Das 20. Jahrhundert ist wie keine Periode davor geprägt von der Auseinandersetzung zwischen Mensch und Maschine. Während sich auf der einen Seite des Spektrums die Industrielle Revolution verorten lässt, ist es auf der anderen die Digitale Revolution, die ihren Widerhall im ubiquitären Einsatz multimedialer Realitätsdeskriptionen und -konstrukte findet. Diese Auseinandersetzung beschreibt »materialisierte Kommunikationszusammenhänge« (1), die Aufschluss geben können über gesellschaftliche Dispositionen mit der umgebenden Materie. Es ist eine signifikante Ver- schiebung in der audiovisuellen Rezeption festzustellen, an dessen derzeitigem Ende das Bild musikalische Begriffe als die seinen annahm (2): »Das bewegte Bild, das in jedem Pixel veränderbare Bild, das wirklich musikalisch gewordene Bild, ist die Kondensation der Geschwindigkeit.« (3)
Gebrauchsgegenstände und Erfahrungen mit der Technik hinterlassen ihre Spuren in vielen Sparten der Kunstproduktion, die nun in der Lage ist, auf tagesaktuelle Diskurse einzugehen. So etwa Marcel Duchamps Readymades oder das wegen seines Mehrfachbelichtungseffekts für den Film relevante Gemälde »Nu Descendant Un Escalier II« (1912; li.). Neunzig Jahre später schließen sich auf dem PC audiovisuelle Informationsverarbeitungen in Echtzeit gegenseitig kurz.
Der Datentransfer passiert nicht mehr auf der analogen Oberfläche. Die Peripherie ist quasi in die Apparatur hineingewachsen, hat sie instrumental- isiert und personalisiert, die technische Aufrüstung von Freizeit, Haushalt und Arbeitsplatz als Resultat militärischer Abfallprodukte (4) erscheinen allge- genwärtig. Technische Errungenschaften vollziehen eine sukzessive Einebnung des »genialen Autors« hin zur kybernetischen Hyperverkörperlichung; zwischen produzierendem Subjekt und rezipier- endem Objekt entrollt sich ein immer fraktalisiert- eres Netz rhizomatischer Durchlässigkeiten. Die Operateure befreien die Maschine von ihrer Objekthaftigkeit (5) und affirmieren technisch vermittelte Prozesse zu gesellschaftspolitischen Kommentaren, in denen wegen ihres niederschwelligen Zugangs potenziell jeder zwischen Produzent und Konsument switchen kann. Dazwischen spannt sich jener technosoziale Möglichkeitsraum auf, um den es in diesem Text geht. Wir bewegen uns dabei nicht nur auf abgesicherten Trampelpfaden. Mit Dziga Vertovs »Wir«-Manifest im Kopf: Bekräftigen wir die Schönheit falscher Anschlüsse!
Um das Zusammendenken von Mensch und Maschine im 20. Jahrhundert anschaulicher zu gestalten, wurde eine Vierteilung vorgenommen:
Teil 1 behandelt die Maschine als Medium aus soziohistorischem Blickwinkel. Teil 2 zeigt exemplarisch Beispiele aus Musik und Film auf mit ihrer maximalen Verdichtung im »Weißen Rauschen« des 3. Teils und im letzten Abschnitt werden anhand des Musikstücks »Risveglio di una città« (1913) von Luigi Russolo einige dieser Stränge wieder zusammengeführt.
