»Ich erinnere mich an das erste Mal, dass ich Josef Mengele sah«, steht an der Wand. »Er trug grün, dunkelgrün. Und ich erinnere mich an seine Stiefel. Die waren wohl ungefähr auf der Höhe meiner Augen.« Das Mädchen Irene Hizme kam 1943 im Alter von sechs Jahren in Auschwitz an. »Es waren schwarze, glänzende Stiefel.« Wenn man dann in Gedanken rückwärts von diesen Kindheitserinnerungen weggeht, fällt man genau über den Glaskasten darüber, in dem eben diese Stiefel zu besichtigen sind. »SS Jackboots (1940)« steht dabei. Die Stiefel schauen wirklich sehr hoch aus.
Die dreistöckige Ausstellung »Auschwitz. Not long ago. Not far away.« im New Yorker Museum of Jewish Heritage ist für europäische Augen ziemlich amerikanisch ausgefallen. Schon dass vor der Türe am Battery Park ein Güterwaggon steht, versetzt einem einen Schock. Vor kleinen Springbrunnen steht der Zugwaggon, wuchtig und verschlossen. Ein Schild mit einer Erklärung ist nicht zu finden. Nach Claude Lanzmans Film »Shoah« sicher für jeden Menschen ein schreckliches Symbol für durch das Land fahrende Güterzüge mit menschlichem Inhalt, die niemandem auffallen.
Große Bilder, wandhohe Fotos, nicht sehr viele Infos, wenig Licht: Die ganze Ausstellung ist dunkel gehalten. »1,1 Millionen Juden wurden nach Auschwitz deportiert, nur 200.000 davon wurden registriert, 900.000 gleich getötet. 23.000 Roma.« Die Ausstellung ist gut besucht, immer wieder schnieft wer, zieht die Nase hoch. Ein paar Nachahmungen von Felix-Nussbaum-Bildern sind auf Lichtkästen aufgezogen. (Anm.: Leider kein einziges Bild des Auschwitz-Überlebenden Adolf Frankl.) Der Repräsentant des Polish National Council, Szmul Zygielbojm, versuchte die Offiziellen des Jewish-Labor-Bundes zu überreden, etwas gegen die Nazis zu tun. Seine Frau und sein Kind waren im Warschauer Ghetto ermordet worden. Doch: »The officials resisted.« Zygielbojm brachte sich aus Protest um.
Puzzleteile und ein Modell
Ein eigener Teil der Ausstellung beschäftigt sich mit dem Thema »Flight«. Hier sind die Tickets der MS St. Louis zu sehen, der Hamburg-Amerika-Linie. Ausgestellt auf den Namen Wasservogel. Ein Video im gleichen Raum zeigt die Philosophin Hannah Arendt im Interview von Günter Grass 1964. Sie trägt eine kleine Blumenbrosche an der Bluse. Ein Dr. Feng Shan Ho (Foto aus 1938) teilte damals erfreulicherweise Visa für Shanghai aus. Tausende Visa für Wiener*innen gab er her. So konnte zum Beispiel Hugo Weihs aus dem KZ Buchenwald noch einmal herausgeholt und nach Shanghai verschifft werden.
Alle diese Ausstellungsteile regen zu Assoziationen an, lassen aber viele Fragen offen. Es sind Informationsstückchen, Puzzleteile. Wie zum Beispiel ein einsames Foto: »Stateless Jews in the Zbaszyn internment camp at the border of Germany and Poland (1938).« Was wurde aus den gezeigten Menschen? Kamen die noch weg? Hatten die eine Chance? Fragen über Fragen und keine Antworten. Man kommt gar nicht nach mit Schauen, die Recherchearbeiten müssen immens gewesen sein. Dann steht man vor einer Miniaturstadt, das Konzentrationslager Auschwitz nachgebaut auf einem Tisch. Hunderte weiße Häuschen, wohl Lagerhallen. Auschwitz muss riesig gewesen sein. Schrecklich immens. Gut, dass Bänke um das Modell stehen, so kann man sitzen bei der Betrachtung.
Emailhäferl, Töpfe in einem Glaskasten. Der jüdisch-griechische Armeeoffizier Alberto Emero machte heimlich die berühmten vier Fotos von den Vernichtungen in Auschwitz, die in einer Zahnpastatube geschmuggelt wurden. Emero gehörte der polnischen Widerstandbewegung an. Insgesamt konnten 2.400 Fotos von jüdischen Familien aus dem Camp gerettet werden. Es waren drei Teenager im sogenannten »Kanada Storageroom unlimited« (Anm. Kanada, weil die Sachen außer Reichweite der Lagerinsass*innen waren) in Auschwitz, die sich das trauten und auch erfolgreich durchführten.
Freiheitsstatue winkt
In einem hellen Raum mit Öffnung nach oben werden Fälle gezeigt, in denen Gefangene Solidarität mit anderen zeigten. »Persistence and Resistance« nennt sich dieser Teil der Ausstellung. Witold Pileck ließ sich zum Beispiel als Gefangener nach Auschwitz einschmuggeln. Er flüchtete! Denn er wollte die polnische Widerstandbewegung davon überzeugen, das Konzentrationslager anzugreifen. Traurige Folge: »The Allies ignored his report«, steht da lapidar. »The camp was a proving ground of character. Some slithered in a moral swamp. We were cut with a sharp instrument. We had all become just our bare essence«, so drückte Pileck die verzweifelte Lage aus.
Das einzige kleine Fenster in der Ausstellung weist in Richtung Statue of Liberty und Ellis Island, die Öffnung nach draußen befindet sich beim Thema »Liberation«. Golden glitzert das Wasser des Hudson River. Unten im Garten wachsen aus Steinen Bäume – eine andere Ausstellung. 7.000 Gefangene wurden in Auschwitz durch die Rote Armee befreit. Neben »Head of Auschwitz Prisoner« (1955), einem kleinen Picasso-Bild, hängen zwei Fotos und ein Bild von Ceija Stojka. In der Nähe des schwarzen Bildes »Was bleibt, nichts« (2009) steht der Text: »Liberation was bittersweet. Joy was followed by a quiet in which each had to confront the enormity of their loss.«
Auf dem Balkon des Museums steht eine Laubhütte, in der eine rothaarige Frau von der Synagoge ein paar Blocks weiter Gebete aufsagt und koschere Cookies hergibt. Am Abend streben Dutzende junge orthodoxe Juden mit in Plastik eingewickelten Palmzweigen in der Hand den Ocean Drive in Brooklyn hinauf. Es ist windig und es herrscht eine erwartungsvolle Stimmung.