Neue Musik in St. Ruprecht 2018 © Gobi Drab
Neue Musik in St. Ruprecht 2018 © Gobi Drab

Einmal in die Aporie … und wieder zurück – Neue Musik und Hochkultur

Das Angebot an Veranstaltungen im Bereich Neue Musik in Wien nimmt beachtlich zu. Eine Eventisierung und der Versuch, die Zugangshürden zu dieser für viele sperrigen Musik abzubauen, machen sich bemerkbar. Was bedeutet das für das Selbstverständnis der peer group?

Neue Musik (im Folgenden: N. M.) wird gemeinhin mit Hochkultur in Verbindung gebracht. Der Wortteil »hoch« kann in diesem Zusammenhang zum einen mit schwerer Zugänglichkeit und zum anderen mit der Abgrenzung von Niedrigerem assoziiert werden. Beide Sichtweisen können Eigenschaften einer ersten Grundposition zur N. M. darstellen (1.), deren Negation die einer zweiten (2.). In der Gegenüberstellung der beiden Perspektiven (3.) zeigt sich eine Spannung, mit der umzugehen einer gewissen Haltung bedarf. Die hier vorgenommene Gegenüberstellung ist im Grunde nicht sonderlich originell, betrifft allerdings einen Bereich, der sich den vorgelegten Problemen noch nicht lange und eventuell bald in zunehmendem Maße stellen muss.

1. Esoterische Zirkel
Die schwere Zugänglichkeit zur N. M. wird durch die bis heute zentrale Idee bedingt, sich vom Verbrauchten lösen und fortlaufend neue Wege in der Komposition von Musikstücken gehen zu wollen. Dieser Anspruch wurde, vorwiegend im akademischen Bereich, in verschiedenste Herangehensweisen ausdifferenziert, zu denen »Expressionismus, serielle und postserielle Musik, Klang- und Lautkompositionen, Dadaismus, Bruitismus, Musique concrète, weiters Minimalismus, Aleatorik, elektronische Musik und Akusmatik, auch Musikgraphik (Notation) bis hin zu Meditationsmusik und Performance« (Österreichisches Musiklexikon online) gehören. Die sich dadurch ergebende Zerfaserung des Begriffes N. M. änderte nichts am grundsätzlichen Anliegen der stetigen Reorgansiation der Kompositionskultur, das Karlheinz Stockhausen im vierten Band der »Texte zur Musik« folgendermaßen zusammengefasst hat: In Sachen N. M. sei »Neuland« ein Grundmotiv, weswegen diese Art der Musik immer »unerhört«, also nicht in bisherige Kriterien zu fassen sein müsse.

Neue Musik in St. Ruprecht 2018 © Gobi Drab

Demgegenüber meint die zweite Interpretation von »hoch« nicht die Wertschätzung einer äußerst anspruchsvollen Idee, sondern eine gewisse Anmaßung, die vor allem in den Anfängen der N. M. zu finden war und die im Ausdruck »unerhört« als Doppeldeutigkeit mitschwingt. Die Unerhörtheit bestand darin, dass sich einige bedeutende Vertreter*innen klar und entschieden in der aristokratischen Manier der Besseren von einem Kulturproletariat abzugrenzen versuchten, indem sie N. M. als »zu hoch« für dieses ansahen. Paradigmatisch dafür stehen Ernst Kreneks Ansicht in »Über neue Musik«, dass ein großer Teil der Gesellschaft »die Wahrheit nicht hören will«, die Kritik etwa von Hans Mersmann an Arnold Schönberg, ihm ginge es um »Luxusmusik«, Kritik an der bis zur Religiosität überhöhten »Schubladenwelt« (Schläbitz) der N. M. und das Image, das N. M. durch Theodor W. Adornos scharfe Kritik an Jazz, Popularmusik und dem Medium Radio erlangte. Eine vertiefende Analyse der Texte Adornos lässt zwar ein etwas weniger einseitiges Bild zu, aber dessen berühmteste Passagen machen die Abneigung des Autors gegen ein plebejisches Musikverständnis auf unmissverständliche Weise sichtbar. Für den Musikwissenschafter Frank Hentschel ist diese Einstellung zur N. M. teilweise noch immer Realität. Er schreibt in einem Aufsatz: »Neue Musik wird von Intellektuellen für Intellektuelle gemacht. Wer Neue Musik produziert oder hört, steht ganz oben in der Bildungshierarchie und blickt auf Hörer zahlreicher anderer Musiken mit Überlegenheit herab« und beanstandet die damit verbundene latente, explizit oder implizit ausgedrückte Aggression gegenüber den »Ungebildeten«. Wird das Präfix »hoch« in der Weise interpretiert, handelt es sich dabei um eine ausdrücklich kulturpolitische Aussage zugunsten einer Bildungselite, die in ihren Nischen die Masse nicht zulässt.