Maschine als Medium: Das Mensch-Maschine-Interface zusammenbauen
Die Maschine bezeichnet Gedankenmodelle und mythischen Umgang mit Technologie, sie ist nicht nur Katharsis, sondern auch »Prothesengott« (Sigmund Freud) und allmächtiger Prometheus. Sie verlängert den menschlichen Körper, ist Hilfe und Fluch zugleich. Filme wie »Metropolis« (1927, Fritz Lang), »Ballett Mechanique« (1924, Geroge Antheil/Fernand Léger), »Entuziazm« (1930, Dziga Vertov), »2001« (1968, Stanley Kubrick), »Terminator« (1984, James Cameron), »Robocop« (1987, Paul Verhoeven), »Tetsuo« (1989, Shin’ya Tsukamoto), die »Matrix«-Trilogie (1999-2003; Andrew und Lana Wachowski) oder »Ghost in a shell« (1995, Mamuro Oshii) künden genauso vom heraufziehenden Maschinenzeitalter wie die zahllosen Roboter-Filme (6), das Drama »R.U.R. – Rossumovi Univerzální Roboti« (1920) von Karel Čapek, William Gibsons Buch »Neuromancer« (1984) und »The Third Wave« (1980) von Alvin Toffler, die Platten »Die Mensch Maschine« (1978, Kraftwerk) und »Man Amplified« (1991, Clock DVA) sowie die Kompositionen von Luigi Russolo, die Jazz- Musiker Sun Ra und Herbie Hancock, die sonischen Anschläge = Platten des Detroiter Techno-Projekts Drexciya und des New Yorker Rappers Rammellzee oder Erik Saties »Parade« (1917). In den Theaterarbeiten der russischen FEKS-Gruppe und den Biomechanik-Konzepten von Wsewolod Meyerhold werden maschinelle Bewegungsabläufe durch Schauspieler dargestellt, der Choreograf Busby Berkeley inszeniert Tänzerinnen als geometrische Figuren. Eine der wohl frühesten diesbezüglichen Schilderungen stammt von Francis Bacon, der in »Neu-Atlantis« (1627) recht ausführlich Apparaturen zur Erweiterung der Sinne beschreibt. Der Subtitel zu Mary Shelleys »Frankenstein« (1818) – »The modern Prometheus« – lieferte ein gern zitiertes, programmatisches Schlagwort (7).
»Matrix«
Die Maschine versetzt den Menschen in die Lage, nicht-subjektive Verfasstheiten mitzudenken und das Unbewusste in für die Außenwelt hör- und sichtbaren, jederzeit abrufbaren Operationen bereit- zustellen: Der »Geist in der Maschine« gerinnt zu einer Projektion, in der sich der »fehlerbehaftete« Mensch der »perfekten« Maschine annähert, die Maschine zum idealisierten Platzhalter zwischen Utopie und Dystopie wird.
»Robocop«
Woraus sich als definitorische Annäherung an das Mensch-Maschine-Interface eine technik- induzierte Subjekt-Projektion mit den Variablen Traditionsverlust, Reproduktion, Körperlichkeit und Beschleunigung ableiten lässt.
Unter dem Eindruck der Fließbandarbeit, angetrieben von den Ûberlegungen von Frederik Taylor und Henry Ford, dem Wolkenkratzer(mythos) und dem technischen Fortschritt infolge des Ersten Welt- kriegs, kann man für die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine auf breiter Basis verhandelte Technik-Begeisterung konstatieren, die ihren augenscheinlichsten Niederschlag in den theoretischen Abhandlungen von Russolo oder Vertov findet. Dagegen zeigen etwa Benjamin, Freud (8) und Kracauer, zu welch scharfen Verschiebungen es zwischen dem (verkollektivierten) Individuum und der als Individuum wahrgenommenen Masse kommt und weisen dem »Maschinenkult« potenziell faschistoide Implikationen zu – Tendenzen, die sich bereits im Futurismus der späten 1910er Jahre bemerkbar gemacht hatten. (9) Die Zwischenkriegszeit ist eine Zeit der großen Umbrüche, in denen die unterschiedlichen sozialen, ideologischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die folgenden Jahrzehnte angedacht wurden, um die menschlichen Rhythmen, Sensibilitäten und kreativen Dynamiken mit denen der Maschine als Opposition zum »primitiven Habitus der Maschine mit menschlichem Charakter« (10) zu synchronisieren. In diese Periode fällt schließlich die Etablierung der Massenmedien: Mit Radio, Grammofon, Kino, Schallplatten, den ersten Ansätzen von Fernsehen, von Werbe- und Gebrauchsgrafik werden Situationen geschaffen, die mit traditionellen Informationsflüssen brechen und gleichzeitig neue Hierarchien strukturieren.
