Simon Reynolds © Adriana Bianched
Simon Reynolds © Adriana Bianched

Gender, Rock und Rebellion

Schon 1995 rückten die Musikjournalist*innen Simon Reynolds und Joy Press in »Sex Revolts« den frauenfeindlichen Tendenzen in der Rockmusik zu Leibe. Nun erschien das Buch beim Ventil Verlag erstmals in deutscher Übersetzung. Anlass für ein ein E-Mail-Interview mit Reynolds.

Simon Reynolds ist vor allem durch sein 2012 erschienenes Buch »Retromania« zu einem der einflussreichsten Musikkritiker*innen der Gegenwart geworden. Aber schon 1995 war er mit »Sex Revolts« an einem Buch mit diskursiver Langzeitwirkung beteiligt. Ein Gemeinschaftswerk, das er zusammen mit seiner Frau verfasst hat, der Musikjournalistin Joy Press. 25 Jahre nach der britischen Erstauflage ist es jetzt erstmals in einer deutschen Übersetzung erschienen.

»Sex Revolts« ist ein Buch über Frauenfeindlichkeit in der Popmusik. »Mit heutigen Begriffen ausgedrückt, könnte man sagen, dass es ein Buch über toxische Männlichkeit ist«, meint Reynolds. Der Grundgedanke sei gewesen, eine komplette Rockgeschichte zu schreiben, aber aus der Perspektive von Gender und Feminismus. Das Autor*innenteam bezeichnet das Buch als eine »Psychoanalyse der Rebellion«. In Anlehnung an Jean-Paul Sartre definieren sie den Rebellen als einen Menschen, dem es darum geht, Regeln zu brechen, um seine persönliche Freiheit zu vergrößern. Der Rebell träumt davon, außerhalb der Konventionen der Gesellschaft zu stehen. Der größte Feind des jugendlichen Rock’n’Roll-Rebellen der 1950er-Jahre ist die domestizierende Mutter. Dieses Feindbild überträgt der Rebell auf alle Frauen. Gleichzeitig aber hat der Rebell ein überidealisiertes, nahezu mystisches Frauenbild, wie es dann in schmalzigen Liebesliedern zum Ausdruck kommt. Anhand ihrer These weisen Press und Reynolds dem ganzen klassischen Line-up der Rockrebellen eine konstante Feindseligkeit gegenüber Frauen nach. Das Buch geht aber auch noch weiter und schaut sich Formen weiblicher Rebellion an. Spannende Lektüre also.

Wir hatten Gelegenheit, Simon Reynolds per E-Mail einige Fragen zu stellen, die uns nach der Lektüre des Buches beschäftigt haben. Er hat geantwortet.

skug: Euer Buch ist 1995 erschienen. Im Vorwort habt ihr damals geschrieben, dass es ein notwendiges Buch gewesen sei. Warum?
Simon Reynolds: Damals gab es kein anderes Buch, das auch nur annähernd einen Ansatz verfolgt hat wie »Sex Revolts«. Es gab erstaunlich wenig akademische Forschung über Gender und Rock – hier und da ein paar Aufsätze. Im nicht-akademischen Bereich gab es zwei, drei Bücher über Frauen in der Rockmusik, die mit dem Thema aber ziemlich oberflächlich umgingen. Sie feierten die Tatsache, dass es trotz aller Widrigkeiten in der von Männern dominierten Rockindustrie überhaupt Künstlerinnen gab. Und das war ja auch in Ordnung. Aber wir wollten analysieren, wie sich die männliche Vorherrschaft in der Musik niederschlägt. Uns interessierte das Zusammenspiel von Ideologie und Begehren und wie sich dieses Zusammenspiel in den Texten, dem Sound, den Auftritten und auch in den öffentlichen Äußerungen der Musiker*innen manifestiert. Anfangs interessierte uns nur die Frauenfeindlichkeit, aber dann haben wir unseren Fokus auf mystische und idealisierte Frauenbilder ausgeweitet. Und letzten Endes haben wir gedacht, machen wir doch gleich alles und nehmen die weibliche Selbstdarstellung noch dazu – diese ganz eigene Art der Rebellion und das dazugehörige Selbstbild. Unser Ausgangspunkt war die Geschichte der Entwicklung der Rockmusik, vom 1950er-Jahre-Rock’n’Roll über den Blues-basierten Rock der Sechziger, Psychedelic und seine Ausläufer, wie Krautrock, Punk, Post-Punk bis zum Grunge – aber eben immer mit dem Fokus auf die Gender- und Feminismus-Perspektive. Der Untertitel unseres Buches, »Gender, Rock und Rebellion«, ist wichtig! Das Buch fokussiert sich auf Rockmusik und deren Konzept der Rebellion – es ging uns also nicht darum, die komplette Geschichte der Populärmusik zu erzählen. Und es gibt ja tatsächlich eine ganze Menge auf Gitarren basierende Musik, die absolut nichts mit der psychologischen oder sozialen Dynamik der Rebellion zu tun hat.

