Illustration © Benedikt Haid
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»Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus« – Teil 2

Im zweiten Teil der Rezension des neuen Werkes des Historikers Gerd Koenen »Die Farbe Rot« widmen wir uns neben der kritischen Würdigung einer kommunistischen Perspektive der aufregenden Frage, weshalb es gerade in Russland zu einer Revolution kommen konnte. Dabei wird ein Licht auf die besonderen historischen Umstände des Lebens- und Bildungswegs von Marx und Lenin geworfen.

In unserer ausführlichen Besprechung des Bandes »Die Farbe Rot« folgt nach der Betrachtung des ersten Buches nun ein Überblick über die noch ausstehenden drei Bücher des Bandes. Das zweite Buch trägt den Titel: »Das Marxʼsche Momentum« und besteht aus drei Teilen, die wie folgt übertitelt sind: »Die Geburt der modernen Welt«, »Sozialistische Gründerzeit« und »Age of Empire«. Dieser Band ist den beiden Persönlichkeiten Marx und Engels gewidmet. Zuerst setzt sich Koenen mit der Rekonstruktion des Lebens, des Bildungswegs und des familiären Milieus von Marx und von Engels auseinander. Im Unterschied zu all den anderen Formen von Kommunismus und von Sozialismus zeichnet sich Marx dadurch aus, dass er nie eine Rückkehr zu alten, scheinbar schützenden Lagen befürwortete, um die Armut zu bekämpfen. Armut soll hingegen auf eine andere Art und Weise als mit dem nostalgischen Vorschlag der Wiedereinführung alter Produktionssysteme bekämpft werden. Sentimentalismen innerhalb der Bekämpfung der Ungerechtigkeit seien nicht erlaubt, denn Marx ist strenger Befürworter der Notwendigkeit, wissenschaftliche Methoden zur Bekämpfung der Ungerechtigkeit zu verfolgen.

Galerie der Rothäute, wir erinnern uns gut. Hans Glaser: vergessen? (© MAG3)

Nicht Gleichheit, sondern ermöglichende Gleichstellung
Um ein deutlicheres Bild der Lage zu geben, in der die Spekulation von Marx entstanden ist, beschreibt Koenen den Übergang von grundsätzlich landwirtschaftlichen zu industriell hochentwickelten Verhältnissen, der englischen Wirtschaft in jenen Jahren, als sie ihre industrielle Revolution durchlief. Dieser Abschnitt wird von der Analyse des numerischen Anwachsens der Arbeiterklasse in Großbritannien begleitet. Zurückgekehrt zur Analyse von Marxens Denken, weist Koenen darauf hin, dass Kommunismus nach Marx keine einfach egalitäre Gesellschaft wäre. Der Kommunismus ist nicht ein Reich der Gleichheit, sondern ein Reich der Gleichstellung, die ihrerseits den Ausdruck der Vielfalt der Bürgerinnen und Bürger ermöglichen soll. Die verschiedenen Neigungen, Bedürfnisse, Fähigkeiten und Lebensentwürfe würden im verwirklichten Kommunismus zum Ausdruck kommen. Koenen beschreibt dies sehr eingängig so:

»Eine kommunistisch verfasste Gesellschaft wäre demnach eine, in der in vielfältig konzertierten, persönlichen wie gemeinschaftlichen Anstrengungen nützliche und ansehnliche Dinge produziert, gesellschaftliche Probleme gelöst und technische Innovationen entwickelt, wissenschaftliche Entdeckungen gemacht und Werke der Kunst und Kultur geschaffen würden, so wie in einem Labor, Atelier oder Orchester alle im Idealfall auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten und zugleich den Ehrgeiz entwickeln, das Beste aus sich selbst herauszuholen – durchaus übrigens unter strikter Leitung (vom Typus eines Dirigenten), wie es sie aus sachlichen und funktionellen Gründen vermutlich immer geben müsste. Aber solche Leitungstätigkeiten würden vielleicht auch wechselweise ausgeübt werden können, während zugleich jede lebenslange Fesselung an monotone, geistlose, subalterne Teilarbeiten und Einzelberufe entfiele, weil das nicht nur entwürdigend, sondern auch unproduktiv wäre. […] Dieser in keiner Weise vorgezeichnete Weg zum ›Sozialismus‹ bzw. ›Kommunismus‹ bedeutete zunächst einmal also ›nur‹ das eine: den Austritt aus der von blanker Notdurft und physischem Zwang bestimmten, barbarischen ›Vorgeschichte‹ der menschlichen Gattung – und damit die Eröffnung ihrer eigentlichen Geschichte, in der die Subjekte der fortgeschrittenen Gesellschaften ihre Lebenswelt nun endlich mit Bewusstsein würden gestalten können. Diese neu eröffnete Geschichte wäre ein Kosmos neuer, noch gar nicht absehbarer Herausforderungen und Konflikte; nur würden diese Gegensätze, wie sie sich aus den unterschiedlichen Temperamenten, Neigungen oder Meinungen der Menschen zwangsläufig ergeben, keinen unversöhnlichen (›antagonistischen‹) Charakter mehr besitzen und also auch nicht mehr durch Zwangsmittel entschieden werden müssen, vielmehr durch freie Übereinkünfte und demokratische Verfahren geregelt werden können.« (»Die Farbe Rot«, Seiten 291–293)

