Erica Fischer © privat
Erica Fischer © privat

»Die Geschlechterfrage wird nach wie vor als Frauenfrage gesehen«

Erica Fischer ist Mitbegründerin der autonomen Frauenbewegung in Wien. Warum sie durch die Liebe überhaupt erst zur Feministin wurde, erzählt die Autorin und Übersetzerin in ihrer Autobiografie »Spät lieben gelernt«. Für skug hat sich die Wahlberlinerin zum Interview getroffen.

Die Mutter war polnische Jüdin. Der Vater Wiener und Nichtjude. 1943 kam aus dieser Beziehung im englischen Exil Erica Fischer auf die Welt. Fünfjährig zog die spätere Frauenrechtsaktivistin mit ihren Eltern nach dem Krieg wieder in die österreichische Hauptstadt und blieb doch für immer mit ihrer Geschichte verkettet: Identität ist bis zuletzt ein wegweisender Faktor für die inzwischen in Berlin lebende Autorin und Übersetzerin. In ihrer Ende letzten Jahres erschienenen Autobiografie »Spät lieben gelernt« erzählt die Achtzigjährige ihren Weg zum politischen Aktivismus und wie sie Feminstin wurde. Anlässlich eines Wien-Besuchs für eine Veranstaltung im Aktionsradius Wien bot sich die Gelegenheit, für skug ein Gespräch mit der Schriftstellerin zu führen. Inwiefern ihr ursprünglicher Ehrgeiz zur politischen Arbeit mit unbefriedigenden Liebesbeziehungen zusammenhängt und weshalb ihre jüdische Identität bis heute für ihre feministische Arbeit bedeutsam ist, erzählte Erica Fischer im Interview. 

skug: Du bist in England geboren und in Österreich aufgewachsen. Wie war das?

 Erica Fischer: Meine erste Sprache war Englisch, und als ich nach Wien kam, konnte ich kein Wort Deutsch. Mein Vater war Wiener und kein Jude, meine Mutter Polin und Jüdin. Sie ist 1928 nach Wien gekommen, um hier an der Kunstgewerbeschule zu studieren. In England war es während des Krieges nicht günstig, Deutsch zu sprechen, weshalb ich in meinen ersten Lebensjahren nur Englisch gehört habe. Es war also erst einmal ein Schock, als ich in Wien ankam. Gleichzeitig war die Veränderung spannend: Die Wohnung, die nur aus einem Zimmer bestand, war für mich als Kind riesengroß und hat mir sehr gefallen. Aber wenn ich in den Hof ging, konnte ich mit den Kindern nicht sprechen. Das war traumatisch für mich. Ich bin dann nach Hause gekommen, habe geweint und meinen Eltern erklärt, dass ich die Wohnung nie wieder verlassen werde. Natürlich habe ich innerhalb kürzester Zeit Deutsch gelernt, wie es bei Kindern so ist. Insgesamt ist England in meiner Fantasie immer etwas Positives geblieben. Das kam daher, dass meine Mutter sehr ungern nach Österreich zurückgekehrt ist, weil sie als Jüdin vertrieben wurde und in England glücklich war. Dort arbeitete sie in der Fabrik für die Kriegsproduktion und hat von den englischen Arbeiterinnen viel Solidarität erfahren. Deswegen wäre sie gerne dort geblieben. Aber mein Vater, Sohn von waschechten Wienern, wollte unbedingt nach Österreich zurückkehren. Deshalb war sie immer sehr unglücklich in Wien.

Hast du auch Polnisch gelernt?

