Illustration © Benedikt Haid
Illustration © Benedikt Haid

»Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus« – Teil 1

Der Historiker Gerd Koenen beschreibt in seinem neuen Werk »Die Farbe Rot« die widersprüchliche Geschichte des Kommunismus. Da skug nichts mehr interessiert als Widersprüche, räumen wir dem Werk eine umfassende, zweiteilige Rezension ein. Der erste Teil behandelt, was gerne antikommunistische Propaganda ausblendet: die tiefe Verwurzelung des Kommunismus in der europäischen Geistesgeschichte.

Gerd Koenen legt mit »Die Farbe Rot« eine ausgesprochen detaillierte, vielfältige und komplexe Untersuchung vor, in der die Geschichte der kommunistischen Bewegung von den ersten Erscheinungsformen des Kommunismus bis zur gegenwärtigen Lage der noch kommunistischen Länder geschildert wird, unter Berücksichtigung der verschiedenen Epochen und jeweiligen Besonderheiten der kommunistischen Länder. Der Band zeichnet sich ferner durch ausführliche Analysen aus – beispielsweise eine Betrachtung des Terrors in der französischen Revolution, eine sehr interessante Untersuchung über die Lage der Sklaverei im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten und weiteren Ländern sowie die Schilderung des Entstehens der sozialistischen und kommunistischen Bewegungen im 19. Jahrhundert – und bietet auch noch eine sehr ausführliche Beschreibung der Entwicklung der sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts. Vorbildlich sind die Genauigkeit und die Akribie, mit welchen Koenen durch seinen Band hindurch auf die Schwierigkeit der Verbreitung von Marxens Werken und von Marxens Denken hinweist, wobei es den Anschein hat, dass die Gründer der kommunistischen Regimes über eine sehr beschränkte, um nicht zu sagen fast nicht vorhandene Kenntnis des Denkens von Marx verfügten.

skug ist kein Witz zu alt, deswegen illustrieren wir diesen Artikel mit Bierdeckel der SPÖ-Jugendorganisation aus den 1970er-Jahren, Rückseite. (© MAG3)

Rot, rot, rot sind alle meine Farben
Die Analyse der kommunistischen Bewegung und die für die kommunistische Bewegung bestehende so wichtige Farbe Rot (von der das Buch seinen Titel nimmt) ziehen sich durch das ganze Buch hindurch: Die Farbe Rot wurde, wie Koenen anmerkt, am 14. Juli 1889 offiziell zum Symbol der Opposition gegen die sozialen Ungerechtigkeiten, als die Farbe Rot von der Gründungsversammlung der Sozialistischen Internationale, die in Paris gerade stattfand, in der Gestalt der roten Fahne als eigenes Emblem der Sozialistischen Internationale selbst gewählt wurde. Eben im Prolog des Buches erklärt der Autor sowohl die Besonderheit der Farbe Rot im Vergleich zu den anderen Farben wie auch die Unabdingbarkeit der Farbe Rot für die kommunistische Bewegung:

»Rot ist die Farbe, die dich mit allen anderen Menschen ›verbindet‹. Gerade deshalb ist sie aber auch die Farbe der äußersten Gegensätze und der tiefsten Trennungen. Blut bedeutet Leben oder Tod. Und wenn Blutsbande, Blutsbruderschaften, Blutopfer die intensivsten Verbindungen zwischen den Menschen stiften, so bildet ›eigenes und fremdes Blut‹ die älteste Schranke.« (»Die Farbe Rot«, Seite 14)

Dieses Zitat kann meiner Meinung nach fast als eine Synthese der Geschichte der kommunistischen Bewegung gelten, die aus dem Buch entnommen werden kann: Denn die Gemetzel, denen die Vertreter und Befürworter des Kommunismus zum Zweck der Gründung einer gerechten oder gerechteren Gesellschaft in der Geschichte ausgesetzt wurden, entsprechen bedauerlicherweise jenen Gemetzel, welche die unterschiedlichen Bruderkriege, Säuberungen und Liquidierungen, die gegenseitig zwischen den Vertretern des Kommunismus ausgetragen wurden, verursacht haben. Die Studie von Koenen analysiert das Entstehen der unterschiedlichen Interpretationen des Begriffs »Kommunismus«, die in der Geschichte der Bewegung entstanden sind, sowie auch die Kontraste, die Auseinandersetzungen, die gegenseitigen Kriege und die reziproken Ausschaltungsversuche und -operationen, welche innerhalb der unterschiedlichen Interpretationen des Kommunismus und innerhalb der diesen Deutungen entsprechenden Gruppen vorgefallen sind. Desgleichen widmet Koenen seine Aufmerksamkeit dem Aufstieg, Verfall und Zerfall des ersten und wahrscheinlich auf intellektueller Ebene auch wichtigsten Experimentes eines kommunistischen Staates, der Sowjetunion, und beschreibt zugleich die Gründe für die wirtschaftliche und intellektuelle Krise der UdSSR.