Nicht umsonst verhandelt Foucault den Körper entlang des zentralen Begriffs der Macht, woraus er die Komplexe Körper/Waffe, Körper/Instrument und Körper/Maschine ableitet. (11) Die gegen- seitigen Anpassungsstrategien sind demnach nicht erst eine Entwicklung der Moderne, sondern lassen sich bis weit über die Industrialisierung hinaus zurückverfolgen. Die Maschine aber – mit all ihren ideologischen, haptischen, audiovisuellen und produktionsbezogenen Qualitäten – verdichtet sich im 20. Jahrhundert zu einem Fokus und Transformator, dessen ästhetische Vereinnahmung die massenhaften/industrialisierten Konfrontationen transzendieren. Schließlich steht sie in Widerspruch zur anthropozentrischen Exklusivität und stellt ihr den technisch vermittelten Anderen gegenüber: Aus menschlicher Hand wird ein Konstrukt geformt, das den Menschen überstrahlt und die göttliche Ordnung durch einen Hybriden ersetzt, welcher nach Ansicht einiger Futuristen in der Lage wäre, ohne weibliches Zutun neues, maschinell erzeugtes Leben zu reproduzieren. (12) Nach wie vor sind indes Gender- und Ethnizitätsdiskrepanzen aufrecht, immerhin um einiges verschoben. »Vor dem Strom sind alle gleich« ist affirmative Selbsttäuschung, Heterogenität gutgemeintes Wunschdenken.
Jedenfalls lässt sich in den aktuellen Diskussionen ein wachsendes Bestreben ausmachen, standard- isierte Tools (Geräte, Software) für eigene Zwecke zu adaptieren und so Globalisierungstendenzen Do-it-yourself-Prototypen entgegen zu stellen. Die Aura des Laptops als interaktive Emergenz hat heutzutage ausgespielt, weil er schon längst in den Kanon gängiger Aufführungs- und Speicher- praxen eingemeindet wurde. Nach dem Experimentierzeitalter muss sich erst noch zeigen, wie sich virtuelle Datenströme und gesellschaftliche Prozesse gegenseitig umrechnen lassen:
Digital communication have pitched the idea of space into confusion, so the relationship of sound to space has become an immensely creative field of research. […] A greater understanding of how human perception and psycho-physiology works runs in parallel with the fascinations of the sounds that surround us yet lie beyond our conscious awareness. (13)
Musiksehen/Bilderhören
Bei all den Betrachtungen über die Maschine ist die auditive Ebene von prominenter Bedeutung. Hier finden affektive Rezeption und geografische Standortbestimmung statt, da das Geräusch mit einer im Gedächtnis gespeicherten, jederzeit abrufbaren und perzeptiv ausgewerteten Erinnerung gekop- pelt ist. Die Maschinenmusik des 20. Jahrhunderts befreit die Musik davon, Musik sein zu müssen und erhebt das Geräusch zum egalitären Kompositionselement.
1919 wurde in Petrograd eine »Revolutionssinfonie« aufgeführt, an der die gesamte Stadtbevöl- kerung teilnahm. Nach einem vorher erstellten Plan wurden Maschinengewehr-Salven abgefeuert, Signalhörner und -sirenen betätigt, es erklangen Dampfer- und Lokomotivenpfeifen, Kirchenglocken läuteten. Eine ganze Stadt präsentierte ihren »Gebrauchslärm«.
Für sein bruitistisches Ballett »Parade« verwendete Eric Satie »außermusikalische« Instrumente wie Schreibmaschinen, Pistolenschüsse, Sirenen oder Schiffmotoren. Seine »Musique d’ameublement«, als deren Kompression »Parade« gelten kann, war, wie Satie es ausdrückte, eine Musik »zum Weghören«, die gleichzeitig das musikalische Spektrum um »trivialen Gebrauchslärm« vergrößerte. Der von »Parade« (14) ausgehende starke Impetus wurde, von seinen surrealistischen Implikationen entschlackt, nach dem Zweiten Weltkrieg von Pierre Henry und Pierre Schaeffer in der Musique Concrète weitergeführt. Verschiedene musikalische Genres wie Punk, (Free) Jazz und – wahrscheinlich am kohärentesten – Industrial und Electronica knüpfen an diese Traditionen an.
