© Fritz Bauer Institut
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Rückfall in die Holocaust-Zeit

Psychiatrische Diagnosen für durch die Shoah entstandene psychische Schäden änderten sich stark. Früher »psychovegetativer Erschöpfungszustand« genannt, ist nun von »posttraumatischer Belastungsstörung« die Rede. Psychiater Wolfgang Sperling über seine Gutachtertätigkeit für KZ-Überlebende.

»Man wertet nur die Akten aus«, winkt der Vortragende ab, »man sieht die betroffenen Menschen nicht selber.« Sehr jung schaut dieser deutsche Psychiater von der universitären Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Erlangen aus, der bereits um die 1.200 Gutachten zu vom Holocaust betroffenen Menschen erstellte. Es geht um die psychischen Langzeitschäden durch den Holocaust. Professor Dr. Wolfgang Sperling schrieb für Menschen aus der ganzen Welt Gutachten zur »verfolgungsbedingten Minderung der Erwerbstätigkeit« durch das deutsche Amt für Wiedergutmachung. Für Überlebende von Konzentrationslagern – wie er in einem Vortrag für das Frankfurter Fritz Bauer Institut erklärte: »Sie haben über Jahre zwischen Leben und Tod gelebt. Sie haben sich bemüht, sich am Leben zu halten.«

Der Psychiater spricht sehr viel von notwendigen »Reklassifizierungen« der alten Gutachten von Betroffenen, denn die Psychiatrie hat sich ja über die Jahrzehnte seit 1945 enorm weiterentwickelt, Diagnosen heißen heute anders als früher. Trotzdem scheint die Psychiatrie gewissen Forschungsrichtungen immer noch zeitlich hinterherzuhinken. Damals stand in den Gutachten häufig »psychovegetativer Erschöpfungszustand«. Heute heißt es in 50 Prozent der Gutachten »posttraumatische Belastungsstörung«, die nach »existenziell lebensbedrohlicher Gewalt« auftritt. Wobei es mittlerweile um die 4.000 Publikationen zu posttraumatischer Belastungsstörung bei Holocaust-Opfern gebe. (Anm.: Entwickelt für Vietnam-Rückkehrer, übernahmen Feministinnen die »posttraumatische Belastungsstörung« für von sexualisierter Gewalt getroffene Opfer.)

Kumulatives Dauertrauma

Im Alter käme es häufig zu einem »Rückfall« in die Holocaust-Zeit. Sperling: »Es kann passieren, dass die Person dann nur noch in Holocaust-Nähe lebt.« Der Professor meint, das hänge damit zusammen, dass man im Alter psychische Sachen nicht mehr so verarbeiten könne. Somatische Beschwerden nähmen auch enorm zu. (Anm.: In der Extrem-Traumata-Forschung heißt es hingegen, dass man im Alter nicht mehr die Energie zur Verdrängung aufbringen könne, dass lebenslang Verdrängtes daher stark an die Oberfläche zurückkäme.) Es käme laut Sperling zu Schuldgefühlen, Erstarrung, einem »Dauertrauma«, einem »kumulativen Trauma«, zu dissoziativen Episoden und manchmal leider auch zur »Viktimisierung anderer Personen«. Im Alter hätte KZ-Überlebende daher seiner Erfahrung nach zu 91 Prozent eine chronische »posttraumatische Belastungsstörung«, manche mit psychotischer Störung. So genannte »Angststörungen« seien viermal so hoch, aber die Zahlen an Altersdepressionen und Demenz seien nicht so unterschiedlich zu anderen Menschen. Zusätzlich käme es zu einer Weitergabe oder Übertragung auf die Nachkommen, die mit 31 Prozent ebenfalls eine »posttraumatische Belastungsstörung« entwickeln würden (bei nicht direkt vom Holocaust Betroffenen 19 Prozent). »Man kann sich dem nicht entziehen«, meint der Psychiater.

Geräusche hören

Zur allgemeinen Lage der Child Survivors ist zu beachten, dass überhaupt nur 11 Prozent der Kinder im Konzentrationslager überlebten! 1,5 Millionen Kinder wurden in Konzentrationslagern ermordet. Die Kategorien der gutachterlichen Untersuchung hören sich schrecklich an: Konzentrationslager mit Verlust der Eltern oder ohne, Konzentrationslager mit Infektion … aber auch: Konzentrationslager mit Flucht. »Das waren gar nicht so wenige!«, freut man sich als Zuhörerin mit dem Psychiater. Betroffene Child Survivors halten ein Leben lang im Beruf gut durch, strengen sich sehr an, »verfolgen die Strategie der Monofokussierung auf den Beruf, um andere Gedanken klein zu halten«. Aber dann, »wenn der Beruf wegbricht, kehrt der Holocaust zurück«. Manche entwickelten sogar ab 60 Jahren eine Schizophrenie mit Stimmen- und Geräusche-Hören – »zum Beispiel das Marschieren der Gestapo-Stiefel«. Insgesamt gebe es weltweit noch 160.000 lebende Konzentrationslager-Überlebende, um deren »Leidenserfahrung« (Sperling) sich zum Beispiel in Israel die Therapeut*innen der Organisation AMCHA kümmern, mit 15 Zentren.

Zur Frage eines Zuhörers nach den Selbstmorden von Überlebenden, zu den Selbstschädigungen von »Borderlinern«, meint der Psychiater, dass bei den von Depression Betroffenen die Suizidrate erhöht sei. Heutzutage würde eine »komplexe posttraumatische Belastungsstörung« oft in Richtung »Borderline« gehen: »Das neue Klassifikationssystem ICD 11, als Nachfolge von ICD-10, stellt den Zusammenhang zwischen posttraumatischer Belastungsstörung und emotional instabiler Persönlichkeit her.« Eine Zuhörerin fragt nach dem konstatierten sozialen Vermeidungsverhalten von Betroffenen, das oft über Generationen weitergegeben wird. Sperling: »Im Beruf funktioniert man, aber danach tauchen seltsame Krankheiten auf. Als Psychiater fragt man aber oft nicht, was haben Sie für eine Oma? Also sollte man sich die Familienbiografie genauer ansehen und ins Gespräch kommen.« Professor Sperling aus Erlangen mit seinen über 1.200 Gutachten für Überlebende von Konzentrationslagern ist aber sehr dafür zu fragen. Ein wichtiges Ergebnis.

Link: https://www.fritz-bauer-institut.de/

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