Illustration © Pe Tee
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Beschäftigungstherapie #8

Ein philosophischer Marathon in Corona-Zeiten. Von Foucaultʼscher Isolation über Pagan-Hollywood, Pop Gossip Glam, linkes Theorie-Prepper*innentum und Nie-Marx-Leser Nietzsche bis zur Auflösung der Geschlechterordnung.

Es ist nicht gerade beruhigend, dass während (und nach) der Spanischen Grippe alles, was schiefgehen konnte, auch schiefging (von politischen Entscheidungen bis zum Aufstieg des Faschismus und der späteren Quasi-Verdrängung all dessen aus der Geschichtsschreibung). Allein der tägliche Blick ins Netz lässt einen schon jetzt kommende Einschätzungen als »Farce« und/oder »Tragödie« erahnen: Da wird das Verhalten der Après-Ski-Gastronomie in Ischgl schon mal als nicht »gierig«, sondern »fleißig« umgedeutet, bezeichnet der Innenminister schnell mal alle, die sich potenziell outdoor aufhalten wollen, flott als »Lebensgefährder« und gibt es im Netz mittlerweile zig Influencer*innen-basierte Selbstoptimierungs-Challenges zwischen Pimp-Your-Home-Office-Spießerhölle, Home-Shopping-Krisengewinn, Fitness durch »Powered by Heeressport«-Anleitungen sowie den Corona-trunkenen Versuchen, von Celebrities den jeweiligen Followern die Krise unter dem Motto »Stay & Pay At Home« als Chance zum Konsum von noch mehr Selfie-Super-Ego-Podcasts zu verkaufen.

Intro
1. Polizist: Wohnhaft …
Tscharli: Nedgern.
1. Polizist: Bitte?
Tscharli: Eine Wohnhaft hätten wir nicht gern, Marshall.
Gustl: Nicht einmal eine Untersuchungshaft.
(aus: »Münchner Geschichten: Der lange Weg nach Sacramento«, Helmut Dietl, 1975)

Aus der Geschichte
In »Überwachen und Strafen« (1975) analysiert Michel Foucault am historischen Beispiel der Pest und der Reaktionen darauf, wie auf diese »Ausnahmesituation« mit einem »Disziplinarprogramm«, welches direkt in die »Disziplinargesellschaften« geführt hat, geantwortet wurde. »Die Macht«, so Foucault, »errichtet Barrieren und Blockaden, mit denen sie den Raum durchsetzt« und »baut für eine gewisse Zeit eine Gegengesellschaft« auf, »die zugleich vollkommene Gesellschaft ist« (weil – wie aktuell überall zu beobachten – der öffentliche Raum zu einer No-go-Area erklärt wird, was auch bedeutet, dass Demonstrationen und Proteste zu einem von der Macht, die u. a. in Form einer Strafzettel, Anzeigen und Platzverweise austeilenden Polizei agiert, verfügten »No go« geworden sind).

Worum es dabei geht und was dabei herauskommt, fasst Foucault so zusammen: »Bannung des Übels, Unterbrechung der Beziehungen, Aufhebung der Zeit«. Gerade die letzten beiden Punkte werden uns aktuell ja gerne als »Chance« zwischen »Entschleunigung« – endlich mal das Zimmer aufräumen und jetzt aber Proust/Joyce/Bachmann lesen – und alpinen Volkserweckungslosungen auf »dass der Mensch wieder Mensch wird« (Andreas Gabalier) verkauft. So sehr die Erfahrung, dass ein Leben ohne Lohnarbeit nicht gänzlich langweilig und sinnlos sein muss, extrem super sein kann, so sehr kann dies auch jenen Privilegien geschuldet sein, die sich dadurch ergeben haben, dass die Nützlichkeit der Arbeit (ob nun prekär oder nicht) nicht über die Notwendigkeit des nicht lohnabhängigen Tuns triumphiert hat. So ist es immer noch ein Unterschied, ob mein Tun aus selbstgewählten Abhängigkeiten oder aus fremdbestimmten Zwängen heraus passiert (ob ich wie Ludwig II »der Welt abhanden« kommen will oder mich eher in Joy Divisons »Isolation« wiederfinde). Das nur mal dem nun Folgenden vorangestellt, wo sich als Quarantäne-Effekt auch eine gewisse, ungehemmte »Blah Blah, Blubber, Blubber, Fasel, Fasel«-Spongebob-Attitüde nicht ganz verbergen ließ.

