»Lucht van een andere planeet« ist das Debütalbum des belgischen Gitarren-Duos De Vlaamse Primitieven. Der Name des Duos beleiht historische Bezüge. Künstler der sogenannten altniederländischen Malerei werden seit dem 19. Jahrhundert unter dieser Bezeichnung zusammengefasst. Ferner spielt »Primitieven« auf die musikalische Tradition des American Primitive an. Es geht also doppelt kodiert zur Sache, mindestens. Die Musik, die De Vlaamse Primitieven spielen, ist, will man ihrem Beziehungsreichtum versuchen gerecht zu werden, reichlich komplex. Ich kann hier nicht für die kompositorischen Feinheiten eintreten. Ich spiele kein Instrument und kann keine Noten lesen, aber Jan Boudart und Freek Vreys, die beiden Musiker, haben ihre Instrumente am Konservatorium studiert, wissen um historische Traditionen und die Stilgeschichte diverser Zupfinstrumente und beherrschen entsprechend ihr Handwerk. Sie wissen genau, was sie wollen, und setzen es entsprechend klischeefrei und kunstfertig um. Soweit zum alteuropäischen Bezugsrahmen, wenn man so will – auch wenn, das kann gleich einschränkend dazu gesagt werden, das Duo keine »alte Musik« im klassischen Sinn macht. Der Bezug zum American Primitive legt wiederum eine popkulturell informierte, postmoderne Lesart und Orientierung von De Vlaamse Primitieven nahe. John Fahey, Vater des Genres, warf allerlei (nicht nur musikalische) Einflüsse durcheinander, bediente sich als studierter Philosoph und Religionswissenschaftler mit großer Freiheit hier und da und band seiner Hörerschaft den einen oder anderen pseudo-authentischen Bären auf. Ich sage nur »Blind Joe Death«, und Freek Vreys und Jan Boudart haben es ebenfalls faustdick hinter den Ohren, wenn es um den spielerischen (zu gleichen Teilen reflexiven wie humorvollen) Umgang mit musikalischen Identitäten und Traditionen und damit einhergehenden Vorstellungen von Authentizität geht. Ja, das muss schon alles einmal so behauptet bzw. in den Raum gestellt werden, weil sonst entsteht vorschnell der Eindruck: »Na, meine Güte, spielen halt zwei Typen Gitarre und andere akustische Instrumente.« Das entspricht zwar den vordergründigen Tatsachen, aber – so ist das mit Popkultur als Kunstform – die Musik und deren Präsentation bedarf der Interpretation, Einordnung und ernsthaften Auseinandersetzung. Und da müssen wir uns schon die Mühe machen, Einflüsse herauszupräparieren und Bezüge nachzuvollziehen, um den hier dargebotenen musikalischen Vortrag entsprechend zu würdigen.
Der Titel des Albums geht auf eine Zeile von Stefan George aus dessen Gedicht »Entrückung« von 1907 zurück; symbolistische Dichtung, die hemdsärmelig als psychedelisch bezeichnet werden kann, und das passt zur Musik in ihren weltflüchtigen und nach anderen Bewusstseinszuständen strebenden Zügen. Die sorgfältig komponierten, mäandernden und repetitiven Kompositionen können einlullend oder halluzinogen bzw. wahlweise auf das Schlafzentrum oder das dritte Auge wirken, bis ich »in einem Meer kristallnen Glanzes schwimme« (ebenfalls Stefan George). Apropos psychedelisch: Ein deutlicher Bezugspunkt der Musik von De Vlaamse Primitieven findet sich im Psychedelic Folk der – grob gesagt – letzten 50 Jahre: von The Incredible String Band und Pentangle (John Renbourn, Bert Jansch) über die Third Ear Band und Current 93 bis hin zu neueren Projekten und Bands wie Six Organs of Admittance, Brethren of the Free Spirit und Vertreter*innen der belgischen Szene wie Silvester Anfang, Hellvete oder Ignatz, denen De Vlaamse Primitieven mit dem letzten Track ihres Albums ein kleines Denkmal gesetzt haben, denn Jan Boudart und Freek Vreys sind »Kinderen Van Dronevolk« (Kinder des Drone-Volks). Mit Blick auf die Traditionslinie des American Primitive soll auch nicht unter den Tisch fallen, dass der amerikanische Gitarrist und Bruder im Geiste, Liam Grant, die umfangreichen Linernotes zum Album verfasst hat und darin Fahey in fabulierender Manier in nichts nachsteht. (Eine gemeinsame Tour durch europäische Länder von Liam Grant und De Vlaamse Primitieven steht für den Frühling und Sommer dieses Jahres an.) Um noch ein Fass aufzumachen (und dann gleich wieder zu): Im Sound des Duos kann auch nach Versatzstücken des ECM-Katalogs und Musikern wie John Abercombie und Ralph Towner gesucht werden, aber um der Unübersichtlichkeit etwas Einhalt zu gebieten, verfolgen wir diesen Pfad an dieser Stelle nicht weiter. Was bleibt? Im hier angedeuteten Beziehungsreichtum verkörpert »Lucht van een andere planeet« von De Vlaamse Primitieven einen starken Beweis für die These, das noch lange nicht Schluss sein muss mit der Pflege und Aktualisierung musikalischer Außenseiter-Traditionen, die, aus Perspektive der Mainstream-Popdiskurse, gerne als antiquiert abgehakt werden, aber alles andere als tot sind: The underground is alive and kickin’!