Dziga Vertov verwendete in seinen Film »Entuziazm – Sinfonija Donbassa« nach musikalischen Prinzipien (Intervall, Rhythmus, Kontrapunkt) strukturierte Töne und Geräusche. Sie bilden das Grundgerüst für die bildliche Montage. Der Subtitel »Sinfonie« ist für diesen Film programmatisch. Die grafische Auflösung dringt dabei in Bergwerke ein, in Minen, inszeniert Kühltürme und Fabrik- anlagen als Punkte und Linien. »Entuziazm« erwies sich aufgrund seines Geräusch-Soundtracks als wegweisend, ausschlaggebend dafür ist der repetitive Maschinentakt. Er symbolisiert die technisierte Transformation des Herzschlags, der auf die Geräusche von Maschinen, Hämmern, Sirenen, Straßen, Schienen und Menschen übertragen wird. Gleichzeitig geht es um eine Bewusstmachung der umge- benden Artefakte, also dem Ambiente, in dem der Musik funktional-abbildende Eigenschaften eingeräumt werden. Diese akustischen »Fotografien« sind authentisch, konkret und zugleich abstrakt. In der auditiven Wahrnehmung werden die konkreten, dynamisierten Geräusche derart miteinander verkettet, dass daraus eine als Musik rezipierte Abstraktion resultiert.
Die Kraftwerk-Platte »Die Mensch-Maschine« (1978, Klingklang) (15) verweist in der Nummer gleichen Titels recht augenscheinlich auf die Transformationsszene Marias aus Langs Film, während es bei der Nummer »Metropolis« richtig eindeutig wird. Die deutsche Band war in amerikanischen Disco- und (Prä-)Techno-Szenen – und besonders in der »Motorcity« Detroit – sehr beliebt. Die germanischen Mythen wurden von Theorien der »Black Diaspora« und von Tofflers Techno-Visionen ersetzt, der Film »became a reminder of things to come, a mechanical ballet that constantly renewed itself with each successive generation.« (16)
Für den österreichischen Klangforscher F. Pomassl hat aktuelle Musik schon lange nichts mehr mit Musikinstrumenten zu tun. Seine Audiokunst zielt auf den ganzen Körper ab, da die Ausrichtung auf die Ohren eine Limitierung darstellt. Zukünftige Musiken inkorporierten immer schon den der- zeitigen Stand der Technologie, wie sie sich aktuell in Apparaturen wie Erdbeben-Simulatoren, Echoloten und Schwingungsgeneratoren manifestiert. (17)
Weißes Rauschen
Begreift man das Geräusch nicht als akustisches Restprodukt und dafür Musik nur noch als eine Verkettung von organisierten Audiophänomen, ergibt sich daraus eine Potenzierung des Klang- spektrums, das im »weißen Rauschen« (Noise) kulminiert. (18) In seinem Buch »Noise« postuliert Attali, dass jede zukünftige Musik als weißes Rauschen wahrgenommen wird, da sie mit den jeweiligen Mitteln ihrer Zeit den Riss im gesellschaftlichen Gefüge (»rupture«) bloßlegt. Weißes Rauschen wird bei Attali als politische Ökonomie aufgefasst, die im 20. Jahrhundert unter dem Eindruck technisch vermittelter Klang-, Speicher- und Reproduktionsmöglichkeiten Repetition als eine der mimetischen Grundkonstanten zur Sinnproduktion ausweist. Eine Traditionslinie, die sich recht stringent von den Futuristen bis zur aktuellen, Laptop-generierten Electronica-Musik nach- zeichnen lässt. (19)
Noise does in fact create a meaning: first, because the interruption of a message signifies censorship and rarity; and second, because the very absence of meaning in pure noise or in meaningless repetition of a message, by unchannelling auditory sensations, frees the listener’s imagination. (20)
Diese Befreiung funktioniert auch über das Tanzen, bei dem technischer Status quo und arche- typische Erfahrungen zusammenfallen: Techno als Reterritorialisierung des Körpers verweist einerseits auf Attalis »Zeit des Rituals«, andererseits auf den Beat als zweite grundlegende Prämisse des postindustriellen Zeitalters. Ähnlich dem Intervall organisiert der Beat Zeit und betreibt eine Verlängerung des Körpers in das DJ-Mischpult. Der in diesen Gedankenexperimenten eingefangene Noise vollzieht sich in einer radikalen Abwendung von sozioakustischen Konventionen: Die Platten- nadel taucht in den schwarzen Ozean des Vinyls und mutiert zu einem Sonar für