Gerald Pichowetz als Tevje © Victor Malyshev
Gerald Pichowetz als Tevje © Victor Malyshev

Die wunderbare Leichtigkeit des Schweren

Im Städtchen Kufstein am grünen Inn findet nun schon seit Jahren der sogenannte Operettensommer statt. In diesem Jahr fiel die Wahl auf das Musical »Anatevka« von Jerry Bock. Kein leichter Stoff, der da auf das Operetten- und Musical-Publikum losgelassen wird. Aber die Übung gelingt.

Es gehört heute zum guten Ton, dass man Musicals und Operetten als allzu leichte Musik brandmarkt und das Publikum a priori als überaltert, harmonieselig und schunkelaffin abtut. Eskapismus steht im Zentrum, Auseinandersetzung mit Politik oder gesellschaftlichen Missständen findet nicht statt. So die landläufige Meinung der Musical- und Operettenablehner. Das Stück »Anatevka«, das in diesem Jahr unter der erstmaligen künstlerischen Leitung des Wieners Sascha Nader beim Kufsteiner Operettensommers aufgeführt wird, fällt da deutlich aus dem Rahmen.

Das etwas andere Musical
Das Stück thematisiert die Welt des jüdischen Volkes und macht auch vor dem Thema Pogrome nicht Halt. Dieser komplexen Thematik ringen die Textebene von Joseph Stein und Sheldon Harnick und die Musik von Jerry Bock mit einem gewaltigen aber federleicht wirkenden Kraftaufwand Leichtigkeit und Witz ab. Wer bis zu diesem Abend über die Leichtigkeit des Musicals schmunzelte, dem wurde spätestens in der grandiosen Kufsteiner Aufführung klar, welch künstlerische Brillanz es braucht, um das Publikum bei diesem Thema zum Mitklatschen und Mitsummen zu bewegen.

Leicht macht einem den Eintritt in Musical-Welt von Beginn an vor allem ein großartig auftrumpfender Gerald Pichowetz in der Rolle als Tevje, der zwischen Tradition und modernen Ehevorstellungen und Weltanschauungen seiner Töchter samt Anhang hin und hergerissen ist. Den Humor der Figur Tevje, der auch in der Emigrationsszene und im größten Leid nicht versiegt, nimmt man Pichowetz zu jedem Zeitpunkt ab. Die Meisterschaft, mit welcher der Schauspieler außerdem die Gesangspassagen bewältigt, verblüfft. Vor allem auch deshalb, weil er die zum Teil fehlende Stimmgewalt mit Humor unterfüttert und damit der Figur auf einer weiteren Ebene Esprit verleiht. Das Orchester musiziert vorzüglich, der Chor reißt mit, das Ballett legt in Sachen Bühnenentertainment alles in die Waagschale, ohne dass man je das Gefühl hat, einer zirkusartigen, auf Effekt abzielenden Chose beizuwohnen. Die Inszenierung gelingt insgesamt vorzüglich, Langeweile kommt trotz beachtlicher Spieldauer von fast drei Stunden in keiner Sequenz auf.

»Anatevka« © Victor Malyshev

Wirkungsvolle Melodien
Was aber viel schwerer wiegt: Die Melodien bleiben im Kopf. Beim Verlassen des Festungsareals summt man noch immer einige der im Stück zum Besten gegebenen Lieder vor sich hin. Man hat aber nicht das Gefühl, von einer gewaltigen Musical-Industrie dazu verdonnert worden zu sein. Kein Lied wirkt so, als sei es am Reißbrett entworfen worden und als arbeite es mit geschickten Kunstgriffen, die die Hooklines für lange Zeit im Kopf des unkritischen Musical-Konsumente verankern sollen. »Anatevka« wirkt authentisch, die melodische Ebene niemals banal, sondern stets in der optimalen Balance von Eingängigkeit und Anspruch.

Die Leistung des Stücks wird einem erst später bewusst. Ein schwieriges Thema wird auf so leichtfüßige Art bearbeitet, dass man trotz der inhaltliche Schwere mit einem Lächeln auf den Lippen nach Hause geht. Das ist in diesem Fall aber nicht affirmativ, sondern subversiv. Man lächelt, weil man Einblick in eine fremde, zum Teil schon untergegangene Welt bekommen hat. Man lächelt aber auch, weil man dadurch den Glauben zurückbekommt, dass auch einer breiteren Masse ein solches Thema zugemutet werden kann und es lediglich der richtigen Form bedarf, um dieses zu transportieren. Die Kraft und Wirksamkeit dieses Formbewusstseins ist enorm und erteilt einem strikten und elitären Avantgarde-Denken eine klare Absage.

Die Kraft des Leichten
Womöglich ist jene Kunstform am Kraftvollsten, die ein breiteres Publikum ernst nimmt, es mit versöhnlichen Melodien versorgt, aber zugleich auch stellenweise musikalisch und inhaltlich herausfordert. So gelingt es, das Schwere mit Leichtigkeit zu stemmen und die wunderbare Leichtigkeit des Schweren freizulegen. Das führt dann zu Glücksmomenten wie jenen, die man derzeit in Kufstein erleben kann.

Link: https://www.operettensommer.com

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