maria bertoni
Martina Bertoni

»Hypnagogia«

Karl Records

Bereits ein flüchtiger Blick in die Vergangenheit macht deutlich, dass das Ideal von »packender« Musik mit Männlichkeitsvorstellungen verknüpft ist. So polemisierte ein gewisser Friedrich Nietzsche, dass hypnotische Kompositionen darauf abzielen, »die Stärksten« einzulullen. Einschläfernde Klänge haben »Erfolg bei den Nerven und folglich bei den Frauen«. Vielleicht gilt es, dergleichen Phantasmen von Musik als viriler Fesselkunst zu entkommen? Ein Gegenprogramm scheint Cellistin Martina Bertoni mit ihrem neuen Album zu entwerfen. Benannt nach dem Übergangszustand zwischen Wachbewusstsein und Schlaf bietet »Hypnagogia« sechs entrückte Kompositionen zwischen Ambient, Drone und moderner Komposition. Darin webt die Wahlberlinerin ein Luftschloss aus elektronischen Tönen und dem sanften Bass ihres Streichinstruments. Ihr Timbre ist benommen, das Tempo behäbig. Doch Bertonis Kompositionen sind von konstanten Änderungen gekennzeichnet. Subtile Variationen durchziehen »Hypnagogia« wie Bilder die Nebel des Halbschlafes. So verwebt das Stück »Collided« knisternde Synths mit tapsenden Hintergrundgeräuschen und Chellotönen. Klanglich erinnert das Album an Ambient-Künstler*innen wie Alison Cotton und Richard Skelton, ähnelt in seiner Verknüpfung von Iteration und Alteration jedoch verlangsamten Arrangements eines Steve Reich. Plastisch wie ein Film-Score und reduziert wie eine gute Serienfolge, verweigert es sich jedem Spannungsaufbau. Wer davon träumt, sich von einem patriarchalen Weltverständnis loszusagen, findet in »Hypnagogia« eine Übung in Langatmigkeit. Bertonis Album ist auf eine Weise einschläfernd, dass man es nach dem Aufwachen gleich wieder abspielen möchte.

Home / Rezensionen

Text
Michael Zangerl

Veröffentlichung
07.02.2023

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