zukünftige Musiken. Auch in diesen Ûberlegungen wird die futuristische Auslagerung oder Verlängerung des menschlichen Körpers in die Maschine anvisiert, indes unter den Vorzeichen afroamerikanischer Diaspora- und Techno-Theorien – siehe etwa Paul Gilroys »Black Atlantic«, die »Mythowissen- schaften« von Sun Ra, die Soundarchitektur von Jeff Mills (21). Kodwo Eshun hält dem weit verbreiteten Irrglauben, dass die Maschine Entkörperlichung betreibe, entgegen: »Maschinen ent- fremden uns nicht von unseren Emotionen, das Gegenteil ist richtig. Soundmaschinen verstärken, was man empfindet, verteilt über ein breiteres emotionales Spektrum als je zuvor im 20. Jahrhundert.« (22)
Die für die aktuelle Periode der »elektronischen Lebensaspekte« – um den Subtitel der Berliner Musikzeitschrift »de:bug« zu verwenden – als typisch anzusprechenden Konzepte rhizomatischer Netzwerke haben zusammen mit technischen Innovationen ein Framework an Referenzen evoziert, das elektronische Musik zu einem der adäquatesten Abbilder (populär-)kultureller Artikulationen hat werden lassen. So handelt es sich um eine Herangehensweise, die entlang des Mensch-Maschine-Interfaces die Zuschreibungen nach Operateur und Produktionseinheit, nach Subjekt und Objekt permanent gegeneinander oszillieren lässt und aus den Maschinen-Kommunkationscodes musikalische Funksignale für zukünftige Rezipienten destilliert. Maschinen-inhärente Prozesse wie Aleatorik, bewusst herbeigeführte Chaos-, Random- und Absturz-Zustände, Granularsynthese, Fraktalisierung und Abstraktion kartografieren jenen selbstreferenziellen Möglichkeitsraum, der sich zwischen Cages Musikvisionen und aktueller Computermusik auftut. (23)
Im digitalen Zeitalter wachsen Musik und Film nun zur audiovisuellen Interdependenz zusammen. Impulse aus Kunstgalerie (Installation) und Club (VJing) konstituieren ein Setting, das sich zwischen avantgardistischen Filmexperimenten der 1920er Jahre und prototypischen Software-Applikationen entfaltet. Die jeweiligen Abstraktionsebenen überlagern sich, wenn musikalische Kompositions- methoden visuell verarbeitet werden (Körnigkeit, Textur, Absturz) und Öffnungen in der Informationsverarbeitung bloßlegen: »Dabei finden Kollisionen statt zwischen mimetischen und prozessualen Verfahren, worin ein zentrales Konstitutionsmoment der Technokultur sichtbar wird.« (24)
Damit einher geht, dass es sich hierbei nicht mehr um medienspezifische Aussagen, sondern um eine Ökonomie der Schnittstellen handelt. Der aktuelle Standort des Mensch-Maschine-Interfaces lässt sich somit an den interdisziplinären Rändern und den wechselseitigen Ûberlagerungen verorten.
Im Techno-Raum: »Risveglio di una città«
Warum dieses Musikstück, von dem es wahrscheinlich noch nicht einmal eine originale Aufzeichnung gibt? Durch das vermehrte Interesse an futuristischer Musik in den letzten Jahren, u. a. ausgelöst durch computergenerierte Experimental- und Technomusik, ist der Italiener Luigi Russolo (1885- 1947) ins breitere Licht des musikhistorischen Diskurses gerückt. Weitere Gründe sind: Sein Manifest »L’Arte dei Rumori« (1913) markiert einen Schwellenpunkt zwischen Spätromantik und Maschinen- musik, seine Klangvisionen synchronisierten das akustische Spektrum mit dem industriellen Zeitalter und schließlich antizipierte er kompositorische Zugangsweisen, wie sie gut achtzig Jahre später unter dem Eindruck der aufkeimenden »Intelligent Dance Music« (IDM) mit dem Schlagwort »bed- room producer« zusammengefasst wurden. (25) Eine Eigenschaft, die ihn über Umwege mit Vertov verbindet, der sich bereits 1916 während seines Musikstudiums in St. Petersburg ein Tonstudio eingerichtet hatte, in dem er Tonexperimente in Korrelation zu den Bildmontagen anfertigte. (26) Russolo, der als Maler zur Musik gekommen war, blieb bis auf wenige Ausnahmen Zeit seines Lebens aufgrund seiner autodidaktischen Herangehensweise die Anerkennung beim Publikum und vor allem unter Fachkollegen verwehrt. Seine Entwürfe sind nicht Musik für Maschinen, sondern über sie.