2. Vermittlungsversuche
Bereits in den 1930er-Jahren gab es Anhänger*innen einer oppositiven, anti-elitären Haltung, wie etwa Paul Hindemith und Sergei Sergejewitsch Prokofjew. Diesen war daran gelegen, die Vermittlung von N. M. zu forcieren und sie damit aus ihrem Wolkenkuckucksheim zu holen. Dieses Anliegen ist mit einem Selbstverständnis als Protagonist*innen der Szene um N. M. verbunden, das nicht auf Überheblichkeit beruht. Aktuell vertritt eine solche Ansicht etwa Bernhard Günther, seit 2016 künstlerischer Leiter von Wien Modern. In einem Interview spricht er von einem »Elfenbeinturm, der niemand mehr interessiert«. Eine ähnliche Einstellung vertreten Initiativen wie die von mica – music austria mitorganisierten Projekte Neue Musik-Vermittlung und die Tagung zur Publikumsentwicklung. Dieser zweiten Grundhaltung zu N. M. geht es um das Schaffen von Berührungspunkten zu und die Erhaltung der Ausgangsidee ohne Idealisierung derselben.

Die zweite Position hat den Vorteil, auf aktuelle gesellschaftliche Faktoren wie etwa neue Medien adäquat eingehen zu können. Zudem entspricht sie einer Entwicklung im Bereich N. M., über welche Simone Heilgendorff forscht. In einer vom FWF geförderten Studie zeigt die Musiksoziologin Belege dafür, dass sich, obwohl noch weit vom Mainstream entfernt, »die Szene der Neuen Musik aus ihrer Nische herausbewegt hat«. Im Überblick der Wiener Szene rund um N. M. lassen sich Anzeichen für diese Entwicklung erkennen: Neben der 1922 gegründeten Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM), der 1964 gegründeten Österreichische Gesellschaft für Musik (ÖGN) sowie bereits seit dreißig Jahren etablierten Initiativen wie dem Klangforum und Wien Modern, in dessen Rahmen 2018 an 34 Spieltagen in 29 Spielstätten über 100 Veranstaltungen mit 80 Ur- und Erstaufführungen stattfanden, entstanden in den letzten Jahren vor Ort einige hochwertige Initiativen im Bereich N. M., etwa die Veranstaltung Ensembe Reconsil – Exploring the World, bei der 42 österreichische 42 internationalen Kompositionen gegenüber gestellt wurden, sowie Neue Musik in St. Ruprecht, SNIM – Spontanes Netzwerk für improvisierte Musik, Fraufeld, Unsafe + Sounds Festival und WOW Signal. Ebenso nahm in den letzten Jahren die Zahl der Ensembles in Wien zu. Zu den bekanntesten gehören: Ensemble die reihe, Ensemble Kontrapunkte, ensemble xx.jahrhundert, Ensemble Phace, der 1987 von Mitgliedern der Wiener Symphoniker gegründete Wiener Concert-Verein, ensemble reconsil wien, ensemble LUX, Ensemble Platypus, Max Brand Ensemble und Studio Dan. Sollte dieser Trend zur Expansion anhalten, scheint eine Reorganisation des Selbstbildes der Szene um N. M. gefragt, besonders in Hinblick auf ihr Verhältnis zur Hochkultur.