Der Schlüssel für unseren Zugriff auf das Thema lag darin, dass wir selbst Fans dieser Musik waren, inklusive einiger der schlimmsten und problematischsten Genres. Und wir wollten unsere Ambivalenz und Verwirrung bei diesem Thema in unseren Text einfließen lassen – also die Art, wie uns diese Musik berührte, und das mit ihr verbundene Gefühl. Mit heutigen Begriffen könnte man sagen, dass es ein Buch über toxische Männlichkeit ist. Es geht um die Berauschung an der eigenen Männlichkeit, um das nietzeanische Ungestüm von Iggy and the Stooges, um die Angeberei der Rolling Stones. Die Tatsache, dass wir selbst diese Musik in uns fühlen konnten, dass wir anfällig für ihre Macht waren, gab uns erst die Fähigkeit, sie von innen heraus zu verstehen. Wir schauten unter die Motorhaube, auf den Motor der Musik, wie sie funktionierte und was sie antrieb. Und sogar jetzt, obwohl seit Jahrzehnten zunehmend genderbewusst über Musik geschrieben wird, sowohl im akademischen Bereich als auch im Mainstream-Journalismus, gibt es außer unserem Buch immer noch kein anderes Buch, das sich unter unserem Blickwinkel mit diesem Thema beschäftigt hat.

Wie wurde damals, nach der Veröffentlichung auf eure Thesen reagiert? Denn ihr habt ja das Allerheiligste des Rock’n’Roll in Frage gestellt.
Ich glaube, es gab einige Leute, die nicht verstanden haben, dass wir Fans dieser Musik sind und dass wir nicht sagen wollten: »Ihr müsst jetzt gegen diese Musik sein.« Unser Vorschlag war ja gerade, diese Musik weiter anzuhören, aber mit einem kritischen Bewusstsein dafür, was da unter der Oberfläche läuft. Und seltsamerweise waren es vor allem Kritikerinnen in den USA, die mit »Wer seid ihr, dass ihr diese Leute verurteilen könnt?« reagiert haben. Und das, nachdem wir wirklich erschreckende Beispiele für Frauenfeindlichkeit und Sexismus aufgezeigt haben und auch, nachdem wir gezeigt haben, dass es Aspekte an der Arbeit dieser Künstler gibt, die protofaschistische oder zumindest militaristische Qualität hatten. Unwiderlegbare Beispiele auf deren Platten und in ihren Songtexten. Offenbar haben wir diesen Kritikerinnen den Spaß an Platten verdorben, die sie seit Jahren angehört haben. Aber im Allgemeinen wurde das Buch positiv aufgenommen, speziell im UK und in Europa. Und in Deutschland und Österreich wurde es sogar als englischsprachiger Text sehr positiv rezipiert. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum es so lange gedauert hat, bis das Buch auf Deutsch erschienen ist. Die Leute, die sich für das Thema interessierten, hatten es längst auf Englisch gelesen.