Im 19. Jahrhundert entstand mit der Erfindung der Maschine das Geräusch. Heutzutage herrscht das Geräusch unumschränkt über die menschliche Empfindung. […] Diese musikalische Entwicklung verläuft parallel zum Anwachsen der Maschinen, die überall mit dem Menschen zusammenarbeiten. Die Maschine hat heute nicht nur in der tosenden Atmosphäre der Großstädte, sondern auch auf dem vor kurzem üblicherweise noch ruhigen Land eine solche Vielzahl und ein derartiges Zusammentreffen von Geräuschen geschaffen, dass der reine Ton in seiner Spärlichkeit und Eintönigkeit nirgendwo mehr Gefühlsregungen hervorruft. (27)
Die Futuristen favorisierten die Macht der Bewegung als zentrales Element und stellten sich einen hybriden Ûbermenschen aus menschlichen und maschinellen Organen vor, die der Perfektionierung und Beschleunigung der Bewegungsabläufe dienten. (28) Den Lärmkaskaden von »Risvelgio« kommt dabei programmatische Bedeutung zu, die den Futurismus um eine bruitistische Komponente er- weitern. In der Begeisterung für alles Maschinelle benutzte Russolo seine Klangmaschinen zur bewussten »De-Naturalisierung«. Statt der Natur wird ein maschineninduziertes Ambiente ent- worfen. Eine Tatsache, die aus damaliger Perspektive durchaus als revolutionär gelten kann. Aus heutiger Sicht mag man einwenden, dass Russolo zwar nicht allzu weit über diese Abbilder hinaus kam, mit »Risveglio di una città« aber ein Werk schuf, das von den Notwendigkeiten veränderter Zeitumstände komplett durchdrungen ist, mithin eine musikalische Momentaufnahme darstellt.
Bei »Risveglio« verzahnen sich die eingangs erwähnten Variablen des Mensch-Maschine-Interfaces griffig: Traditionsverlust/Nicht-Musiker, Reproduktion/Maschinenmusik, Körperlichkeit/De-Naturalisierung sowie Beschleunigung/Futurismus. Es ist wohl eine Ironie des Schicksals, dass Russolos Klangmaschinen (»Intonarumori«) nur noch als Baupläne und nur wenige Partituren existieren. (29)
Anmerkungen
(1) Kay Kirchmann: Verdichtung, Weltverlust und Zeitdruck. Grundzüge einer Theorie der Interdependenzen von Medien, Zeit und Geschwindigkeit im neuzeitlichen Zivilisationsprozess. Opladen: Leske+Budrich 1998, S. 239.
(2) Vgl. Werner Jauk: »Multisensorische Künste. Musikalisierung der Künste des ›common digit‹ und der ›re-defined bodys‹«, in: Sandro Droschl/Christian Höller/Harald Wiltsche (Hg.): Techno-Visionen. Neue Sounds, neue Bildräume. Wien/Bozen: Folio 2005, S. 99.
(3) Florian Rötzer: »Technoimaginäres – Ende des Imaginären«, in: Kunstforum International, Bd. 98, 1989, S. 55. Zit. nach: Jauk, S. 101.
(4) Vgl. Mercedes Bunz: »Das Mensch-Maschine-Verhältnis. Ein Plädoyer für eine Erweiterung der Medientheorie am Beispiel Kraftwerk, Underground Resistance und Missy Elliot«, in: Jochen Bonz (Hg.): Sound Signatures. Pop-Splitter. Frankfurt/M: Suhrkamp 2001, S. 272.