Kurz soll die Struktur und Organisation des Bandes erklärt werden. Koenen teilt seine Studie in einem einleitenden Prolog, auf den vier Bücher mit den Titeln »Kommunismus als Weltgeschichte«, »Das Marxʼsche Momentum«, »Warum Russland?« und »Der Kommunismus in seinem Zeitalter« folgen. Koenen endet mit einem Epilog, den er »Das weiße Rauschen« betitelt. Nicht zu vergessen ist selbstverständlich der ausführliche Fußnotenapparat, welcher das Buch abschließt. Jedes Buch selbst ist wiederum in Teile und in Kapitel gegliedert. Zusammengefasst nimmt das erste Buch, »Kommunismus als Weltgeschichte«, unterschiedliche Formen der Vorgeschichte des Kommunismus wie Platons Staat und religiöse Formen des Kommunismus in Angriff. Das zweite Buch, »Das Marxʼsche Momentum«, setzt sich unter anderem mit der Entwicklung der persönlichen und intellektuellen Geschichte von Marx, Engels und Lassalle auseinander. Das dritte Buch, »Warum Russland?«, befasst sich mit der Lage Russlands im 19. Jahrhundert, mit dem Einfluss von Marx auf das russische kulturelle Milieu, mit der Entwicklung des persönlichen und des intellektuellen Lebens von Lenin, mit den revolutionären Ereignissen im Jahre 1905 (»Petersburger Blutsonntag«), mit der Revolution von 1917 und mit dem russischen Bürgerkrieg. Das vierte Buch nun, »Der Kommunismus in seinem Zeitalter«, beschäftigt sich mit Stalins Ergreifung und Konsolidierung der Macht, mit dem stalinistischen Terror, mit dem Entstehen der kommunistischen Partei in China und Maos Sieg in China, mit der kulturellen Revolution und mit dem Desaster der Wirtschaftspolitik Maos.

Zünftiger Humor der SPÖ-Jugend. Bierdeckel, Vorderseite Motiv Nr. 1 (© MAG3)

Kommunismus als Weltgeschichte
Um nun auf die Entwicklung von Koenens Buch auf detailliertere Art und Weise eingehen zu können, werde ich mich auf das erste Buch des Bandes »Kommunismus als Weltgeschichte« konzentrieren. Das Buch ist in zwei Teilen unterteilt: »Ex Occidente – Von den Ursprüngen« und »Die alte Welt des Kommunismus«. Die Geschichte und die Idee des Kommunismus geht der Form des modernen Kommunismus voran. Im ersten Buch wird thematisiert, wie der Kommunismus an sich selbst eine Weltgeschichte darstellt, d. h., er ist in den Ursprüngen der Menschheitsgeschichte verwurzelt. Koenen weist darauf hin, dass die Form des Kommunismus, die sich in der modernen Zeit entwickelt hat, tief mit der Geschichte der Gesellschaftsvorstellungen verbunden ist:

»Nicht nur der ›Urkommunismus‹ oder die ›Urhorde‹, die nach Ansicht vieler (nicht nur marxistisch inspirierter) Archäologen oder Ethnologen am Beginn der Menschheitsgeschichte gestanden haben sollen, auch die verschiedenen religiösen oder mythischen Ursprungserzählungen, in denen ein Urzustand paradiesischer Ungetrenntheit von Menschen und Natur und mehr noch ihr Verlust gleichsam ›erinnert‹ wird, verweisen darauf, dass der moderne Kommunismus keine historisch voraussetzungslose, sondern eine tief verankerte Gesellschaftsvorstellung gewesen ist.« (»Die Farbe Rot«, Seite 43)

Der moderne Kommunismus entsteht daher nicht aus dem Nichts. Er hat hingegen eine lange vorbereitende Geschichte und wird von verschiedenen Ideen beeinflusst, welche im modernen Kommunismus mit unterschiedlichem Ausmaß zusammengeflossen sind. Mit Bezug darauf erwähnt Koenen z. B. den Fall der ersten Vertreter der kommunistischen Bewegung in Frankreich, die am Anfang der 40er-Jahre des 19. Jahrhunderts zum Vorschein kommen. Diese beziehen ihre politische Botschaft auf uralte, universelle und evidente Elemente. Kommunismus wurde in dieser Zeit als ein politischer Vorschlag vorgestellt, der schon immer in der intellektuellen Geschichte und der Ideengeschichte vorlag: Kommunismus wurde insofern als eine Rückkehr zu den ursprünglichen, eigentlichen, wahrhaftigen Wurzeln der Menschheit selbst geschildert. Die grundlegende Struktur des Kommunismus ist nach dieser Auffassung immer dieselbe gewesen und geblieben.