Ihr wolltet herausfinden, ob es Rock’n’Roll ohne misogyne »gewaltsame Leidenschaftlichkeit« überhaupt geben kann. Was würdest du heute sagen?
Es ist ja offensichtlich, dass es massenhaft Gitarrenmusik gibt, die mit dieser Art Gefühle oder derartigen Haltungen absolut nichts zu tun hat. Eine Gruppe wie REM beispielsweise zieht ihre Energie nicht aus sexueller Aggression. Sogar, wenn man ganz an die Anfänge des Rock’n’Roll zurückgeht, gibt es da Leute wie Chuck Berry, deren Ansatz eher das Geschichtenerzählen ist, oder einfach ein cooler Entertainer zu sein. Aber folgt man der klassischen Ahnenreihe der Rockrebellen von den Stones, zu den Doors, den Stooges, Led Zeppelin, den Sex Pistols, Nick Cave and the Bad Seeds, Birthday Party, Guns N’ Roses bis hin zu Grunge … dann gibt es da eine durchgehend beobachtbare Feindseligkeit gegenüber Frauen oder der »weiblichen Sphäre«, und im Gegensatz dazu begegnet man einem ganzen Bündel männlicher Fantasien von der eigenen Grandiosität und kämpferischem Heldentum. Bei dieser Art Rock geht es um eine gewaltsame Leidenschaftlichkeit, die viele Gestalten annehmen kann. Aber eine ihrer wichtigsten Motivationen ist es, sich von Häuslichkeit und verweichlichenden zivilisatorischen Einflüssen zu lösen, die oft als weiblich betrachtet werden. Dahinter steht die Fantasie, außerhalb der Gesellschaft zu stehen.

Joy Press © Ventil Verlag

Trotz aller Misogynie und trotz allem Sexismus, schreibt ihr, kann Rock’n’Roll eine Ermutigung sein, den persönlichen Befreiungskampf aufzunehmen. Kann Ted Nugent einen homosexuellen evangelikalen Jugendlichen zum Coming-out ermutigen?
Also gut, dann reden wir über Rocker mit einem Kämpfer-Komplex und der Sehnsucht, irgendwo in einer urwüchsigen Wildnis außerhalb der Gesellschaft zu leben! Nugent, mit Pfeil und Bogen auf der Jagd und seinen Auftritten im Lendenschurz, der ist ja wirklich auf diesem Trip. Ich bin nicht sicher, ob Ted einem schwulen jungen Menschen viel zu bieten hat, aber wer weiß? Vielleicht kann man dieses ganze Rock’n’Roll-Getue ja tatsächlich für eigene Zwecke umfunktionieren? Politisch ist Nugent ein grässlicher Typ. Und musikalisch gesehen hat er sicher nichts besonders Bedeutendes zur Rockmusik beigetragen. Trotzdem muss man sagen, dass es in seinem Song »Stranglehold« tolle Gitarrenparts gibt. Und obwohl er in den letzten Jahren furchtbare Statements zu allem Möglichen von sich gegeben hat, würde es mir schwerfallen, den Radiosender zu wechseln, wenn dieses Lied gerade läuft.

Wie siehst du euren psychoanalytischen Ansatz heute? Ist der noch zeitgemäß? Müsste man das Buch heute nicht eher diskursanalytisch oder als ethnologische Studie anlegen, um die Männlichkeitsperformanz im Rock’n’Roll zu dekonstruieren?
Ja, stimmt, die Psychoanalyse ist in bestimmten akademischen Kreisen so ein bisschen aus der Mode geraten. Aber ich glaube, dass die Erkenntnisse von Freud oder die der anderen Pioniere der Psychoanalyse wie Adler oder Ferenczi immer noch eine Menge zu bieten haben. Das gilt auch für die daran anschließenden Weiterentwicklungen dieses Erbes durch Lacan, Kristeva, Cixous und Theweleit, dessen Analyse des Faschismus in seinem zweibändigen Werk »Männerphantasien« großen Einfluss auf »Sex Revolts« hatte. Ich glaube nicht, dass man wirklich verstehen kann, was heute politisch in der Welt los ist –Ausländerfeindlichkeit, der Ruf nach starken Führern und Vaterfiguren, Verschwörungstheorien – ohne Rückgriff auf die Psychoanalyse. Der späte Freud mit seinem melancholischen Blick auf die dunklen und irrationalen Kräfte, die das menschliche Verhalten beherrschen, scheint aktueller denn je zu sein.