(5) Eine Herangehensweise, bei der aleatorische und Random-Prozesse zur Kompositionsmatrix werden. Weit davon entfernt, zu einer Materialschlacht auszuarten, sind den meist prototypisch veränderten Maschinen gestalterische Aufgaben zugeordnet. Das nach Zufallskriterien des I Ching aus Fieldrecording-Tonbändern montierte Stück »Williams Mix« (1952) von John Cage steht am Anfang einer Entwicklung, die bis zur Software »Oval Process« von Marcus Popp reicht, ein Tool mit der Intention, den Musiker gewissermaßen überflüssig zu machen. Siehe: Dieter Daniels: »Bild-Ton-Ûbertragung in Avantgarde und Mainstream«, in: Sabine Sanio/Christian Scheib (Hg.): Ûbertragung – Transfer – Metapher. Kulturtechniken, ihre Visionen und Obsessionen. Bielefeld: Kerber 2004, S. 395f.
(6) Etwa: Fred M. Wilcox‘ »Forbidden Planet« (1956), der auf dem in den 1950ern in den USA recht populären Charakter Robby the Robot basierte. »Forbidden Planet« war der erste Film, der einen, von den beiden Elektronikmusikpionieren Bebe und Louis Barron komponierten, komplett elektronischen Soundtrack hatte. Der wahrscheinlich erste Film-Einsatz eines elektrischen Instruments fand in »Stürme über dem Montblanc« (D 1930; R.: Arnold Fanck) statt, bei dem ein Trautonium Propeller- geräusche imitierte.
(7) Die Erschaffung eines neuen Menschen ist ein alter Mythos. Man denke etwa an die seit dem 12. Jahrhundert kursierende Legende des Golems. Dieser kam durch rituelle Magie in die Welt. Seit »Frankenstein« werden technische Apparaturen dazu verwendet. Eine wilde Mischung aus Beidem ist im Film »Metropolis« (D 1927) auszumachen. Fritz Langs kritische Zeitdiagnose an der Gesellschaft und den Verhältnissen dokumentiert sich u. a. an atavistischen Ûberlieferungen und Mythen: das an Blutlachen erinnernde Wasser, das Auto-da-fé der »Maschinen-Maria«, die Alchemiekünste des Erfinders Rotwangs und der Rückgriff auf archaisch-frühchristliche Riten (Moloch, Katakomben- kirche, Pentagramm). Diese Bildfolgen kontrastieren Langs »Maschinengläubigkeit«.
(8) Gleichzeitig sieht Freud in Kamera und Grammofon eine »Materialisation des dem Menschen gegebenen Vermögens der Erinnerung, des Gedächtnisses«. Zit. nach: Frank Hartmann: Medien- philosophie. Wien: WUV 2000, S. 196f.
(9) Dies wird besonders im späteren Werk des italienischen Futuristen Filippo Tommaso Marinetti offensichtlich: Seine Verherrlichung des »elektrischen Kriegs« und seine Begeisterung für den »Duce« schlagen sich in Texten wie Futurismus und Faschismus (1924) nieder. Siehe weiters das Kapitel »Futuristische Ästhetik und Ideologie«, in: Johannes Ullmaier (Hg.): Luigi Russolo. Die Kunst der Geräusche. Mainz: Schott 2000, S. 90-93. Es ist eine gängige Verkürzung, dem Futurismus per se faschistische Neigungen zuzuweisen.
(10) Vgl. Richard Stites: Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution. New York: Oxford University Press 1989, S. 170.
(11) Michel Foucault: Ûberwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 197.
(12) Der erste Roboter der Filmgeschichte war weiblich. An der »Roboter-Maria« aus »Metropolis« werden indes weiterhin männliche Blickregime und Projektionen verhandelt. Möglicherweise ist die Begeisterung für ein technisch reproduzierbares Wesen mithin dem männlichen Unvermögen zur (biologischen) Reproduktion geschuldet.
(13) David Toop: Haunted Weather. Music, Silence and Memory. London: Serpent’s Tail 2004, S. 3.
(14) RoseLee Goldberg: Performance Art. From Futurism to the Present. London: Thames & Hudson 2001, S. 77f.