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Dem Begriff »hoch« etymologisch verwandt ist der Begriff »tief«. Es liegt eine interessante Spannung darin, dass Hochkultur und Subkultur, resp. Underground sich im Gedanken des lateinischen altus treffen. Ohne die Subkultur im Sinne eines »no-audience underground«, also einer Szene, in der Produzent*innen und Perzipient*innen konvergieren, wären viele der Initiativen rund um N. M. in Wien nicht lebensfähig. Besonders kleinere Veranstaltungen wären nicht realisierbar, wenn mit ihnen verbundene außermusikalische Aufgaben nicht von den Beteiligten übernommen würden. In einigen Fällen wird eher ein Konglomerat Kulturschaffender im Sinne einer Subkultur zur Bewältigung allfälliger Aufgaben manifestiert, das an den Rändern hin in alle möglichen gesellschaftlichen Bereiche ausfranst, als sich in einem esoterischen, privilegierten Zirkel im Sinne einer Hochkultur ausschließlich um die Reorganisation der Kompositionskultur kümmern zu können. Je größere Strukturen für die Realisierung von Projekten im Bereich N. M. notwendig werden, desto mehr erweitert sich die Gruppe der Beteiligten um Menschen, die N. M. gutheißen, aber in andere Tätigkeitsbereiche involviert sind, um solche, die N. M. kennen, aber selbst nicht hören, und schließlich um solche, die N. M. schlichtweg nicht interessiert. Eine Extension der Veranstaltungskultur im Bereich N. M. schließt also immer größere Gruppen und immer größere Bereiche der Kulturproduktion sowie außerkulturelle Aspekte mit ein. Gleichzeitig wird allerdings, wenn es um finanzielle Unterstützung geht, auf den letztendlich nicht effektiv einlösbaren Anspruch einer ausschließlich hochkulturellen Angelegenheit verwiesen, der als Opposition gegen genau die herrschende Kultur auftritt, die ihn ermöglicht.

Im Sinne der Interpretation der Vorsilbe »hoch« stellt diese zweite Perspektive zur N. M. keine klare Gegenposition zur ersten dar, da auch sie sich auf ihren Status als Hochkultur beruft. Allerdings werden die oben vorgelegten Kriterien sozusagen auf den Kopf gestellt. Anstatt durch Experten vorbehaltener Ausdifferenzierung das Ziel stetiger Reorganisation der Kompositionskultur erreichen zu wollen, geht es eher um eine Öffnung im Sinne einer Vermittlung an ein größeres Publikum und um die Integration eher dem kulturellen Mainstream entsprechender und sogar außerkultureller Faktoren. Damit wird der Elitismus unterminiert, denn der Leitbegriff »Hochkultur« ist nur noch Mittel zur Gewährleistung der Finanzierung und immer weniger selbstgenügsamer Zweck. Der Verlust der akademischen Strenge und der identitätsstiftenden Abgrenzung von den »Ungebildeten«, welche die zweite Position mit sich bringt, birgt die Gefahr, N. M. zu einem anything goes zu verwässern und ihrer Bestimmung verlustig zu gehen. Sich gegen den kulturellen Mainstream zu stellen, scheint aufgrund der Öffnung für die breitere Gesellschaft und der notwendigen Involvierung exoterischer Faktoren schwer möglich. Es scheint lediglich möglich, sich entweder dem Mainstream annähern zu wollen, was die ursprüngliche Idee der N. M. grundlegend absurd macht, oder den Mainstream anzuerkennen, diesem aber aufgrund seiner hohlen Produkthaftigkeit skeptisch gegenüber zu stehen und ihn als schlichtweg notwendig, aber nicht als essentielles Moment zu sehen. Inwiefern diese letzte Position auf lange Sicht durchhaltbar ist, scheint fraglich.

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3. Konsens
An diesem Punkt angekommen, gerät man in eine Ausweglosigkeit, die darin besteht, nicht sagen zu können, welche der beiden Grundpositionen zu bevorzugen ist. Einerseits steht die elitäre Position für eine bedenkliche kulturpolitische Überzeugung, die nicht nur anmaßend ist, sondern angesichts der aktuellen Entwicklungen im Bereich der Veranstaltungskultur im Bereich N. M. in Wien immer mehr obsolet wird, andererseits ist ein Elfenbeinturm ein guter Ort, um ungestört von der Vermengung mit Aspekten der Außenwelt an einer abstrakten Idee festhalten und diese in einem esoterischen Rahmen weiterentwickeln zu können. Einerseits scheint die der ersten gegenübergestellte Haltung und die von ihr transportierte kulturpolitische Aussage akzeptabler und entspricht eher aktuellen Entwicklungen, andererseits ist mit ihr das Risiko einer sich einschleichenden, einen strengen Anspruch relativierenden Beliebigkeit verbunden und zudem einer Vermischung mit verschiedensten größeren kulturellen oder außerkulturellen Netzwerken, in denen die Identifikation eines Kernbereichs zunehmend verunmöglicht wird, oder sich vielleicht in den ökonomischen Bereich verschiebt, in dem der Begriff »Hochkultur« nur noch ein hohles Schlagwort darstellt.