Beyond »Hollywood Babylon«
In einer dieser entfernt von Kenneth Angers »Hollywood Babylon« inspirierten und haufenweise auf YouTube zu findenden US-Doku-Serien aus den 1980ern/1990ern über »Good Old Hollywood« und dessen Stars wird nicht nur der berühmte Satz von Hollywood als jenem Ort, wo es »more stars than there are in heaven« gibt, immer wieder bemüht, sondern auch von Folge zu Folge versucht, das Konzept »Star« (inklusive der wichtigen Kategorie »Diva«) zu entschlüsseln. Zu den tollsten Erklärungen gehört dabei der Ansatz, dass sich bei der Erschaffung dieser Stars alle Religionen der Welt zusammengetan hätten, um so neue Gött*innen zu generieren. Auch wenn die Beiträge der monotheistischen Religionen im Vergleich zu jenen des polytheistischen Heidentums eher marginal ausgefallen sein dürften, haben wir es hierbei dennoch auch mit typischen »Hollywood Babylon«-Bibel-Exegesen zu tun, die vor allem beim Alten Testament fündig wurden und hierbei sicher auch dem von H. P. Lovecraft hoch geschätzten dekadenten One-Hit-Wonder des kosmischen Horrors Leonard Clines zugestimmt hätten. In seiner 1927 erschienen literarischen Warnung hat der US-Schriftsteller sich nie und nimmer sprichwörtlich auf die Suche nach der verlorenen Zeit namens »Die Dunkle Kammer« begeben und das Alte Testament als »eigenartig formuliert und voller Sünde« beschrieben. Genau dem (und noch viel mehr) begegnen wir auf https://insearchofpaganhollywood.tumblr.com.

Wer sich immer schon gedacht hat, dass es neben »Hollywood Babylon«, Michael J. Weldons legendärer Enzyklopädie »Psychotronic Films«, Büchern wie »Incredibly Strange Films« (Re/Search), den »Midnight Movies« oder auch Amos Vogels Klassiker »Film als subversive Kunst« noch weit mehr geben muss, wird hier nicht enttäuscht. Sagen wir es mal so: Diese Seite ist wie eine Abenteuersafari auf den Spuren von Kenneth Anger, Jack Smith, Andy Warhol und John Waters, wo das »El Dorado« jenes verwunschene Pre-Code-Hollywood der Frühzeit des Kinos verkörpert, welches flamboyant, bizarr, queer, exotisch und sexy noch bis in die späten 1930er (also bis die Selbstzensur durch besagten Hays-Code endgültig exekutiert wurde) fortbestand. Wobei der Begriff »Pagan« ernster genommen wird als die Bezeichnung »Hollywood«. Findet sich hier doch neben einem ebenso (noch) vom deutschen Expressionismus wie (schon) von US-Pulp-Magazinen stark beeinflussten Hollywood-Surrealismus auch jede Menge zwischen Horror, Mystery-Thriller, Adventure und Science-Fiction durcheinander Gemixtes und erotisch Aufgeladenes aus aller Welt.

Ähnlich der auf der ebenfalls sehr empfehlenswerte Seite http://www.stonewallvets.org zu findenden Liste der »Songs of The Stonewall Jukebox 1966–1968« (mit jeder Menge Motown-Soul, viel Sly & The Family Stone, noch mehr Girl Groups und fast noch mehr von Burt Bacharach) fungiert dieses Pagan-Hollywood-Land auch als eine Art Primärfundus für all das, was sich so als Inspirationsquelle für den New Yorker Underground der 1960er zusammenimaginieren lässt. Klingt die Stonewall-Jukebox schon sehr danach, wie Andy Warhol in »Popism« die Klangkulisse in der Factory beschreibt, sowie nach dem, was sich The Velvet Underground wohl oft reingezogen haben und was dementsprechend Spuren bei ihnen hinterlassen hat, so stellen die Film-Stills (die von manchen Filmen das einzig noch existierende Material sind) unmissverständlich klar, wieso dieser Underground (bei solchen Vorbildern – und das im wahrsten Sinn des Wortes) nicht anders konnte, als »fantastisch, queer und medieninteressiert« zu sein, wie Diedrich Diederichsen in »Eigenblutdoping« (2008) schreibt.