Polnisch habe ich leider nicht gelernt. Meine Kindheitssprachen waren Englisch und Deutsch. Ich habe in den letzten zwanzig Jahren immer wieder versucht, Polnisch zu lernen, weil ich diese Sprache unheimlich schön finde und weil ich aus meiner Kindheit den Klang der polnischen Sprache im Ohr habe. Meine Mutter hat mir polnische Wiegenlieder gesungen, und da ist etwas hängen geblieben: Es ist rätselhaft, aber es ist da. Polnisch ist eine sehr schwierige Sprache, und ich hatte zu selten Gelegenheit, sie zu sprechen. Wenn ich in Polen war, konnten die Leute alle immer viel besser Englisch oder Deutsch als ich Polnisch. Heutzutage wäre ich mit Eltern wie meinen vermutlich dreisprachig aufgewachsen. Aber meine Mutter kam gar nicht auf die Idee, mit mir Polnisch zu sprechen – sie hatte schließlich auch keine wahnsinnig gute Beziehung zu ihrem Heimatland. Auf der Flucht vor dem dortigen Antisemitismus ist sie vom Regen in die Traufe gekommen, nachdem sie nach Wien kam. Über Polen hat sie eigentlich überhaupt nie geredet. Trotzdem ist mir Polnisch in den Ohren stecken geblieben. Ich kann mich notdürftig verständigen und habe eine positive emotionale Beziehung zu dieser Sprache.

England war das »Hoffnungsland« deiner Mutter? 

Ja! Meine Mutter hat sehr schnell Englisch gelernt und war dadurch richtig dreisprachig. Allerdings hat sie immer mit einem starken polnischen Akzent gesprochen. Obwohl sie erst achtzehn war, als sie nach Wien kam, ist sie den nie losgeworden. Da hat sie viel Fremdenfeindlichkeit erlebt. Sie hat nirgends wirklich dazugehört, ganz zu schweigen davon, dass sie sich als Jüdin gegenüber der Wiener Bevölkerung abgeschottet hat. Im ersten Jahr nach ihrer Rückkehr hat sie mit niemandem gesprochen, weil sie in jedem – zurecht – einen Nazi vermutet hat. Danach war sie ihr Leben lang sehr isoliert.

Wo hast du dich zugehörig gefühlt?

Ich wurde vordergründig ein Wiener Kind, bin hier zur Schule gegangen, habe maturiert und in Wien studiert. Man hat es mir sprachlich nicht angehört, aber ich habe mich dennoch nie zugehörig gefühlt. Das habe ich vermutlich von meiner Mutter oder meiner Familiengeschichte übernommen. Natürlich hatte ich Freundinnen in Wien, aber trotzdem hatte ich immer das Gefühl, am Rand zu stehen. Und dann war da noch die andere Biografie als die der anderen Kinder. Die sind alle in Wien oder Niederösterreich geboren, ich jedoch in St. Albans in England. Das fiel natürlich schon auf. Eine Anekdote: Meine Mutter war Künstlerin. Sie hat sehr gut genäht und mir immer wunderschöne Kleider gemacht. Als meine Familie 1948 nach Wien kam, waren die Leute arm und nicht besonders gut angezogen. Deswegen hat sich mein Volksschullehrer über mich mokiert, hat mich eine Modepuppe genannt, weil ich immer hübsch angezogen war.

War das Nicht-Zugehörigkeitsgefühl ein Antrieb? Oder eine Bremse?

Ich war von früher Kinderzeit an und insbesondere in meinen Jugendjahren politisch interessiert. Das habe ich von meinen Eltern. Die waren beide Linke. Meine Mutter hat sich als Kommunistin bezeichnet, mein Vater war Sozialdemokrat. So wurde mir ein Bewusstsein für politische Geschehnisse in der Welt vermittelt. Als Teenager habe ich mit glühenden Ohren und Wangen den Befreiungskampf der kenianischen Bevölkerung verfolgt. Wir haben englische Magazine gelesen, wo darüber berichtet wurde, und ich habe mich total mit diesen Freiheitskämpfern in Kenia identifiziert. Rückblickend denke ich, dass es mein eigener Familienhintergrund war, den ich auf die Kenianer übertrug. Ein Heimatgefühl in Österreich habe ich das erste Mal in der Frauenbewegung gefunden. Dort konnte ich aktiv dazu beigetragen, Österreich und die Welt zu verändern. Das war eine sehr glückliche Zeit. Davor habe ich mir immer Männer aus anderen Ländern gesucht: Ich habe eine unglaubliche Bandbreite an Ländern in meiner Liebeshistorie! Und das Witzige ist, dass Susi Pollack, mit der zusammen ich »Spät lieben gelernt« vorstellen werde, genau dasselbe gemacht hat. Sie hat sich auf der Landkarte eingezeichnet, woher ihre Liebhaber waren. Und so habe ich das auch gemacht! Ich war ganz stolz, dass da ein Ungar dabei war, einer aus Madagaskar und einer aus Sierra Leone. Ich kann mich gar nicht mehr an alle Länder erinnern. Österreicher waren wenige dabei. Es ist kein Zufall, dass ich jetzt bei einem Italiener gelandet bin und mit ihm auch eine gewisse Ruhe gefunden habe. Ich könnte mir das nicht mit einem Österreicher und schon gar nicht mit einem Deutschen vorstellen! Das ist wohl auch Ausdruck meiner Unzugehörigkeit.   