(15) Ûbrigens mit einem Cover, das ohne weiteres von El Lissitzky hätte stammen können.
(16) Ken Hollings: »›We Are The Robots‹. ›Metropolis‹ and the Man-Machine«, in: The Wire. Issue 209, Juli 2001, S. 41. Siehe auch: Klaus Ambichl: Trans-Disko Express: Ansätze einer Phänomenologie von Diskothek und Clubkultur. Wien: Diplomarbeit 2006. Die Soundtrack-Neuinterpretation des Techno-Produzenten Jeff Mills (Tresor, 2001) kann unter der Flut an Vertonungen zu diesem Film als die wohl konziseste gelten.
(17) Didi Neidhart: »Shuttering Audio Interruptions in Sonic Science Pop«, in: skug – Journal für Musik, #48, 7-9/2001, S. 16ff.
(18) Jacques Attali: Noise. The Political Economy of Music. Theory and History of Literature, vol. 16. Minneapolis/London: University of Minnesota Press 2002, S. 33.
(19) Heinrich Deisl: Cultural Noise. Noise as a musical metaphor for contemporary aesthetics in popular culture. »Fourth Biennial Conference on Twentieth-century Music«, University of Sussex, Konferenztext, 08/2005.
(20) Hegarty befasst sich in seinem Buch ausführlich mit dem Zusammenwirken von Noise und Musik im 20. Jahrhundert. Paul Hegarty: Noise/Music. A history. London/New York: Continuum 2007.
(21) Tom Holert: »Jeff Mills: Haptiker und Plastiker«, in: Bonz (Hg.), S. 117-130.
(22) Kodwo Eshun: Heller als die Sonne. Abenteuer in der Sonic Fiction. Berlin: ID-Verlag 1999, S. -003. Originalbetonung K. E.
(23) Auf Cage verweisend, gibt López zu bedenken, dass sich bei aller Offenheit dieser Systeme nur zu gerne formal-ästhetische Kriterien tradieren, bei denen gestalterische Ansätze von technischen überlagert werden. Francisco López: Cagean philosophy: A devious version of the classical procedural paradigm, 1996.
(24) Christian Höller: »Avant-propos: Vom Sound zum Bild zu Techno-Visionen«, in: Droschl et al. (Hg.), S. 14.
(25) Mit weitreichenden Folgen, wie Ullmaier (S. 87f) zeigt. Siehe dazu auch seine Auswahldisko- grafie zur bruitistisch-futuristischen Musik (S. 103-106). Der amorphe Begriff »bedroom producer« referiert auf Musiker, die sich Elektronik autodidaktisch aneigneten und sämtliche Schritte, von der Komposition bis zur Distribution der CDs, in Eigenregie meist von Zuhause aus vollzogen (Aphex Twin, Autechre und Biosphere, aber auch Pole, Rehberg/Bauer oder Kid606). Zuschreibungen und Abgrenzungen sind wie üblich fließend, siehe beispielsweise Rob Young: »Worship the glitch: Digital music, electronic disturbance«, in: Rob Young/The Wire: Undercurrents. The Hidden Wiring of Modern Music. London: Continuum 2003, S. 45-58.
(26) Vertov als Musiker, »Entuziazm« als eine der frühen Ressourcen für (Experimental-)Elektronik und Musikclips? Bisher sind derartige Ûberlegungen in der Fachliteratur nicht zu finden. Zu schwer wiegt wahrscheinlich das filmische Erbe.
(27) Luigi Russolo: Die Kunst der Geräusche. 1, in: Ullmaier (Hg.), S. 5f.
(28) Paul Virilio: Rasender Stillstand. Frankfurt/M.: Fischer 1992, S. 137.
(29) Ab den frühen 1920er Jahren wurden besonders in Deutschland und der UdSSR eine ganze Reihe elektrischer Instrumente wie etwa das Trautonium (Friedrich Trautwein/Oskar Sala) und das Theremin (Lev Termen) vorgestellt. Eine ausführliche Dokumentation liefert Peter Donhauser: Elektrische Klangmaschinen. Die Pionierzeit in Deutschland und Österreich. Wien: Böhlau 2007.