Koenen bemerkt jedoch in diesem Zusammenhang, dass das Marxʼsche Modell für gewisse Beunruhigung sorgte, da es zusammen mit der Überzeugung, dass ein Fortschritt stattfindet, diesen an eine ganze Reihe von Ereignissen und historischen Phänomenen gebunden sieht, wie Entfremdung, Enteignung, Ausbeutung, Unterdrückung, Sklaverei und Ungleichheiten. Diese unerfreulichen Begleiterscheinungen müssen als notwendig in Richtung des Fortschrittes selbst begriffen werden. D. h., Marxens Interpretation der Geschichte, wenngleich sie von der Durchsetzung des Fortschrittes wissenschaftlich überzeugt ist, ist auch davon überzeugt, dass zur Erlangung dieses Fortschrittes selbst eine beinahe unendliche Reihe von Kämpfen, Gemetzeln und Ausbeutungen notwendig sein werden. Koenen merkt bezüglich des Denkens von Karl Marx dazu:

»… ohne feudale Hörigkeit keine Steigerung der Agrarproduktion und Städtebildung im europäischen Mittelalter, und ohne kapitalistische Lohnarbeit, sogar ›Lohnsklaverei‹, und womöglich ohne koloniale Ausbeutung keine moderne Industrie – und somit erst recht kein moderner Sozialismus. Allerdings, so die dialektische Antithese: Ohne den Bürgermut vor Fürstenthronen und ohne den beständigen Widerstand der Ausgebeuteten und Unterdrückten, ohne den Stachel der Klassenkämpfe also hätte es erst recht keinen Fortschritt, sondern nur Stagnation und Verfall gegeben. So würde dann eben die erwähnte, lange Genealogie der ›Vorläufer des neueren Socialismus‹ entdeckt oder vielmehr frisch entworfen, die dem historischen Fortschritt die Sporen gaben.« (»Die Farbe Rot«, Seite 301)

Im zweiten Buch des Bandes erweist sich die Schilderung und die Rekonstruktion der »Partei Marx« ebenfalls noch als empfehlenswert. Diese Bezeichnung stammt aus den offiziellen Anklageakten, die im Zusammenhang mit dem Kölner Kommunistenprozess im Jahre 1852 erhalten geblieben sind. Es ist genau diese Bezeichnung, die Marx den ersten Schritt zu einer immer größer werdenden Bekanntheit verschafft. Marx wird in jener Zeit zu einem zunehmend wichtigen politischen Referenzpunkt und stellt somit nicht mehr ausschließlich die Figur des theoretischen Intellektuellen und Publizisten dar. Koenen rekonstruiert auf ausführliche Art und Weise die unterschiedlichen Strategien und Schachzüge, durch die Marx seine eigene Auffassung des Sozialismus und des Kommunismus von allen Interpretationen abgrenzen und unterscheiden will, die den anderen zeitgenössischen kommunistischen Gruppen eigen waren. Der Rückzug aus dem Bund der Kommunisten ist ein Beweis dafür, dass Marx seine eigene Theorie des künftigen Kommunismus frei von Einflüssen andersdenkender politischer MitstreiterInnen erarbeiten wollte. (Dieser Zweck der Abgrenzung beeinflusste auch Marxens Verhältnis zu Lassalle. Ferdinand Lassalle hat eine intellektuelle und politische Alternative zur Partei Marx darstellen können, da unter anderem Lassalle die Linie der Sozialdemokratie repräsentierte, welche keine Frontalpolitik, sondern eine Politik der Vereinbarung mit der Bismarck-Regierung innerhalb Deutschland verfolgte. Für Marx eine Art Verrat und somit indiskutabel.)

