Die Mär, dass man als Dschihadist für Morde mit Jungfrauen im Himmel belohnt wird, funktioniert nur bei Ungebildeten. Im Zeitalter der Aufklärung, wo allzu viele demagogische Politiker*innen auch für nichts ahnen wollende Bürger*innen erkämpfte Errungenschaften dezimieren, ist aber immerhin noch sonnenklar, dass der sogenannte Himmel auch als Metapher für einen absoluten Wohlfühlzustand durchgeht. Im Fall von Gaye Su Akyol ergeht es dem Autor dieser Zeilen so. Gleichsam eine musikalische Galaxie tut sich auf, hört man diese grandiose Musik, was sich sowohl live als auch auf Tonkonserve bestätigt. Gaye Su Akyol, 2017 mit dem zweiten Album »Hologram Ĭmparatorluğu« in meinen skug-Charts vertreten, spielte am 22. Oktober im WUK ein famoses Konzert im Rahmen des Salam Orient Festivals. Mit bestens geölter und eingespielter Band, die anfangs noch Bubituzak hieß, nun aber den Namen der charismatischen Sängerin übernommen hat. Der Istanbuler Undergroundschmelztiegel schlägt durch, wenn Gaye Su Akyol ihre Songs bzw. Coverversionen von türkischen Rocklegenden in ein krautig-spaciges Gitarren-Surf-Universum überführen. »(Ghost) Riders in The Sky« mit anatolischer Färbung! Das fährt und begeistert das mitsingende, hauptsächlich aus jungen Wiener Türk*innen zweiter Generation bestehende Publikum. Ja, es gibt ein Leben neben und abseits des autokratischen AKP-Regimes. In Wien wie in Istanbul.
Kleidungsstil & Coverartwork-Grandezza
Und wie es sich für Kellerkinder des Surf-Rock’n’Roll gehört, ist die Sängerin nachhaltig gekleidet. Entspricht Svetlana Nagaev, das Front-Zombie-Girl der russischen Band Messer Chups, diesen subkulturellen Usancen mehr in Richtung Horror, so kann bei Gaye Su Akyol nicht so sehr die Rede davon sein. Hohe Stiefel und Minirock gehören ebenso zum Dresscode der Sängerin, doch das Wortspiel Zombierella geht bei ihr nicht durch. Auch wenn Minirock und lange Stiefletten ein Muss sind, kommt einem eher ein Rumpelstilzchen in den Wortsinn, was ihr Bühnengebaren anbelangt. Und wer weiß, vielleicht sind die kräftigen, roten Striche durch ihre Wangen ein Zeichen dafür, dass Link Wray, ein Vorläufer des instrumentalen Surf-Rock (»Rumble«, 1958), ein Shawnee indigener Abstammung ist. Akyols Outfit ist bauchfrei als Anspielung auf Bauchtanz und besonders charmant ist eine Art durchsichtiger Wurfumhang mit Knitterfalten und ihr lässiger Umgang damit. Und überhaupt ist ihre liebenswürdige, irgendwie kindlich anmutende Kunst, durchs Programm zu führen, eine sehr gewinnende.
Anatolisch-psychedelische Trips
Mit diesem exquisiten Umhang gelingt die Überleitung zum um nichts weniger großartigen dritten Album der Band. Auf dessen fantastischem Coverartwork entsteigt aus einer auf Wandteppich geknüpften Landschaft eine Art Geist und Gaye Su Akyol enthüllt unter dem Gespensterkittel golden-güldenen Glitter. Nicht weniger grandios ist die Musik, gleich der Titelsong ist ein riesengroßer Wurf, wo Akyol alle Facetten ihrer tiefen Stimme auslotet. »İstikrarlı Hayal Hakikattir« (engl. »Consistent Fantasy Is Reality«) tönt gewaltig wie das Kurzschließen eines anatolischen Volkslieds mit Sixties-Psychedelic-Rock. Dass es in dieser Hinsicht bereits eine lange Tradition gibt, bezeugt übrigens Holger Lunds profunde Vinylserie »The Trip. Psychedelic Music from the Hippie Trail« für Corvo Records genial. Die Familie von Akyol hat ihre Roots in einem anatolischen Dorf und die Musikerin, die außer einem Cover des türkischen Psychedelic-Rockers Baris Manço alle Nummern des dritten Longplayers selbst geschrieben und mit ihrem Gitarristen Ali Güçlü Simsek produziert hat, legt Wert darauf, dass sie die traditionelle Musik Anatoliens genauso inspiriert wie jene von Sonic Youth, Joy Division und Jefferson Airplane! So ist die anatolische Volksmusiksängerin/Musikerin Selda Bağcan ebenso ihr Idol wie etwa Kurt Cobain.