Seit 1995 ist viel Zeit vergangen. Wie siehst du die Geschlechterperformanz im heutigen Popgeschäft. Hat sich hier etwas zum Positiven verändert? Hat sich überhaupt etwas verändert? Im Vorwort zur deutschen Ausgabe erwähnst du ein paar Namen. Wären solche Künstlerinnen 1995 noch nicht möglich gewesen?
Klar, es gibt heute viel mehr Künstlerinnen, die prominent und einflussreich sind. Das letzte Popjahrzehnt ist doch komplett durch Künstlerinnen dominiert worden, und zwar sowohl von den Verkaufszahlen her, als auch, was das Kritiker*innenlob betrifft. Also von Künstlerinnen wie Beyonce, Rihanna, Lady Gaga, Nicki Minaj, Lorde, Lana Del Rey, Kesha, Cardi B, Billy Eilish. Aber es gibt auch eine sehr lebhafte feminine Kreativität abseits des Mainstreams, von der verrückten Indie-Rock-Filmkomponistin Mica Levi, hin zu Art-Pop-Performerinnen wie Julia Holter und Let’s Eat Grandma. In den 25 Jahren, seit »Sex Revolts« herausgekommen ist, gab es Gestalten wie Björk und PJ Harvey, die im Buch zwar vorkommen, deren lange, facettenreiche und absolut spannende Karrieren aber damals gerade erst am Anfang standen. Und Leute wie Missy Elliott und Joanna Newsom, die etwas später kamen, hätten bestimmt eine Menge Platz in unserem Buch bekommen. Viele dieser Künstlerinnen könnte man in die verschiedenen Kategorien weiblicher Rebellion einordnen, die wir in »Sex Revolts« beschrieben haben, aber für andere müssten wir vielleicht neue Kategorien erfinden. Besonders interessant war das Aufkommen der vielen Electronic-Experimentalmusikerinnen während der 2010er-Jahre – Holly Herndon, Laurel Halo, Eartheater, Maria Minerva, Kaitlyn Aurelia Smith, Katie Gately und viele andere.

Es kann schon sein, dass das Narrativ der männlichen Rebellion, das wir damals verfolgt haben, inzwischen ausgebrannt und nur noch ein geschichtliches Phänomen ist. Es gibt ja, wie gesagt, eine Menge Gitarrenmusik, die nicht nach dem Schema Rebell/Außenseiter funktioniert, aber ob diese Musik auch rockt oder rollt (»rocks or rolls«), darüber kann man streiten! Aber gleichzeitig ging der HipHop mit seiner Vorstellung von »Star« in die Rockstar-Falle! »Rockstar« heißt hier, man kann tun, was immer man will, zügellos, dekadent, exzessiv, berauscht – und natürlich mit stetigem Nachschub an willigen Frauen. Außerdem haben einige Rock-Rebellions- oder Punk-Diskursmuster die Grenzen der Musikwelt überschritten und sind Teil des Diskurses des libertären Kapitalismus geworden, diese ganze Gedankenwelt um »disruptive Innovationen« gehört hier dazu. Auch die Alt-Right bedient sich am Rebell-/Außenseiter-Diskurs. Die Schockästhetik, der Drang sich zu empören, gezielte Grenzüberschreitungen, die auf linksliberale Vorstellungen von Anstand und Tugend zielen – das alles. Man könnte tatsächlich so argumentieren, dass die misogynen Strömungen im Rock von damals eigentlich nur ihrem logischen Weg zum Alt-Right-Antifeminismus von heute gefolgt sind. Frauen oder feminine Männer werden mit Konformismus assoziiert, konventionelles gutes Benehmen wird als liberal oder links konnotiert. Es gibt eine neue Art des zornigen jungen Mannes – der neue Rebell ist der Alt-Right-Krieger gegen soziale Ungerechtigkeit.

Joy Press/Simon Reynolds: »Sex Revolts, Gender, Rock und Rebellion«, Ventil Verlag, 3. März 2020 Klappenbroschur, 472 Seiten, 30,00 € (D)

Link: https://www.ventil-verlag.de/titel/1840/sex-revolts

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