Menschen im Eisbärkostüm stehen aneinandergereiht. Von Eisschollen oder deren Fragmenten ist keine Spur zu sehen. Stahlrohre liegen unverschweißt einzeln übereinandergeschlichtet. Deren bisheriger wie künftiger Zweck bleibt offen. Mit diesen Bildern kündigt das Theater am Werk seinen Schwerpunkt zum zweiten Jahrestags des russischen Überfalls auf die Ukraine an, der am 23. und 24. Februar 2024 mit gleich zwei Premieren an beiden Standorten startet: »Im Menschen muss alles herrlich sein« unter der Regie von Mirja Biel nach dem gleichnamigen Roman von Sasha Marianna Salzmann im Kabelwerk sowie die Uraufführung »PEACES (Fragments of Love)« unter der Regie von Volker Schmidt am Petersplatz. Beide Stücke vereint die Beschäftigung mit den zwischenmenschlichen Konsequenzen von Krieg und dem Zerfall gewohnter Habitate und Imperien. skug konnte mitten im Endspurt der Proben ein Gespräch mit beiden Regisseur*innen führen.
skug: Inwiefern lassen sich eure Stücke als dokumentarisches Theater verstehen, als Versuche, gesellschaftspolitische Umbruchsituationen anhand von Einzelschicksalen zu veranschaulichen. Welche Überlegungen waren bei der Erarbeitung der Stücke zentral?
Mirja Biel: Mit »Im Menschen muss alles herrlich sein« habe ich einen Roman, also einen fiktiven Text als Arbeitsgrundlage. Sasha Marianna Salzmann orientiert sich bei den geschriebenen Figuren an vielen unterschiedlichen Geschichten, die in die Figuren hineinspielen. Da es sich um keinen dialoglastigen Roman handelt, ist auch die Fassung erzählend und sind Situationen nur anzitiert. Im Zuge der Erarbeitung haben wir uns viel mit Spielweise und Erzählform beschäftigt und versuchen, möglichst nicht zu illustrieren.
Aber es gibt doch auch Original-Filmmaterial aus der Ukraine?
Mirja Biel: Das Filmmaterial ist aus der Gegenwart, es stammt von einem ukrainischen Filmemacher aus Kyiv.
Volker Schmidt: Bei unserem Stück »PEACES (Fragments of Love)« sind ganz konkrete Personen auf der Bühne, die auch selbst Schauspielerinnen sind. Das war ein interessanter Aspekt, denn es hat uns spezielle Möglichkeiten gegeben, wie man mit dem eigenen autobiografischen Material umgeht. Wir sind ganz schnell auch immer zu den Fragen gekommen: Was ist überhaupt darstellbar? Was lässt sich erzählen? Wie kann man Sachen reproduzieren? Das heißt, es geht auch ganz viel um die Mittel des Theaters an sich. Es ist mein erstes richtiges Dokumentartheaterstück. Ich habe zwar auch davor immer schon mit wahren Geschichten gearbeitet. Die Grenze zwischen Theater und Realität hat mich total interessiert. Inwieweit lässt sich die Realität theatraler machen? Wie lässt sich das Theater ganz nahe an die Realität führen? Es gilt, die Funktionsweisen der Narrative zu schärfen. Wir bewegen uns im Stück »PEACES (Fragments of Love)« über die beiden Freundinnen aus der Ukraine und Russland im Kontext des gegenwärtigen Angriffskrieges. Wir müssen deshalb auch ständig auf politische Ereignisse, aber auch auf Ereignisse innerhalb der Beziehung der beiden und dann auch auf Ereignisse in der Entwicklung des Stückes – also auf drei Ebenen – reagieren.
Mirja Biel: Deine Schauspielerinnen erzählen ihre authentischen Geschichten?
Volker Schmidt: Ja.
Welche Schritte hast du bei der Stückentwicklung vorgenommen?
Volker Schmidt: Der erste Schritt waren Gespräche, und mit dem Einverständnis der Schauspielerinnen haben wir die Zoom-Calls aufgezeichnet. Dieses sechsstündige Footage, wie auch Instagram-Footage, galt es zu filtern, das war eine essenzielle Aufgabe. Es stellt sich die Frage, wie repräsentieren wir die Geschichte nach außen?
Mirja Biel: Ich hatte mit einer Romanvorlage ein ganz anderes Ausgangsmaterial. Der Text beschreibt ein Aufwachsen in der Sowjetunion in den 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahren, das anhand einer der Hauptfiguren erzählt wird, und versucht Spuren abzubilden, die politische Systeme in Menschen hinterlassen. Dabei behandelt er vor allem die Sprachlosigkeit zwischen einer Elterngeneration, konkret zwischen zwei Frauen, die auf sehr unterschiedliche Weise in Deutschland gelandet sind, und dem Verhältnis zu ihren Töchtern. Gewisse Entscheidungen und Erlebnisse innerhalb eines bestimmten politischen Systems sind in einer anderen Lebensrealität schwer oder nicht vermittel- und erklärbar. Am Ende des Romans stoßen dann alle vier Figuren aufeinander.
