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Happy Dead Man

»Vines Grow Between My Eyes«

Unrock Saraswati Series

Auch notorische Provokateure werden mit den Jahren ruhiger. W. David Oliphant, Michael Pistrui und Alan Bishop, die diesen Tonträger eingespielt haben, haben die 60 überschritten, und vor allem Alan Bishop ist durch seine Umtriebe mit den Sun City Girls und unter dem Alias Alvarius B/Uncle Jim dafür bekannt, kein Blatt vor den kettenrauchenden Mund zu nehmen. Ohne an dieser Stelle ins Detail zu gehen, verweise ich auf Alben wie »Horse Cock Phepner« oder »Superstars of Greenwich Meantime«. Exemplarisch stehen solche Alben für längst vergangene Zeiten, in denen sarkastischer Humor, obszöne Lyrics und zur Verschwörung neigende Gedankenspiele nicht umgehend Gefahr liefen, dem, was heute »Cancel Culture« heißt, zum Opfer zu fallen – und zwar einfach deshalb, weil es zum damaligen Zeitpunkt kaum jemand mitbekommen hat. Platten wurden mühsam importiert (und waren nebenher nicht digital via Bandcamp oder Spotify verfügbar), und was im Underground passierte, hatte keine künstlich erweiterte Reichweite und in dem Sinne allgemeine Öffentlichkeit via Instagram oder Twitter. Mit diesem Hinweis geht keine Trauer einher und auch keine Wertung. Das war so. Heute liegen die Dinge anders. Ob diese Veränderungen eine Rolle dabei spielen, weshalb »Vines Grow Between My Eyes« eine vergleichsweise zahme Veröffentlichung darstellt? Ich kann es nicht sagen. Bishop knurrt eher aus dem Dunkel heraus als dass er (wie zu früheren Zeiten) bellt. Das tut den textlichen Garstigkeiten im Detail keinen Abbruch, aber die Haltung scheint mir eine andere. Ruhiger, weniger konfrontativ. Entsprechend die Musik dazu: Wo früher wilde Improvisationen irgendwo zwischen Punk, Noise und Free Jazz das Klangbild um Bishops (hin und wieder) wirre Wortspielereien bestimmten, begleitet heute wohltemperierte Elektronik seine geknurrten Lyrics. Wie man sich dieser Platte nähert und welchen Eindruck sie hinterlässt, mag daher davon abhängen, wie sehr man mit der Historie der beteiligten Akteure vertraut ist: Durch die ruhige und optisch geschmackvolle Präsentation wirkt »Vines Grow Between My Eyes« einerseits zugänglich und einladend, aber andererseits birgt die Platte einen Abgrund, es lauert darin die Widerspenstigkeit und Widersprüchlichkeit des US-Punk-Undergrounds der Achtziger-Jahre. Eine komplizierte Platte für komplizierte Zeiten. Passt.

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