Erica Fischers Großeltern © privat

Hat dich die Liebe zu einer Feministin gemacht?

Die vielen Liebhaber hatte ich ja nur, weil ich nach einer Liebe gesucht habe, die ich bei meiner Mutter nicht gefunden habe. Sie war eine kalte Frau, und ich habe von ihr nur die Liebe zur Mode, zu schönen Sachen und zur Kunst mitbekommen. Nun ist sie schon einige Zeit tot, aber für die Begeisterung für die Kunst bin ich ihr dankbar, und es ist schade, dass ich ihr das nie persönlich sagen konnte. Dennoch hat sie mir nicht das gegeben, was man von Müttern erwartet: Wärme, Zärtlichkeit, Zuneigung, Lob. Bei Männern habe ich diese fehlende Liebe gesucht und nie gefunden, weil ich von den Männern einfach viel zu viel erwartet habe. Und als Feministin habe ich dann noch mehr erwartet! Die sollten meinen Feminismus voll und ganz übernehmen und so denken und fühlen wie ich. Erst viel später ist mir klar geworden, dass man das von Männern nicht erwarten kann, weil sie eine andere Geschichte haben, sowohl persönlich als auch historisch. Es gibt zwar einige, die sich heutzutage anzunähern versuchen, aber damals war das äußerst unüblich. Die Diskrepanz zwischen der emotionalen Welt von Frauen und der von Männern hat mich sehr unglücklich gemacht. Als Feministin habe ich dann gehofft, dass es diese Liebesqualen nicht mehr geben wird, wenn wir das Patriarchat abgeschafft haben und der androgyne Mensch geschaffen worden ist. Das war meine Vorstellung. Insofern ist es schon richtig, dass ich wegen der Liebe oder der Schwierigkeit, zu lieben und geliebt zu werden, Feministin geworden bin. Aber im weiteren Sinn habe ich auch an der Welt gelitten. An den Ungerechtigkeiten, an der Gewalt, die gegen Frauen ausgeübt wird. Aber das ist ja auch eine gewisse Form von Liebe. Wenn ich heute darüber nachdenke, was für mich Liebe bedeutet, dann fällt es mir schwer, zu definieren, wie sehr ich meinen Mann liebe. Er ist viel eindeutiger in seiner Zuneigung zu mir als ich zu ihm. Ich fühle mich da manchmal sehr neutral. Meine Liebe zur Welt ist wesentlich stärker. Das Leiden, das jetzt überall passiert, berührt mich emotional viel mehr.

Die Männer fechten ihren eigenen feministischen Kampf aus?

Na ja, sie müssen sich in erster Linie mit sich selbst befassen. Und da hat sich ja auch einiges verändert. Es geht darum, mit seiner Sozialisation umzugehen, zu lernen und zu schauen, wo bei einem selbst Elemente von Gewalt und Frauenmissachtung sind. Den Kampf der Frauen können sie solidarisch unterstützen, aber letztlich müssen sie ihr eigenes Ding machen. Das habe ich auch als Feministin immer wieder verlangt und sehr darunter gelitten, dass die linken Männer – also meine Genossen, wie man damals gesagt hat –, denen ich ja auch intellektuell und persönlich gefallen wollte, die zunehmende Menge an feministischer Literatur nicht rezipiert haben. Man musste immer ganz blöd Dinge erklären, die in der Zwischenzeit in so vielen Büchern stehen. Ich dachte mir einfach nur: Verdammt nochmal, sollen sie das doch einfach lesen! Aber das haben sie nicht. Und ich glaube, das ist bis heute so. Es gibt ein paar Männer, die auch Gender Studies studieren, aber das ist eine winzige Elite. Die Geschlechterfrage wird nach wie vor als Frauenfrage gesehen.