Diederichsen bezieht sich dabei u. a. auf die »Underground«-Definition von Parker Tyler als »der queer-surrealistischen Rückseite« des »offiziellen Modernismus«, was auch gut über einen Großteil der auf Pagan Hollywood zu findenden Fotos, Film-Stills und Filme gesagt werden kann. Wobei sich schon hier (also damals) jenes »leere«, »verwaiste« und »ausgehöhlte« Hollywood andeutet, von dem Diederichsen (mit Rückgriff auf Kenneth Anger) als gleichsame Quelle campen Begehrens spricht. Der Verfall, die Dekadenz, die Exzentrik, all die Lost/Fallen Stars, das L.A.-Noir schimmert, flimmert, glitzert und glänzt hier zwar überall noch, aber das Verwelken und Verfaulen, das Modrig- und Rostigwerden scheint in diesen bekanntlich auch von Jack Smith so abgöttisch und leidenschaftlich geliebten »modrigen Filme« schon unmissverständlich mit eingeschrieben zu sein. Andererseits zeigt sich hier auch, was die Zensur des Hayes-Codes alles zunichte gemacht und zerstört hat, was einen aber nicht davon abhalten sollte, all die (später zweideutig versteckten) Codes in Sachen Exotica, Erotica und Narcotica hier mal ausführlich zu studieren (ganz zu schweigen von Film-Obskuritäten wie »Madame Satan« oder »Seven Footprints To Satan«). Dem campen Blicken und Denken schadet es sicher nicht.

Pop Gossip & Glamour
Dass Pop auch eine riesige Legenden- und Mythen-Maschinerie ist, muss wohl nicht mehr extra betont werden. Andererseits zeigen die letzten zwanzig Jahre auch, dass spätestens seit dem Siegeszug der Casting-Shows das Sublime, Geheime und (Un-)Heimliche nachhaltig zerstört worden ist. Wo Dieter Bohlen sagt »Das bist nicht du« und Celebrities rund um die Uhr ihr »im Internet gemachtes« Leben als Eigenproduktmarke posten, bleibt auch nicht viel Spielraum für irgendetwas jenseits der binären Kontrolllogik von 1 oder 0. Soll heißen: Es gibt keine Extravaganzen, Missgeschicke, Unfälle oder Skandale mehr, die sich nicht im Nachhinein (oder bei genauerem Hinschauen auch sofort) als ebenso konstruiert wie lachhaft erweisen (etwa der Volldeppen-Beef zwischen Michael Wendler und Oliver Pocher, der dann ganz zufälligerweise in einem Samstagabend-TV-Show-Spektakel kulminierte). Dazu gehört auch der Umstand, dass der Weg in die Celebrity Hall of Fame fast nur noch über eine Pole Position in der Hall of Shame funktioniert. Für Pop hat all das mitunter ähnliche Folgen wie Tschernobyl für die damalige UdSSR, nur dass sich diesmal die atomare Giftwolke (aka das obszön-pervers transgressive Pop-Unbewusste) als Präsident der USA manifestiert. Pop als gefährlicher Clown im Dienste der Banalität der Ununterscheidbarkeit zwischen dem Bösen und dem Blöden.

Weit entfernt von all dem (aber dennoch mit präzisem Blick darauf) finden wir auf https://dangerousminds.net gleichsam alles über Pop, was wir a) noch nie wissen wollten, b) immer schon geahnt haben, c) uns noch nie zu fragen getraut haben, d) nicht glauben können (etwa den Versuch, eine »Caligula«-Action-Figur-Serie für Kinder zu starten). Zwar krebst hier vieles naheliegenderweise in allen möglichen (digitalen wie analogen) Archiven herum, aber im Gegensatz zu retromanischen Hipster-Flohmärkten geht es bei Dangerous Minds fast immer um entweder Reissues (inkl. kritischer Updates rund um das Wieso und Warum), bizarre Netzfunde (etwa Public-Access-Cable-TV-Shows mit Live-Auftritten von Bands, von denen es sonst kein Video-Material gibt, oder die mittlerweile echt wie aus einer komplett anderen Welt daherkommende Sub-Kategorie »Als Drogen noch Live-TV-Shows regierten«), Bücher zu ultraspeziellen Themen (wie etwa »DEBAUCHED – Witchery and Devilry Vol. 1« über die »cottage industry of Satanic porn magazines«) aber auch zu (queerer) Kunst (u. a. mit ausführlichen Features zu Hannah Gluckstein, Hannah Höch, Penny Slinger, Kembra Pfahler oder Carrie Ann Baade), Mode (wo wir u. a. erfahren, wer all die supertollen Anzüge für Leute wie Hank Williams, Liberace, Elton John, Porter Wagoner, Gram Parsons und den Gold-Lamé-Anzug für Elvis entworfen und geschneidert hat) sowie dem Pre-Arcade-Brettspiel-Underground (»Before ›Grand Theft Auto‹ there was ›SCAM: The Game of International Dope Smuggling‹«) und grundsätzlich allem, was es sonst noch zwischen Overground als Underground und Kitsch als Avantgarde/Avantgarde als Kitsch im Popland gibt und gegeben hat. Aktuell und in Anbetracht der deutschen Übersetzung von »Sex Revolts« von Simon Reynolds und Joy Press empfiehlt sich vielleicht der Eintrag »Ladykillers: Murder ballads and the country women who sang them« mit »really dark shit« von den Gänsehaut erzeugenden Coon Creek Girls (»Pretty Polly«), der Antwort von Patsy Montana auf toxische Männlichkeit (»I Didn’t Know the Gun Was Loaded«) sowie dem Kitty-Wells-Klassiker »It Wasn’t God Who Made Honky Tonk Angels«.