Dieses Fähnlein wurde eingerollt. Don Eisenfusz Jonson: votation for the red (© MAG3)

Warum ausgerechnet Russland?
Das dritte Buch, »Warum Russland?«, befasst sich mit der Frage, weshalb die Revolution genau in Russland erfolgte. Es besteht aus den Teilen »In Oriente – Der Osten wird rot«, »Vom Weltkrieg zur Weltrevolution« und »Marsch ins Niemandsland«. Die Antwort auf die Frage, weswegen die Lage in Russland für die Revolution besonders günstig war, wird von Koenen am Anfang des dritten Buches geliefert:

»Nirgendwo anders als in Russland, genauer gesagt, im Zentrum des im Weltkrieg kollabierenden Russländischen Vielvölkerreichs, hatte eine so vergleichsweise kleine Kampforganisation wie Lenins Bolschewiki eine so große Macht so widerstandslos an sich reißen können. Nirgendwo anders hätte sie diese einmal usurpierte, mit kompromisslosem Terrorismus ausgeübte Staatsmacht in einem mehrjährigen Bürgerkrieg so triumphal behaupten, die historisch gewachsenen sozialökonomischen Strukturen so radikal einschmelzen und die abgefallenen Reichsteile so weitgehend zurückerobern können, um aus diesem heterogenen Material einen Suprastaat von solch neuartigem Zuschnitt, solcher Potenz und solch internationaler Ausstrahlung zu errichten. Nichts von alledem war ›historisch notwendig‹. Aber es war historisch möglich.« (»Die Farbe Rot«, Seite 480)

Koenen lässt der Schilderung und Interpretation der Ereignisse der sowjetischen Revolution die Rekonstruktion der allmählich entstehenden geschichtlichen Bildung des immensen russischen Kaiserreiches vorangehen, wobei Koenen hierbei ständig auf die Tradition des Autokratismus und auf den fast absoluten Mangel von Bürgerrechten hinweist. Koenens Interesse gilt dann der Schilderung der russischen gesellschaftlichen Lage im 19. Jahrhundert, die aus zahlreichen sozialen und rechtlichen Gründen – wie z. B. Lebensbedingungen der Bauern, Staatsschulden, absolute Abwesenheit von Anerkennung der fundamentalen Rechte, ständige Unterdrückung, Pogrome, Zensur, Polizeikontrollen, Ineffizienz der Staatsverwaltung – einem wahren Pulverfass glich. Trotz dieser enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, welche das russische Kaiserreich innerhalb des 19. Jahrhunderts durchleiden musste, zeichnete sich die russische Gesellschaft auch infolge eines sehr schnellen Anwachsens des Bildungsniveaus zahlreicher Bürgerinnen und Bürger aus. Die kulturelle Lebendigkeit Russlands steht hierbei außer Frage: Russland war trotz der enormen Armut auch ein Land von immensem kulturellem Potenzial.

Dieses Potenzial bringt trotz der erwürgenden Zensur eine rapide Zirkulation von neuen Ideen mit sich. Nach der Beschreibung der Entwicklung des russischen Kaiserreichs im 19. Jahrhundert widmet Koenen der Schilderung des Lebens und der Bildung Lenins vor der Revolution seine Aufmerksamkeit. Die russischen und auch die ausländischen Milieus von Genf, München, Paris, London, Zürich und Krakau, die Lenin besuchte und in denen seine Ideen zur Heranreifung kamen, werden eingehend besprochen und geschildert. Gleichzeitig werden auch Leben, Bildung und politische Entwicklung anderer Persönlichkeiten rekonstruiert, etwa jene Stalins. Zugleich können die LeserInnen die Entwicklungsschritte von Lenins Auffassung der Notwendigkeit einer zentralen Führung für jedweden revolutionären Prozess begreifen. In dieser scheint Koenen die grundlegende Fortsetzung des kaiserzeitlichen Autokratismus im revolutionären Zeitalter zu sehen und damit auch die Ursache für die Fortsetzung der absoluten Vernachlässigung jedweder Form von Bürgerrechten.

Im 20. Jahrhundert kann eine Beschleunigung der Ereignisse in Richtung Revolution festgestellt werden. Ab dem Jahr 1905 verschlechtert sich die Lage des Kaiserreiches stetig. Die Unfähigkeit des Zarentums und seiner Verwaltung, auf die Änderungen der Gesellschaft angemessene Antworten zu finden und einen entsprechenden, von liberalen Maßnahmen gekennzeichneten Reformprozess aufzubauen, lässt die politische Lage immer stärker außer Kontrolle geraten. Die Entfernung zwischen Staat und Gesellschaft wird nicht mehr lösbar. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges gibt dann dem Zarenstaat den Todesstoß. Innerhalb der Beschreibung des Ersten Weltkrieges werden die unterschiedlichen Strategien eruiert, die Lenin zugunsten der Vorbereitung der Revolution erarbeitet. In diesem Zusammenhang erweist sich Koenens Schilderung der Kontakte und der Zusammenarbeit zwischen deutschen Geheimdiensten und bolschewistischen Gruppen zur Schwächung des Machtapparates des Zarenreiches als besonders bemerkenswert.