»İstikrarlı Hayal Hakikattir« im Schnelldurchlauf
Track 2, »Bagrimizda Tas«, hat die Leichtigkeit eines französischen Chansons, der die Interaktion von Baglama mit Keyboards eine besonders hübsche Note verleiht. Es folgt »Laziko«, in dem sich eine verzwirbelte Surf-Spaghetti-Western-Gitarre mit wundersamen Tremolos und Akyols herzhaft-inbrünstiger Stimme zu einem großartigen Song emporschraubt. »Gölgenle Bir Basima« kennzeichnet ein schleichender slow-bluesiger Bass, nach Surfgitarrenstimuli gesellen sich Streicher dazu und Akyol erweist sich als Tragödin, deren Stimme alle Tiefen- und Höhenregister wie emotionale Nuancen drauf hat. In »Meftunim Sana« übernimmt die Gitarre die bluesigere Schlagseite, Trompete und Saxophon setzen Akzente, Akyol fügt sich in die Rolle einer Leidenden und gegen Ende kippt der Song mit Electro-Saz wieder in rockigere Gefilde. »Sahmeran« hat wieder diesen vorwärts marschierenden Gleichklang der Rhythmussektion und die Gitarre darf in höhere Tremolo-Surfgefilde abheben, opulent begleitet von Bläsern und Streichern.
In der Tat, die Platte ist feinsinnig orchestriert und arrangiert. Ganz anders als ein Live-Konzert, doch ebenso top! Wunderbare Arabesken treffen auf wohlig austarierte Surf-Sounds in »Bir Yarali Kustum« und »Hemserim Memleket Nire«, besonders schön mit Farfisa-Orgel und kurz gesetzter Geigendramaturgie. Genau diese Mischkulanz aus orientalischem Klang und dem Beharren auf Surfgitarreneleganz ist die Essenz der Band! Noch sehnsuchtsvoller heischender Gesang ertönt auf »Bosluk«, womit weiterhin ins Balladenfach abgedriftet wird, jedoch mit elektroidem Saz-Unterton und glänzend ausschmückenden Orgel/Keyboardsounds. Schlussendlich schwingt sich »Halimiz Itten Beter« mit Duettgesang und divenhaften Vocals ein letztes Mal gen Reverbgitarren-Surfhimmel. Stimmliche und instrumentale Phalanx schaffen ein grandioses Zwitterwesen zwischen Orient und Okzident.
Richard Anthony Monsour alias Dick Dale
Damit sei als Draufgabe noch an Dick Dale erinnert. Der König der Surfgitarre ist Urheber dieser Rockmusikstilrichtung, die auf arabischen Musikskalen beruht, doch trugen auch seine Experimente mit Verstärkern und seine exzellente Kollaboration mit dem Gitarrenfabrikanten Fender dazu bei, dass er eine Legende ist. Als Richard Anthony Monsour wurde der heute 81-Jährige in Boston, Massachusetts geboren. Libanesischer Vater, Mutter polnisch-weißrussischer Herkunft. Womit sich der Kreis in den in der Bosporus-Metropole beginnenden Nahen und Mittleren Osten, zu Gaye Su Akyol, schließt.