Linkes Theorie-Prepper*innentum
Zu den Tätigkeiten, die aktuell als eventuellerweise doch etwas zu verfrüht angesehen werden könnten, mag die Lektüre der knapp 950 Seiten von »Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine« (Matthes & Seitz, 2019) aus der Denkwerkstatt von Dietmar Dath angesehen werden. Wobei alle 950 Seiten schon etwas gelogen wären, verliert (und verirrt) sich Dath doch hin und wieder enorm. Weniger jedoch als »Lost in Space«, denn als »Lost in Marxismus-Leninismus«, was dann schon auch mal komisch Züge von K-Gruppen-Reenactments annehmen kann. Andererseits macht es schon Sinn, wenn einem während dieser ebenso persönlichen wie (theoretisch) umfassenden Lektüre des Science-Fiction-Genres quasi so nebenbei mit Peter Hacks und Hans Heinz Holz die wohl wichtigsten Literatur- und Kunstkritiker der DDR gerade in diesem Kontext nähergebracht werden. Und »Niegeschichte« ist dann auch eines jener Bücher wo daneben nicht nur viel notiert und aufgeschrieben, sondern auch gegoogelt wird. Definiert doch Dath eine der Grundsatzfragen (linker) Science-Fiction (wie auch linker Utopien) wie folgt: »Wenn wir eines Tages wirklich nicht mehr die Probleme haben, die wir heute haben, welche Probleme haben wir dann?«

Antworten auf diese Fragen finden sich (wenn auch noch nicht ganz so klar gestellt) u. a. bei zwei Klassikern »marxistischer« Science-Fiction, auf die Dath speziell hinweist. Zum einen im vom »wissenschaftlichen Sozialismus« geprägten Roman »Levisite oder der einzig gerechte Krieg« (1925) des dann auch gleich mal des »literarischen Hochverrats« bezichtigten Autors Johannes Robert Becher, wo wir u. a. auch ein Kapitel namens »Sowjet-Europa« finden. Und andererseits in Aleksander A. Bogdanovs »Der rote Stern« (aka »Der rote Planet«, 1908), dem für Dath nicht nur weltanschaulich-ideologischen Gegenpol zu Filippo Tommaso Marinettis »hyper-imperialistisch-protofaschistischem« Roman »Mafarka der Futurist« aus 1910. Nachgelesen werden können die Romane von Becher und Bogdanov auf https://nemesis.marxists.org/index.html, wo sich auch entsprechende Literatur von B. Traven, Dos Passos, Upton Sinclair, Anna Seghers, Erich Mühsam bis hin zu George Orwell findet.

Jetzt findet man bei Dath aber auch dies: »Marx lesen, nicht Marx glauben« (Kapitel X, 3.1). Ähnliches begegnet uns bereits bei Luise Meier in ihrem Buch »MRX Maschine« (Matthes & Seitz, 2018), wo sie ein Update der Marx-Rezeption fordert (»weil es eine Lücke zu Marx als Autorität geben muss, einen Abstand«), gerade auch weil es sich bei den (mitunter ja von Engels zusammengestückelten) Werken von Marx eher um rhizomatische Patchworks (in progress) denn um etwas Abgeschlossenes handelt. »Die Hälfte der Zeit mindestens muss an der einen oder anderen Stelle repariert, justiert und gewartet werden«, so Meier. Und weil die Welt nach Corona vielleicht auch etwas anders sein könnte als davor gibt es mit https://archive.org/details/Marx-Kapital und http://www.mlwerke.de/me auch zwei digitale Archive, wo mal nachgelesen werden kann, wie das sein bzw. bewerkstelligt werden könnte. Wobei auch hier eventuell ein eher philosophisch motivierter Weg zu Marx (zuerst) zielführender sein kann (nicht umsonst wurde im »Marx-Jahr« 2018 auch bei vielen primär politisch ausgerichteten Beiträgen und Büchern vor allem auch der »Philosoph Marx« in den Fokus gestellt).