Genauso ist es bei der Beziehungsarbeit.

Also das ist jetzt einerseits die männliche Sozialisation. Andererseits ist die ganze Welt so organisiert, dass sie Männer in ihrer Ignoranz unterstützt. Das zu durchbrechen, ist für Männer schwer, also wenn es etwa um Elternzeit und solche Dinge geht. Und für Frauen ist es noch schwerer, aber Frauen haben ein organisatorisches, intellektuelles und emotionales Umfeld. Die Bewegung, die Frauen erfasst, ist viel größer als die der Männer. Männer müssen sich öfter als Einzelkämpfer durchschlagen.

Die Solidarisierung unter Frauen begründet sich aber auch in der Frauenbewegung.

Klar – eines der Ergebnisse der Frauenbewegung ist ja nicht, dass statt fünfhundert Frauen fünftausend auf die Straße gehen. Es geht eh niemand mehr auf die Straße. Sondern dass sich die Ideen, wenn auch etwas verwässert, ausgebreitet haben, vieles auch von offiziellen Institutionen übernommen wurde und heute kein Thema mehr ist. Als wir damals angefangen haben, Anfang der Siebzigerjahre, waren Frauen unheimlich vereinzelt. Ihr Hauptbestreben war es, einen Mann zu finden. Da gab es sehr viel Konkurrenz unter Frauen, wir waren immer auf den Mann orientiert. Glücklicherweise hat sich diesbezüglich sehr viel verändert und es gibt eine grundlegende Solidarität unter Frauen, mit der wir rechnen können. Das ist vielleicht der größte Erfolg der Frauenbewegung. Dass Frauen, die etwas erreichen, nicht mehr auf Häme und Widerstand stoßen, weil sie nicht radikal genug oder angepasst sind. Sondern, dass wir verstehen, dass diese Frauen einen Beitrag zur Veränderung der Situation der Frauen leisten. Und die Frauen freuen sich darüber. Angela Merkel ist der typische Fall. Sie ist politisch sicherlich nicht auf meiner Linie. Und trotzdem hat es mich gefreut, dass sie so lange Bundeskanzlerin war und auch eine viel bessere Figur abgegeben hat als die meisten männlichen Politiker: Keine Korruption, keine Skandale. Sie ist einfach ein anständiger Mensch geblieben, völlig unabhängig von ihrer politischen Haltung.

Übernehmen Frauen in dieser Attitüde nicht patriarchale Strukturen?

So haben wir auch gedacht und argumentiert, und es ist grundsätzlich auch richtig. Weil Angela Merkel natürlich nur innerhalb eines sehr männlich geprägten Systems agierte. Und trotzdem bin ich im Laufe der Jahrzehnte toleranter geworden. Nicht alle können revolutionäre Kämpferinnen sein. Und sie hat einen anderen Politikstil eingeführt, der auch als Erinnerung – wenn es später wieder nur männliche Bundeskanzler gibt – erhalten bleibt. Sie war verheiratet, und ihr Mann hat ein unabhängiges, selbstständiges Leben geführt und ist nicht wie sonst die Ehefrauen von Politikern neben ihr hergetrippelt. Zudem hatte sie keine Liebschaft. Man stelle sich nur vor, was da passiert wäre, hätte sie sich einen jungen Liebhaber genommen! Etwas, das bei männlichen Politikern völlig normal ist. Man denke nur an Kohl oder Mitterrand. Bei Merkel gab es keine Skandale. Wir haben immer gesagt, das Patriarchat wird sich erst dann wirklich verändert haben, wenn Frauen genauso dumm, genauso korrupt, genauso was-auch-immer sein können wie Männer und man es ihnen nicht verstärkt vorwirft. Aber natürlich freue ich mich mehr über Frauen, die ein positives Beispiel abgeben.

Ein gutes Argument für all diejenigen, die meinen, das Patriarchat wäre hinreichend überwunden.