Diese Struktur ist in Frankreich in jener besonderen Zeit von Begriffen begleitet worden, welche dieser Gesellschaft zu eigen waren, wie es z. B. für »commune«, für »bien commun«, für »communauté« der Fall war (siehe dazu Seite 44). Koenen macht darauf aufmerksam, dass die Geschichte des modernen Kommunismus nie von vorangehenden geschichtlichen Ereignissen getrennt werden kann. Z. B. lässt sich der moderne Kommunismus nicht von der französischen Revolution trennen. Generell kann der moderne Kommunismus nicht ohne die Berücksichtigung der modernen Geschichte interpretiert werden. Die Dimension, aus welcher die Überlegungen von Marx und Engels entspringen, erfasst einerseits das Entstehen des Geistes des Kapitalismus und dessen geschichtliche Entwicklung, gleichwohl meditieren sie Elemente aus der ganzen europäischen Geschichte, denn auch die monastischen Reformbewegungen, die häretischen und die millenaristischen Bewegungen haben einen Einfluss auf die Bildung des kommunistischen Denkens gehabt.

Des Weiteren ist nicht zu vergessen, dass die Denker des modernen Kommunismus Elemente des Gedankengutes von Griechenland und von Rom für sich beansprucht haben. Wenn auf der einen Seite Elemente des modernen Kommunismus in zahlreichen Bewegungen und Denkströmungen der Geschichte zu finden sind, darf auf der anderen Seite nicht vergessen werden, dass der Kommunismus selbst wiederum Ereignisse und Denkströmungen der Vergangenheit uminterpretiert hat, um sich diese ganz oder teilweise einzuverleiben und anzueignen, während versucht wurde, andere Ereignisse und widersprechende Denkströmungen zu minimieren oder gar ganz herauszustreichen. Die Geschichte war somit zu einem der primären Schlachtfelder der kommunistischen Staaten geworden, damit die Geschichte selbst auf die Zwecke des Kommunismus und seiner Legitimation zugeschnitten und adaptiert werden konnte. Koenen merkt diesbezüglich an:

»Weitaus stärker als alle blassen utopischen Zukunftsprospekte, stärker womöglich sogar als alle Nöte und Bedrängnisse der Gegenwart, war stets das Bedürfnis, sich eine Vorgeschichte auf den Leib zu schreiben und eine Tradition zu erfinden, in der man zuhause sein würde. Die Vergangenheit, sagt man, ist die einzige Utopie, die (wie scheinhaft auch immer) Identitäten schaffen und die zum Herzen wie zum Verstand sprechen kann.« (»Die Farbe Rot«, Seite 49)

Der Teufel, diesmal vor der Glotze, freut sich, weil die Rede vom »Rotfunk« nicht totzukriegen ist. Bierdeckel Vorderseite, Motiv 2 (© MAG3)

Das Ziel steht fest
Die Rekonstruktion und die Deutung der Geschichte und des Denkens im kommunistischen Milieu ist nach dem Schema erfolgt, die unterschiedlichen Momente der Geschichte und des Denkens als einen Weg zum Kommunismus selbst zu betrachten. Das Ziel der Geschichte wurde als schon im Voraus gegeben erachtet und die Epochen der Geschichte mussten in den unentrinnbaren Lauf zum Kommunismus hin als Bestandteile dieser Strecke eingefügt werden. Nichts hatte Wert außerhalb der im Voraus gegebenen Schema des Anfangs und Endes, des Sinnes und Zweckes der Geschichte und nichts könnte außerhalb dieses im Voraus gegebenen Schemas bleiben. Koenens Aufmerksamkeit richtet sich im weiteren Verlauf des ersten Buches zuerst auf die Schilderung der ersten Gesellschafts- und Religionsformen der Menschheit, dann auf die Beschreibung von Platons Kommunismus und geht in der Folge auf Aspekte der christlichen Lehre über.