Leftfield Nietzsche
Womit wir gleichsam auch bei einem Knackpunkt der (europäischen) Philosophiegeschichte gelandet sind, den Hans Heinz Holz in »Die Sinnlichkeit der Vernunft. Letzte Gespräche« (Das Neue Berlin, 2011) wie folgt auf den Punkt bringt: »Abgekürzt würde ich sagen, dass Nietzsche es versäumt hat, seinen Zeitgenossen Marx zu lesen.« Genau! Ludwig II hat Poe gelesen (und geliebt), aber Nietzsche nie Marx. Stellen wir uns nur einmal vor, was passiert wäre, wenn Nietzsche über Sätze wie »Die Kommunisten predigen überhaupt keine Moral« oder »Diese Forderung, das Bewusstsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, d. h., es vermittels einer anderen Interpretation anzuerkennen.« gestolpert wäre. Oder wie sich Nietzsches Lob auf (fast) alles mit dem Präfix »Poly« und der damit zusammenhängenden (und daraus entwickelten) Theorie des Mannigfaltigen und der Vielheiten gestaltet hätte, wenn er bei Marx vom Menschen als »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« gelesen hätte (vom auch bei Nietzsche immer wieder thematisierten dialektischen Verhältnis zwischen Dionysos und Apollo ganz zu schweigen).

Gut, in Frankreich wurden diese beiden Stränge dann ab den Dreißiger-Jahren des 20. Jahrhunderts zusammengeführt, aber es bleibt dennoch ein blinder Fleck bei Nietzsche, dessen Antibürgerlichkeit zwar quasi ein guter Nährboden für aus dem Bürgertum kommende, angehende Linke darstellt (wie Hans Heinz trefflich anmerkt), dessen Sozialismus-Bashing jedoch auch deshalb reaktionär wird, weil dahinter keine Marx-Lektüre steckt. Andererseits ist eine gleichsam »nietzscheanische« Disposition vielleicht auch nicht das Schlechteste bei der Annäherung an Marx als Philosophie. Denn als »Luft-Schifffahrer des Geistes«, so Nietzsche euphorisch, »bedarf es in der geistigen Ökonomie gelegentlich überleitender Gedankenkreise«, was vor allem für jene gilt, »welchen Denken Vergnügen macht«. Das Denken als Begehren und Genuss, als Notwendigkeit jenseits jeglicher ökonomischer Verwertbarkeit (in Gegensatz zum Nützlichkeitsdenken) zieht sich durch Nietzsches Werk gleichsam wie ein steter Back-Beat.

Nicht umsonst geht es bei ihm immer wieder um den »Tanz (des) Denkens« bzw. den »Tanz der Gedanken«, was wir u. a. auf http://www.nietzschesource.org (basierend auf der Kritischen Gesamtedition von Colli und Montinari aus 1967) recht schnell herausfinden können, wenn wir den Begriff »Tanz« einfach in die Suchmaske eingeben. Und wirklich: Im Gesamtwerk von Nietzsche kommt er 292 Mal vor. Und wer sich immer schon gefragt hat, was Nietzsche nach dem Bruch mit Wagner gehört hat, sollte einfach nach »Bizet« und »Carmen« suchen und sich die 29 Stellen geben, wo Nietzsche über »Operetten« schreibt, als wäre er vom grauslichen Wagner-Hardrock in ein discofiziertes Pop-Paradies entflohen.

Was bei aktueller Nietzsche-Lektüre aber auch auffällt, ist der Umstand, dass sein »Griechenland« vielleicht doch weiter gedacht werden muss, als allgemein angenommen. Und zwar ebenso geografisch wie philosophisch. Vielleicht sind ja viele der Ideen, Theorien und Praktiken, die sich Nietzsche aus »Griechenland« holt, generell solche, die in den Mittelmeer-Regionen zirkulierten. Also zwischen Griechenland und Nordafrika und dem Nahen Osten und Asien und eventuell auch jenseits der Subsahara im Umlauf waren und von daher auch weit jenseits »europäischer« Grenzen und Ränder zu verorten sind. Aber Nietzsche war ja auch eher der Typ, der Sätze wie »Ich bin mir vollkommen bewusst, dass Masken für unsere Kultur etwas Fremdes sind« (Sebastian Kurz) für völlig gaga und ballaballa gehalten hätte.

