gekonnt hat.
Das Leerwort entleert den Zweiten Weltkrieg: Er enthält nun weder Nationalsozialismus und dessen Gewalt noch Täterschaft; er ist eine der historischen Herausforderungen des – so die Bundeshymne – »vielgeprüften Österreich«. Das Leerwort ist als Folklore grundlegend, wie das Abspielen der Bundes-Zweithymne, Rainhard Fendrichs »I Am From Austria«, aus Wohnbauten und Polizeiautos in den ersten Tagen der Luftschutzverdunkelung, pardon, Ausgangsbeschränkung. Das Faktum, »aus Österreich« zu sein, ist an sich trivial (weil hier weit verbreitet); wird aber so oft und so polizeilich darauf hingewiesen, dann erhält die Ansage ihren emphatischen Sinn: als Einforderung volksgemeinschaftlicher Zugehörigkeit, die impliziert, dass da auch welche nicht dazugehören könnten. Dies in einem Land, dessen Kanzler beharrlich die ohne AUT (für Autriche bzw. Autoritäre Regierung) im Reisepass im Land Lebenden nicht mit anspricht. Für ein national eng gefasstes Verständnis von Volk – wie es hierzulande schon in Extremform bestanden hat und sich derzeit wieder verfestigt – ist solche Bekräftigungsfolklore, die eine Ausschlussmarkierung mit artikuliert, grundlegend: Sie gibt Grund, sie definiert, begrenzt eine Welt.
Der »gerechte Krieg« ist »just war«?
Auch im Weltkrieg steckt ein Weltbild. Wie wurde und wird der Zweite Weltkrieg – und der lange Zeit in ihn »eingekapselte« Nazi-Holocaust – jeweils gesehen (bzw. übersehen)? Was heißt da Welt, was Krieg? Das unterliegt dem Wandel grundlegender Geschichtsbilder. Ablesbar an populären Inszenierungen von Public History (Filmen, Fernsehproduktionen, auch Romanen etc.), hat jede Zeit nach 1945, zugespitzt gesagt, »ihren« Zweiten Weltkrieg (auch als Folie für Geschichtsdeutungskonflikte): Schematisch dargestellt, sind Welt und Krieg zunächst vorrangig geopolitisch gefasst; um 1960 dann als eine von (Kriegs-)Technik geformte Welt; später als eine Welt der Klassen- und Generationskonflikte. Um 2000 wurde der Holocaust zur Leitkategorie einer Sicht auf Krieg, Welt und Geschichte, in der als primäre Erfahrungsträger Opfer und Retter fungieren; zeitgleich wurde im Westen, vielfach unter Berufung auf den Zweiten Weltkrieg, Krieg im Zeichen von »just war« neu definiert – Krieg als etwas, das ein in sich gerechtes Projekt sein solle: Rettung vor Genozid und »Export« von Gerechtigkeit (Demokratie). Die Popversion dieses Kriegsverständnisses im Spiegel der (späten) Rettung von mit Vernichtung Bedrohten war Steven Spielbergs Film über die Rettung des Soldaten Ryan, in dem Rettung als das intendierte Zentralprojekt der US-Intervention in Europa 1942–1945 erscheint. Illustrativ auch, dass das US-Militär seinen quasi-metaphysisch als Endloskampf gegen das Böse in der Welt angelegten Anti-Terror-Interventionskrieg nach 9/11 anfangs Operation Infinite Justice nannte.
Vom »just war« ist heute, in post-interventionistischen Zeiten, vor allem die Nebenbedeutung geblieben, er sei »just war« – bloß Krieg – und davon ganz wenig, kaum mehr als eine Polizeiaktion zur Rechtsdurchsetzung. Militär dient in diesem Sinn wesentlich der Flüchtlingsbekämpfung an zu schützenden Staats- bzw. EU-Grenzen. Sicherheit ist die Leitkategorie heutiger Kriegsverständnisse – auch für das als Katastrophenhilfs- und Grenzstreiftruppe genutzte Bundesheer – und Schutz das Mantra von Türkis-Grün; und zwar schon vor Corona, aber nun noch mehr. Die Welt schrumpft; die Herausforderung ist eine Hineinforderung – eine Aufforderung, in der Wohnung, im Schulterschluss, urlaubend im Land zu bleiben.