Schließlich behandelt Koenen die Frage, ob bestimmte Persönlichkeiten der Geschichte als tatsächliche Vorläufer des Sozialismus gelten können. Die Auffassung nämlich, dass unterschiedliche Persönlichkeiten der Geschichte als Vorläufer des Sozialismus gelten können, gehört eben derjenigen Denkweise an, welche die ganze Geschichte als einen Weg und als eine Vorbereitung zum Kommunismus interpretiert. Koenen merkt hierzu mit Bezug auf Kautsky an:

»In jeder Phase der Geschichte fand Kautsky Formen eines mythologisch oder religiös verkleideten, friedlich oder kämpferisch praktizierten Kommunismus als Opposition gegen die blindwüchsige und gewaltsame Herausbildung der Klassen- und Herrschaftsordnungen: ›Es gibt kaum ein Zeitalter ohne Formen eines wirklichen oder doch eines angestrebten Kommunismus. An der Wiege der Menschheit stand der Kommunismus, und er ist noch bis in unsere Zeit die gesellschaftliche Grundlage der meisten Völker gewesen‹.« (»Die Farbe Rot«, Seite 51)

In diesem Zusammenhang analysiert Koenen die Persönlichkeiten, die als angebliche Vorläufer des Sozialismus gelten sollten, und überprüft die Stichhaltigkeit jener Interpretationen, die diese Persönlichkeiten als Vorläufer des Sozialismus einstufen. Es ist in dieser Hinsicht sehr interessant, dass Koenen die Stichhaltigkeit der Deutung, die in den unterschiedlichen chiliastischen Bewegungen des Mittelalters und der Renaissance Antizipationen der kommunistischen Ideen ansehen will, zumindest in einigen Fällen in Abrede stellt. Im Allgemeinen weist Koenen darauf hin, dass all den millenaristischen Strömungen gemeinsam ist, dass sie sowohl von einer quietistischen, wie auch von einer blutdürstigen Attitüde gekennzeichnet sind. (»Was in den theologischen Manifesten all dieser millenaristischen Propheten am stärksten frappiert, ist das unvermittelte Schwanken zwischen Quietismus und Blutdurst«, Seite 104.) Koenen weist dann im Besonderen die Deutung nachdrücklich ab, dass Thomas Müntzer als Vorläufer des Sozialismus interpretierbar sei, da Müntzer nach Koenens Ansicht nicht von sozialen Beanspruchungen bewegt wurde, sondern vom Zweck, eine Theokratie zu gründen.

Im ersten Buch seines Bandes setzt sich Koenen auch mit unterschiedlichen Utopien auseinander, welche von der Reformationszeit bis in die Epoche der Aufklärung vorgeschlagen wurden. Hierbei stellt er eine Anzahl gemeinsamer Charaktere dieser Utopien fest. Stets findet sich: Die kommunistische Gemeinwirtschaft, in welcher das Privateigentum abgeschafft ist; die Ablehnung des Geldes; die Behauptung der Autarkie; der Primat der Landwirtschaft; die rigide Kontrolle der Familienordnung und der Geschlechterordnung; die Ablehnung der freien Kunst und die Anwesenheit von Repressionsorganen. Ebenfalls innerhalb dieses ersten Buches seines Werks befasst sich Koenen mit Aspekten der französischen Revolution mit besonderer Berücksichtigung der Periode des Terrors. Bezüglich des Entstehens des modernen Sozialismus analysiert Koenen Persönlichkeiten wie Saint-Simon, Fourier und Owen und schildert ihre eigenen Projekte, um dann zum Erscheinen des modernen Kommunismus im 19. Jahrhundert überzugehen. Koenen merkt hierzu an:

»Als ›Kommunismus‹ wurden alle Theorien oder Bestrebungen bezeichnet, die im (kapitalistischen) Privateigentum das zentrale Hindernis jeder wirklichen Volkssouveränität, politischen Gleichheit und sozialen Egalität, aber auch die Quelle eines neuartigen Massenelends sahen und daher nichts weniger als seine radikale Abschaffung oder Aufhebung forderten.« (»Die Farbe Rot«, Seite 218)

Die erste Persönlichkeit, die Koenen innerhalb der Geschichte des modernen Kommunismus untersucht, ist die von Auguste Blanqui. Blanqui ist derjenige, der erklärt, dass ein Krieg auf Leben und Tod zwischen der proletarischen und der bürgerlichen Klasse begonnen habe und ausgetragen werden wird. Der Kampf betrifft die Alternative zwischen monarchischer Legitimität und demokratischer Volkssouveränität: Es liegt nach der Auffassung von Blanqui keine dritte Möglichkeit zwischen diesen zwei Optionen.

Gerd Koenen © Christoph Mukherjee

Der zweite Teil der Rezension findet sich hier.

Gerd Koenen, »Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus«, C.H. Beck, München 2017

Link: https://www.chbeck.de/koenen-farbe-rot/product/20530835

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