Transversal Queer
Einfacher gesagt: Es geht hier um jenes transversale Denken, von dem Deleuze und vor allem Guattari immer wieder gesprochen haben. Nicht zuletzt, um dadurch die Hegemonie dessen zu brechen, was Deleuze in »Kleine Schriften« 1980 als »Mensch-weiß-westlich-männlich-erwachsen-vernünftig-heterosexuell-Stadtbewohner-Sprecher einer Standardsprache« beschreibt. Genau deshalb geht es bei Deleuze/Guattari immer um ein »Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden, Molekular-Werden [d. h. flexibel, beweglich, flüssig und unbestimmbar werden], Partikel-Werden« (wie z. B. in »Tausend Plateaus« prolongiert), aber nie um ein »Mann-Werden« – weil genau das jenes Gefüge ist, welches aufgebrochen und transformiert werden muss.

Darauf bezieht sich auch Luise Meier in »MRX Maschine« wenn sie die Auseinandersetzung mit Marx gleichsam transversal weiterdenkt und sich dabei vor allem von all den bekannten und neuen Aufspaltungen zwischen vermeintlichen Haupt- und Nebenwidersprüchen freimachen will und stattdessen »die Wechselbeziehungen zu antirassistischen und queerfeministischen, aber auch zu antikolonialen, psychiatriekritischen und anderen verwandten Kämpfen« anspricht. Diese definiert Meier (ganz rhizomatisch) als »geheime Tunnelsysteme, lose Verkabelungen und das Aufeinandertreffen von Luftwurzeln: Austausch von Waffen, Taktiken und Diskursen«.

Auch Bini Adamczak spricht in »Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende« von einer prä-leninistischen (und dabei auch queerfeministisch gedachten) »Polyphonie der Revolution«, die vom Bolschewismus (aka »der Partei, die immer Recht hat«) aus der Geschichte eliminiert worden ist. Wobei hier auch ein Begriff wie »Revolution« einen anderen/neuen Twist erhält: »Die Revolution hat weder die Aufgabe, alles zu zerstören, noch alles neu zu erschaffen, sondern Aktuelles wie Potenzielles anders zu verknüpfen.« Adamczak sieht dann auch im Scheitern der »Auflösung der gesamten Geschlechterordnung« einen der springenden Punkte im Scheitern der (gesamten) Russischen Revolution schon vor den Exzessen von Stalin (die Niederschlagung von Kronstadt wäre der andere).

Um die »Auflösung der gesamten Geschlechterordnung« geht es jedoch auch bei https://bullybloggers.wordpress.com, »the queer bully pulpit you never dreamed of«, wo hauptsächlich queer-anarchistische Diskurse und Debatten mit Schwerpunkt Popkultur geführt werden. Am bekanntesten aus dem Pool der Autor*innen dürfte dabei Jack Halberstam (»Gaga Feminism«) sein. Allein wie in »A (K)night of a Thousand Butches by Have Sex, Hate Sexism« die letzte Staffel von »Game of Thrones« aus schwer enttäuschter queerfeministischer Perspektive zerlegt wird, zeigt, wie sehr Fantum (wenn auch vollgesogen mit Theorie) vielen Debatten zu popkulturellen Themen zwischen Feuilleton und Academia immer noch genau die paar Gedankendrehungen voraus sein kann, die es braucht, um nach (oder schon während) der Lektüre anders bzw. neu über scheinbar Altbekanntes/Triviales (nach)denken zu können. Egal ob es um Brienne of Tarth oder »Wonder Woman« geht. Und als quasi Bonus-Track gäbe es dann noch die leider schon eingestellte, aber von 2010 bis 2014 sehr aktive und immer noch ultra-lesenswerte Seite http://gagajournal.blogspot.com, deren Motto »Kein-Text-zu-Lady-Gaga-unter-mindestens-1000-Plateaus-Aspekten« dann auch bei fast allen 193 Blogbeiträgen durchgehalten wird.

Outro
»Mein Kapital ist nicht Geld, sondern Zeit.« (Marcel Duchamp)

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