Das Patriarchat ist nicht over, im Gegenteil: Gerade erst ist sichtbar geworden, wieviel Gewalt gegen Frauen ausgeübt wird. Damals hat man uns nicht geglaubt. Dann wurden die Frauenhäuser gegründet, und der Zustrom war groß. Da konnte man es nicht mehr leugnen. Das muss man heute nicht mehr erklären. Das ist gut. Aber das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen hat sich überhaupt nicht verändert. Sowohl im privaten Bereich wie auch in Kriegen ist es sogar schlimmer geworden als früher. Und es herrscht diese absurde Kluft zwischen dem, was man erkannt hat, was man weiß, was statistisch bewiesen ist, und dem, was real passiert. Das ist tragisch.

Erica Fischer © privat

Was war der Hauptantrieb, die Frauenbewegung mitzubegründen, und jetzt die Motivation, immer noch aktiv zu sein?

Damals waren es die Erkenntnisse, die ich aus Aktivitäten anderer Frauen in anderen Ländern gewonnen habe. Also wenn wir von der Frauenbewegung im Westen sprechen, war die erste in den USA, dann in Frankreich und dann in Deutschland. Wir in Österreich waren da erst etwas später dran. Da habe ich sehr viel gelesen, gelernt und erkannt. Und ich wollte einfach in Österreich auch eine Veränderung bewirken! Das war die politische Ebene: Wir haben Schritt für Schritt die individuelle und die strukturelle Gewalt im Patriarchat begriffen. Und persönlich war für mich die Motivation, eben diese Kluft von Männern und Frauen in der Liebe zu überbrücken. Natürlich stand im Hintergrund, dass meine Mutter eine Frauenrechtlerin war, die zwar letztlich nicht danach gelebt hat, aber von ihrer politischen Grundeinstellung her war sie eine Frauenrechtlerin. Sie war pro Abtreibung und so weiter! In den 1980ern habe ich begonnen, mich mit meiner jüdischen Geschichte auseinanderzusetzen und zu begreifen, dass nicht nur das Patriarchat Schuld war, dass ich in jungen Jahren und auch später immer unglücklich war und mich marginalisiert gefühlt habe. Sondern dass ein großer Anteil auch dieser jüdische Hintergrund ist. Das war mir nicht so bewusst, weil wir zuhause wenig darüber gesprochen haben, aber ich denke, unbewusst hat das sehr stark gewirkt. Ich habe mich dann damit beschäftigt und hatte sogar kurze Zeit eine Phase, wo ich gehofft habe, ich könnte jüdische Traditionen wiederbeleben. Ich bin mit Freundinnen in die Synagoge gegangen oder habe Pessach gefeiert. Aber ich habe schnell erkannt, dass das mir wenig bedeutet. Religion und jüdische Tradition kam bei uns in der Familie nicht vor. Und das kann man sich dann auch nicht mit über vierzig aneignen. Aber der Antisemitismus, die Flucht meiner Eltern, die Ermordung meiner Großeltern, der allgemeine Rassismus in der Welt, gekoppelt mit meiner feministischen Überzeugung, all das hat bei mir eine neue Identität geschaffen. Und mich auch wirklich stärker gemacht! So habe ich ab diesem Zeitpunkt öffentlich bekannt, Jüdin zu sein. Das konnte ich vorher überhaupt nicht aussprechen. Im Zusammenhang mit meinem Buch »Aimée & Jaguar« bin ich viel öffentlich aufgetreten und habe das dabei gelernt. Heute engagiere ich mich nicht mehr politisch, sondern schreibe Bücher, und wenn ich zu Lesungen eingeladen werde, dann tue ich das gerne. Das ist heute mein politisches Engagement. Grundsätzlich hat sich bei mir nicht wirklich etwas verändert. Ich finde es schrecklich, was mit den Frauen im Iran passiert. Ich ärgere mich, wenn ich Zahlen über Gewalt gegen Frauen in Österreich und Deutschland lese. Stärker geworden ist die Wut über die Ignoranz der deutschen Politik. Ich spreche jetzt über Deutschland, weil ich dort lebe. Aber das ist in Österreich nicht anders. Das gilt insbesondere für den Konflikt in Israel: Ich sehe mich als Jüdin, die einer humanistischen jüdischen Tradition verpflichtet ist. Deswegen finde ich es unerträglich, wie Jüd*innen in Israel gegenüber Palästinenser*innen agieren. Wie die Vertreibung der Palästinenser*innen vor fünfundsiebzig Jahren im Namen des Judentums immer noch gerechtfertigt wird. Früher hat mich Israel gar nicht interessiert, weil ich keine Beziehung zu dem Land hatte, ich habe dort keine Verwandten und habe mich geärgert, dass ich mich als Jüdin zu Israel äußern sollte: Was geht mich Israel an? Es ist ein Land wie jedes andere. Mittlerweile sehe ich das anders. Denn es ist eben nicht ein Land wie jedes andere. Es ist ein Land, wo Jüd*innen Gewalt gegen Menschen ausüben, die keine Jüd*innen sind, im Namen des Judentums. Inzwischen fühle ich mich dazu verpflichtet, mich zu äußern. Aber auch zu Rassismus generell, in Deutschland und gegenüber Geflüchteten: Das ist etwas, das mich persönlich und politisch berührt.