Das Unvorbereitet-Sein des russischen Kaiserreiches auf den Ersten Weltkrieg wird von Koenen ausführlich geschildert. Dann wird das Revolutionsjahr 1917 zum Zentrum der Aufmerksamkeit des Autors, wobei Koenen mehrmals unterstreicht, wie die bolschewistische Regierung ab dem Oktober 2017 mit Handstreichen, Unterdrückung der Oppositionen und Missachtung der Ergebnisse freier Wahlen vorging. Koenen beschreibt dann die zahlreichen Massaker, die im Bürgerkrieg vorfielen. Gewisse Elemente dieser Handlungsweisen der bolschewistischen Regime lassen sich in Koenens Darstellung bereits als Vorboten des stalinistischen Terrors deuten und anerkennen.

Gegenüber Gold hat Rot kaum eine Chance. Felipe Ehrenberg: viejo mundo | nuevo mundo (© MAG3)

Falsche Gegner
Das vierte und letzte Buch, »Der Kommunismus in seinem Zeitalter«, beinhaltet die Teile »Der rote Planet« und »Die postkommunistische Situation«. In diesem Abschnitt des Buches wird zuerst die (zwar vollständig blinde) Strategie der kommunistischen Parteien in Westeuropa aufgezeigt, die sich auf Geheiß der Moskauer Zentrale zuerst den sozialdemokratischen Parteien und den weiteren demokratischen Parteien entgegensetze, statt gegen die faschistischen und nationalsozialistischen Parteien vorzugehen. Beeindruckend ist in diesem Abschnitt des Bandes jenes Kapitel, das sich mit Stalins Säuberungen befasst. Koenen weist darauf hin, dass die Terrorstrategie nicht auf die besondere Persönlichkeit von Stalin zurückzuführen ist. Stalin selbst sei vielmehr ein Produkt der Partei:

»Das bedeutet umgekehrt aber nicht, dass die Lösung der rätselhaften Gewaltexzesse im Wesentlichen im Charakter Stalins als Mensch oder Unmensch, als kaukasischer Connaisseur von Macht und Gewalt, der ›gerne tat‹, was er tat, als Zyniker oder als Gläubiger, als Realist oder als Paranoiker zu suchen wäre. Sondern die Charakteristik Stalins verweist zurück auf die Charakteristik des Systems, das dies ermöglichte, und insbesondere der Leninʼschen Partei, die ihn tatsächlich ›nach ihrem Ebenbild erschaffen und erzogen‹ hatte, wie er 1929 in einer bescheidenen Dankrede zum 50. Geburtstag sagte. Die Partei selbst hatte ihm nach dieser Logik allmählich die volle Macht über jede beliebige Frage und jeden Einzelnen in seiner Umgebung übergeben – und er erschuf diese Partei und ihre Kader in einem blutigen Geburtsakt nach seinem Ebenbild neu.« (»Die Farbe Rot«, Seiten 923–924)

Koenen lenkt dann seine Aufmerksamkeit auf die Durchsetzung des Kommunismus in China und die Säuberungen, die während der Kulturrevolution begangen wurden. Es scheint der gemeinsame Nenner des Buches darin zu liegen, dass ganz unabhängig von der besonderen geschichtlichen Situation, der absolute Zentralismus und die konsequente Ablehnung von Bürgerrechten (da deren Anerkennung eben die Möglichkeit des Zentralismus in Abrede gestellt hätte) die Wurzel der fortschreitenden Eliminierung von jedweder Form von Nicht-Uniformität zur Zentralmacht gewesen ist. Im Zentralismus ist der Trieb, jegliche Form von zentrifugalen Kräften zu eliminieren, immanent. Es zeigt sich leider, dass allein der Verdacht, dass bereits der Ansatz, dass sich eine zentrifugale Macht irgendwie entwickeln könnte, für die Inhaber der zentralen Macht schon mehr als ausreichend ist, um dieses Phänomen vernichten zu wollen.

Abschließend darf zusammengefasst werden, Gerd Koenen gelingt es mit seiner umfassenden Studie, einen bedeutenden Beitrag zur großen Frage zu liefern, wie und warum es so schwierig ist, links zu sein.

»Die Farbe Rot« – erschienen bei C.H.Beck.

Der erste Teil der Rezension findet sich hier.

Gerd Koenen, »Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus«, C.H. Beck, München 2017

Link: https://www.chbeck.de/koenen-farbe-rot/product/20530835

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