© Volodymyr
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»Ohne Krieg bin ich Pazifist«

Österreich könnte Container für die Obdachlosen der Kyjiwer Vorstädte spendieren, meint der Ukrainer Volodymyr, der ziviler Helfer in Butscha war. 14.000 Häuser allein in seiner Gegend seien zerstört. Um medizinische Geräte und humanitäre Hilfe zu besorgen, durfte er Österreich besuchen.

Durch Vermittlung von ukrainischen Bekannten entstand dieses Interview mit einem »ganz normalen Mann«, der kein Soldat sein möchte, aber als ziviler Helfer seine Mitmenschen unterstützen will. Es wurde extra nicht genauer zu Butscha gefragt. Drei Kilometer vor seiner Wohnanlage wurden die russischen Soldaten gestoppt.

skug: Wie erklären Sie sich, dass die Ukraine den Aggressionen der russischen Regierung halbwegs standhalten konnte, während tschetschenische Flüchtlinge vor 20 Jahren dermaßen im Schock waren, als die russische Regierung das tschetschenische Gebiet angriff?

Volodymyr: Das tschetschenische Land ist viel kleiner, es gibt nur 1,4 Millionen Tschetschenen auf der Welt – wir hingegen sind fast 44 Millionen Menschen. Eine große Menge an Tataren, die auch muslimisch sind, sind 2014 von der Krim nach Kyjiw geflohen – ich habe viel mit ihnen zu tun. In Tschetschenien zerstörte die Russische Föderation damals, Ende der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre, etwa ein Viertel des Territoriums und tötete Zehntausende Tschetschenen, darunter Frauen und Kinder, unter dem Deckmantel der »Bekämpfung des Terrorismus«. Tschetschenen haben starke Familienbande, helfen einander. Sie machen meiner Erfahrung nach keine Konversation, sondern reden nur, wenn man etwas tun kann. Sie sind es gewöhnt, ihre Probleme selber zu lösen. Die Ukraine hatte nach dem Ende der UdSSR bessere Chancen als Tschetschenien. Wir haben viel Getreide und Energie, den Zugang zum Meer – bessere Ressourcen.

Hätten Sie gedacht, dass die russische Regierung wirklich Militär schickt?

Amerika hatte uns gewarnt. Präsident Biden hat von Anfang gesagt, dass wir uns vorbereiten müssen. Wir sind keine militarisierte Gesellschaft. Mein Opa war Teil der Armee der UdSSR, die gegen die Nazis kämpfte. Ich weiß aber nicht, wie weit er nach Europa hineingekommen ist. Mein Großvater war in der sowjetischen Armee, aber ich bin eigentlich ein Pazifist. Ohne Krieg bin ich ein Pazifist! In den ersten Tagen des Krieges konnten sich die meisten unserer Leute nicht vorstellen und haben nicht erwartet, dass sie kämpfen werden. Am Anfang verfügten wir über überhaupt keine Waffen und als russische Kolonnen im Gebiet von Kyjiw auftauchten, konnten wir nichts tun. Alle sagten, dass die russische Armee die zweitbeste der Welt sei. Wir sind ganz normale Menschen, wir haben uns nicht vorbereitet. Außerdem sagte Putin am ersten Tag des Krieges sinngemäß an andere Länder gerichtet, wenn ihr der Ukraine helft, werdet ihr etwas erleben, was ihr bisher nie gesehen habt. Die erste russische Kolonne startete von Weißrussland aus, obwohl Präsident Lukaschenko in einem Interview gesagt hatte, er würde nie einen Angriff auf die Ukraine von seinem Territorium aus zulassen. Die russische Regierung hatte in Weißrussland Militär geschult, offiziell redeten sie von Schulungen, nicht von Kämpfen, und dann kamen sie plötzlich über die Grenze …

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Wo sehen Sie persönlich die Ursachen für den Angriff auf die Ukraine?

Ich denke, es geht Putin um unsere Ressourcen. Schon bei der Halbinsel Krim und dem Donbass ging es um Gebiete mit viel Erdgas und Steinkohle. Wir haben alles. Außerdem dachte Putin, dass er ein Imperator sei und uns in drei Tagen erobern könne. Sein Ziel ist ebenfalls die Russifizierung unseres Gebietes – in den von Russland eroberten Gebieten haben die Kinder nun sogar russische Schulbücher.

Sie leben in einer Vorstadt von Kyjiw und brachten als ziviler Helfer Lebensmittel in das leider auf so traurige Weise berühmt gewordene Butscha. Wie kann man sich diese Vorstädte vorstellen?

In der Ukraine ist das Lebensniveau viel niedriger als in Österreich. In den Vorstädten sind die Wohnungen einfach günstiger und es ist sehr grün, es gibt Wald. Es ist ruhig, weit von der Stadt. Wir haben sehr viele Kinder in unserer Wohnanlage. Viele haben einen Kredit für ihre Wohnung aufgenommen.

Kam das russische Militär bis in Ihre Vorstadt?

Sie haben drei Kilometer nicht geschafft! Wir haben Glück gehabt. Im Gebiet von Kyjiw gibt es sehr viele Zerstörungen. Drei Kilometer vor uns wurden sie gestoppt. Allein in unserem Gebiet sind 14.000 Häuser zerstört. Polen stellte schöne Container für die Obdachlosen hin, aber leider zu wenige. Jetzt kommt der Winter! In Österreich gibt es sogar eine Modellstadt für Container. Container könnte die österreichische Regierung noch bringen! Das wäre eine große Hilfe für uns.

Sie haben Essen nach Butscha gebracht, als dort die Ermordeten entdeckt wurden. Wie geht es Ihnen inzwischen emotional?

Vielleicht kommen meine Gefühle später heraus. Momentan möchte ich stark sein. Ich habe diese Änderungen in mir selbst nicht erwartet. Früher habe ich das nicht von mir gewusst, aber jetzt habe ich so ein Gefühl, wenn das russische Militär in die Ukraine kommt, dass es zerstört werden sollte. Denn die Soldaten können immer nein sagen und nicht zu uns fahren. Sie können sagen, dass sie nicht kämpfen und ihre Waffen bei uns abgeben. Mein Land muss stark sein, damit keiner zu uns kommt – es wäre gut, wenn Länder sich gegenseitig unterstützen. Wahrscheinlich hat Österreich seine Gründe, ein neutrales Land zu sein … Auf jeden Fall bin ich persönlich sehr dankbar für die Unterstützung der Ukrainer*innen und ihrer Kinder und all die guten Dinge, die Österreich für die Ukraine tut. Ich weiß auch, dass Österreich einige der besten Wohncontainer der Welt herstellt. Es wäre schön, wenn Österreich einige Container zur Verfügung stellen würde, damit die vorübergehend obdachlosen Bewohner*innen der Region Kyjiw den Winter in Wärme verbringen können.

© Volodymyr

Home / Kultur / Thinkable

Text
Kerstin Kellermann

Veröffentlichung
28.09.2022

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