Wenn man das auf einen gemeinsamen Nenner herunterbrechen müsste, sprichst du hier von einer intersektionalen Identität.

Ja, und ich freue mich sehr, dass die jungen Feministinnen heute auch so intersektional denken. Ich habe ein Buch geschrieben, mit dem Titel »Feminismus Revisited«. Das habe ich gemacht, um mit jungen Feministinnen ins Gespräch zu kommen. Ich weiß, dass es ganz große Konflikte zwischen Altfeministinnen und jungen Feministinnen gibt, die mir selbst fremd sind. Ich fühle mich in diese neue Bewegung und neue Denkweise voll einbezogen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass der heutige Feminismus die Fortsetzung dessen ist, was ich immer schon gedacht habe. In den ersten Jahren mussten wir uns an den Männern abarbeiten. Da hatten wir keine Zeit, uns auch mit Rassismus zu beschäftigen.

Warum, glaubst du, gibt es diese Verhärtung zwischen Altfeministinnen und Jungfeministinnen?

Grundsätzlich ist es so, dass Menschen, die älter werden, nicht immer mit den Entwicklungen der Zeit Schritt halten können. Irgendwann bleiben sie stehen. Insbesondere, wenn sie in einem Bereich etwas geleistet haben, wie etwa Alice Schwarzer, die wirklich eine wichtige Figur in der deutschen Frauenbewegung war. Dann bleibt sie aber stehen, denkt nicht weiter und gibt den Stab nicht an die junge Generation weiter. Sie ist auch eine Person, der Macht- und Meinungshoheit ganz wichtig sind. Das ist bei mir nicht so ausgeprägt. Ich bin zufrieden, wenn ich sehe, dass die Saat, die ich in den frühen 1970er-Jahren ausgesät habe, weiter wächst und ein Baum daraus wird. Aber viele sind auch unfähig, ihr Denken zu verändern. Ich bin achtzig Jahre alt. Das ist ein hohes Alter, und ich bin manchmal über meine eigene Lebendigkeit und mein Interesse an der Welt überrascht. Aber ich bin froh darüber. Vielleicht hat Alice Schwarzer immer schon anders gedacht, weil sie eine andere Geschichte hat. Sie ist eine in Deutschland verwurzelte Deutsche. Und ich habe durch diese Fluchterfahrung meiner Eltern und diesen jüdischen Hintergrund einen anderen Blick auf die Welt. Der Rassismus, der Antisemitismus, die Vertreibung, die Marginalisierung und das Patriarchat sind in meinem Denken und Fühlen miteinander verschmolzen und machen mich aus. Ich finde es toll, dass junge Frauen keine Vertreibungsgeschichte mehr brauchen, um so zu denken. Aber unter den jungen Feministinnen sind auch viele Migrantinnen. Diesen Vorteil hatten wir damals noch nicht. Die Migrantinnen bringen einen neuen Blick in die Bewegung und auf die Welt. Das darf man nie vergessen.

Erica Fischer: »Spät lieben gelernt«, Berlin Verlag 2022, 224 Seiten, € 22,70

Dieses Interview entstand aus einer Kooperation mit dem Aktionsradius Wien und kann als Radiosendung nachgehört werden.

Link: https://www.piper.de/buecher/spaet-lieben-gelernt-isbn-978-3-8270-1472-6 

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