Demokratie braucht nichts als Brauchtumsschutz
Dem entspricht ein Geschichtsbild, in dem der Zweite Weltkrieg als Gradmesser dessen, was heute Not tut, primär die Frage nach Schutz von zu bewahrendem Gut aufwirft. Zumal von Brauchtumsgut: Auf dieser Linie wurde der 13. April 1945, der Tag der (militärisch abgeschlossenen) Befreiung Wiens durch die Rote Armee – ein Datum, das neben dem 27. April 1945 in den Nachkriegsjahren mit als Kandidat auf ein Nationalfeiertagsdatum in Vorschlag war – 2020 im ORF als Tag des Brandes des Stephansdoms ins Gedächtnis gerufen und dann mit einer Doku gefeiert: Am Ostermontag vernahm das Land die Botschaft des Evangeliums als Kulturaufruf zu Fleischverzehr und Besuchskulturverzicht und der ORF gedachte in Newsbeiträgen und einer Experten- und Reenactment-Doku, mit der auf ORF3 die Sendungen zu 75 Jahre Kriegsende begannen, der Vernichtung und der Schuldfrage – allerdings anhand der Brandakte Stephansdom. Austro-Folklore deluxe. 1945 als Befreiung kam darin nicht vor.
Befreiung vom Corona-Joch ist Chefsache. Kanzler Kurz sagt, er habe »ganz andere Sorgen« – wohl andere als Niederlagen alter Nazis, dezidiert andere als neue Erfolge seines EVP-Parteifreundes Viktor Orbán im nationalautoritär ermächtigten Regieren ohne Parlament. Seit dem Zweiten Weltkrieg – eine Frage der Zeit. »Ich habe ehrlich gesagt jetzt nicht die Zeit, mich mit Ungarn auseinanderzusetzen«, sagte Kurz im Primetime-ORF-Interview am 30. März auf die Frage Hans Bürgers, wie er Orbáns Diktatur light einschätze. Und dann holte der Kanzler ungefragt zu einer genuin folkloristischen Demokratiedefinition aus: »Unser Plan für Österreich« sei »weder die Demokratie auszuhebeln noch Menschen in ihren Rechten zu beschneiden, sondern wir wollen, dass jeder wieder das Leben führen kann, das er gern führen möchte. Ich glaub’, wir Österreicherinnen und Österreicher, wir lieben das Leben so wie wir’s kennen, wo man sich treffen kann, wo man auf ein Bier gehen kann, wo man Sport im Freien machen kann, grad jetzt, wenn das schöne Wetter kommt, das ist doch das, was wir alle genießen, egal ob am Land oder in der Stadt. Und wir sind alle froh, in einer Demokratie zu leben.«
Sind wir also froh! Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für Punkt und Beistrich in Grundrechtsfragen: Jetzt muss durchgegriffen werden, denn es geht ums Leben – und zwar wie wir’s kennen, also um Brauchtumsschutz. Und Demokratie heißt: auf ein Bier gehen können. (War nicht Hitler Antialkoholiker? Eben.) Das ist eine Definition von Grundgesetzformat, kurz nach einer Verfassungsjuristin als Amtsvorgängerin, 75 Jahre seit dem Steffl-Brand. Das Krügerl des Menschen ist unantastbar (auch wenn das Kontaktdistanz-Reinheitsgebot wieder aufgehoben wird). Darauf ein Bierlein, ein Seiterl mit Prost – bis zum Brand am Tag danach – auf die endgültige Befreiung vom Beistrich. Punkt.
P.S.: Drehli Robnik wäre übrigens am 30. April 2020 (Walpurgisnacht) im leider abgesagten Salon skug an den Plattentellern gestanden. Wir erinnern uns trotzdem an seinen furiosen Auftritt, als wäre er so geschehen, wie er uns am besten gefällt, und holen ihn baldmöglich in der Realität nach. Ferner ist Drehli Robnik Essayist und Gelegenheitskritiker in Sachen Film, Politik und Geschichte, archiv- und musikbasierter Edutainer, Autor von Büchern zu Siegfried Kracauer, Jacques Rancière und »Kontrollhorrorkino«. Demnächst erscheint von ihm »AnstecKKino. Eine politische Philosophie und Geschichte des Pandemie-Spielfilms von 1919 bis Covid-19« (neofelis Verlag Berlin, Juni 2020). Außerdem hat er eine Vortragsveranstaltung zum Thema fertig konzipiert, die am 7. Mai 2020 und somit einen Tag vor dem Jubiläum der Befreiung stattgefunden hätte, aber abgesagt werden musste. Ein Ersatztermin folgt. (Also, für die Veranstaltung, nicht für die Befreiung.) Näheres unter den »Upcoming Talks« auf https://independent.academia.edu/DrehliRobnik