Beide Extreme scheinen in letzter Konsequenz weder wünschenswert noch durchhaltbar, weswegen ein Ausweg wohl nicht darin liegt, sich für das eine oder das andere zu entscheiden. Vielmehr scheint gefragt, einem Konsensualismus gemäß gleichzeitig beide Perspektiven zu ermöglichen. Es steht dann weniger ein Entweder/Oder, sondern eine Frage der Interrelationen im Vordergrund. Es braucht das Wolkenkuckucksheim und dieses benötigt Abgrenzungstendenzen, um einen klaren Bereich definieren zu können, der von externen, z. B. ökonomischen Einflüssen unbehelligt bleibt. In dieser Hinsicht sollte die erste Grundposition vor einem allzu invasiven Zugriff der zweiten geschützt werden. Demgegenüber scheinen allerdings Verbreitung und Vermittlung der N. M. als Kultur- und (Allgemein-)Bildungsgut ebenso relevant zu sein, denn einem humanistischen Anliegen entsprechend sollte (auch Hoch-)Kultur zugänglich gemacht werden. Einer pragmatischen Perspektive entsprechend sollte zudem die Partizipation von allgemeineren kulturellen und auch außerkulturellen Aspekten zur Kenntnis genommen werden. Anstatt also ein Spektrum zu zeichnen, an dessen Polen die beiden Grundpositionen sich gegenübergestellt sehen, scheint gangbarer, zwei Entwicklungslinien anzunehmen, deren Relationen ihrerseits miteinander in besonderer Weise in Relation stehen – biologisch formuliert: Die akademische ist der distributiven Perspektive Endosymbiont. Es handelt sich um zwei distinkte Organismen innerhalb eines Körpers, die gegenseitigen Effekte aufeinander zeitigen. Beide könnten ohneeinander leben, wobei allerdings der Symbiont ohne Wirt geringere Überlebenschancen hätte oder zumindest differenziertere Überlebensstrategien entwickeln müsste. Eine weniger metaphorische Ausdrucksweise wäre: Die beiden Perspektiven stehen zueinander im Verhältnis der Rekursion.

Im für Außenstehende schwer zugänglichen akademischen Bereich wird Pionier- und auch Kritikarbeit geleistet, sich allerdings deswegen als Insider für elitär zu halten, scheint eine Sache des Charakters zu sein, für dessen Entwicklung, wie Norbert Schläbitz klarsichtig schreibt, die Beschäftigung mit Kunst und Kultur und auch ein Hochschulstudium alleine nicht ausreichen. Andererseits kann diese Arbeit nur dann geleistet werden, wenn ein prinzipielles gesellschaftliches Interesse daran besteht, sie zu subventionieren. Dieses gesellschaftliche Interesse ist der Entwicklung im akademischen Bereich notwendig hinterher, weil sich das, was den Elfenbeinturm verlässt, im gesellschaftlichen Bereich erst anhand von Netzwerken manifestieren muss. Es scheint ebenfalls eine Charakterfrage zu sein, ob man sich als mit dem akademischen Bereich auf Augenhöhe oder ihm sogar übergeordnet empfindet, wenn man an der Inkarnation und der Verbreitung seiner Resultate maßgeblich beteiligt ist. Eine diesbezüglich bescheidene Haltung wird wiederum anhand der Beschäftigung mit den konstitutiven Netzwerken der Gesellschaft und besonders in ökonomischen Belangen nicht sonderlich stark gemacht. Die erste Perspektive sollte sich eingestehen, dass sie auch als Abkehr immer mit dem verbunden ist, von dem sie sich zu distanzieren versucht. Die zweite Perspektive sollte anerkennen, dass ihr Anliegen ohne das aus dem esoterischen Zirkel Emittierte zur leeren Produktion verkommt. Wenn die Positionierung in diesen Belangen eine Charakterfrage ist, wird sie zur Frage danach, was die Bildung einer angemessenen Haltung begünstigt.

Dr. phil. Bernd Gutmannsbauer studierte am Institut für Philosophie in Wien, ist als freier Autor tätig, seit Anfang der 1990er-Jahre Schallplattenunterhalter unter dem Pseudonym Adrian Flux und Mitbegründer des im Bereich der Neuen Musik tätigen Usonia Ensemble.

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