Es gibt ja schon ein paar deutsche Theaterbearbeitungen des Romans »Im Menschen muss alles herrlich sein« von Sasha Marianna Salzmann. Dein Stück ist eine österreichische Uraufführung.
Mirja Biel: Sasha Marianna Salzmann hat die erste Bearbeitung des Romans für das Thalia Theater selber gemacht und zusammen mit Regisseur Hakan Savaş Mican den Schwerpunkt eher auf die Gegenwart der erzählten Geschichte gelegt. Der Roman hat eine Krux in sich, wenn man versucht, ihn auf die Bühne zu bringen, da er sehr lange bei einer Figur bleibt. Die Verknüpfung der Begegnungen im Heute am Ende des Buches, mit der riesigen Historie davor, das war die größte Herausforderung für eine Bühnenfassung. Für unsere Fassung haben die Dramaturgin Hannah Lioba Egenolf und ich versucht, die Rahmenhandlung stärker mit der erzählten Historie zu verknüpfen. Dabei haben wir uns dafür entschieden, den Abend nur mit vier Frauen zu erzählen, da ich relativ früh gerade die Abwesenheit der Männer viel interessanter gefunden habe. Die Kernbeziehungen setzt Sasha Marianna Salzmann ja auch zwischen den Frauenfiguren.
Sind die Männer sozusagen auch durch die zerfallenden politischen Systeme vorhanden und repräsentiert? Die Sowjetunion als Männer-Rat, als sehr stark patriarchales System?
Mirja Biel: Frauen sind in patriarchalen Systemen und konventionellen Rollenverhältnissen nach wie vor zuständig für die Weitergabe von Traditionslinien innerhalb der Familie. Denn die Männer waren im Krieg, in der Politik, auf jeden Fall eher nicht zu Hause. Da wiederholt sich eine Versuchsanordnung, die man aus vielen Konstellationen kennt, gerade wenn es um Austausch und kommunikative Anbindung geht.
Transgenerationale Traumata werden aus der Sicht von Frauen geschildert?
Mirja Biel: Die Frauenfiguren reiben sich relativ viel aneinander, einfach dadurch, dass sie im Gespräch nicht miteinander in Kontakt treten können. Es gibt Lebensgeheimnisse, die durch Entscheidungen aus Notsituationen heraus getroffen wurden. Und diese Lebensgeheimnisse beschreiben und markieren dann die nichtgeklärten Felder.
War das Vermitteln von Sprachlosigkeit auch für dich ein zentraler Aspekt bei der Theatralisierung der Schauspielerinnenfreundschaft?
Volker Schmidt: Ich glaube, dass Sprachlosigkeit auch dadurch entsteht, dass ganz viele Diskurse von den Medien und der Politik an sich gerissen werden. Und es ist ganz wichtig, wieder andere Sprachen einzuflechten. Ganz oft verabsäumt das auch das Theater selbst, da es oft das ästhetische Selbst bearbeitet. Theater als gesellschaftliche Stimme muss wieder lauter werden, aber nicht im Sinne von Geschrei, sondern in Form einer mehrdimensionalen, ambivalenten Hörbarkeit. Denn es kann auch eine gewisse Sprach- und Ratlosigkeit sicht- und hörbar machen. Auch um mit vorgefertigten Sichtweisen und Konzepten und mit moralischen Urteilen, mit denen wir sehr oft konfrontiert werden, umzugehen und eine Mehrstimmigkeit auch zuzulassen. Mehrstimmigkeit und Sprachlosigkeit sind für mich in gewisser Weise komplementär, sie bedingen sich. Es lassen sich neue Räume der Mehrstimmigkeit eröffnen, wenn man sich auch einmal zugesteht, sprachlos zu sein oder auch einfach keine Meinung zu haben.
Mirja Biel: Das hat ja auch viel mit unterschiedlichen Perspektiven zu tun, die man durch Geschichtenerzählen kennenlernt. Sasha Marianna Salzmanns Roman eröffnet mir einen Einblick in eine Migrationsperspektive, die ich vor dem Lesen nicht hatte, und das empfinde ich immer als Bereicherung.
Die Schauspielerei als eine Form des Empathie-Trainings …
Volker Schmidt: Die Schauspielerei ist ein Empathie-Training für Schauspieler*innen, aber natürlich auch für das Publikum. Ich versuche, immer proaktiv mit den Umständen umzugehen. Auch aus dem Nichtschaffen lässt sich dramatisches Material generieren. Es ist für mich auch in gewisser Weise ein – vielleicht therapeutischer – Lebensansatz. Wenn man das eigene Leben als Stück sieht, dann schafft man auch leichter eine Einordnung und eine Außensicht und das Erkennen der Prozesshaftigkeit. Im Zusammenhang mit dem Stück »PEACES (Fragments of Love)« finde ich diese englische Übersetzung des Zitats »Kein Gefühl ist das fernste« sehr schön. Frei nach Rilke also: »No feeling is final.«
Links:
https://www.theater-am-werk.at/de/productions/im-menschen-muss-alles-herrlich-sein
https://www.theater-am-werk.at/de/productions/peaces-fragments-of-love