»These Girls«, ein von Juliane Streich herausgegebener Sammelband im Ventil Verlag, begibt sich auf einen spannenden »Streifzug durch die feministische Musikgeschichte«. Und wer zurzeit Bedarf an Beschäftigungstherapie hat, kann sich schon mal das Inhaltsverzeichnis als Playlist vorknöpfen. Aus aktuellem Anlass sei an dieser Stelle auch an zwei weitere Ventil-Anthologien mit Playlist-tauglichen Inhaltsverzeichnissen erinnert: »Damaged Goods. 150 Einträge in die Punk-Geschichte« (2016) und »Hear ’em All. Heavy Metal für die eiserne Insel« (2018). Genre-bedingt spielen Musikerinnen* darin leider nur minoritäre Rollen. Anders im genreübergreifenden »These Girls«: Die Beiträge reichen, nach den Jahren der Erstveröffentlichungen der Musikerinnen* geordnet, von Édith Piaf, Hildegard Knef, LaVern Baker und Nina Simone bis in die Gegenwart zu Sookee, Ebow, Dream Wife und Camp Cope. Der Ausdruck »Streifzug« ist dabei bewusst gewählt. Dieser Band will offensichtlich Überblick verschaffen, aber kein Lexikon sein. Und das aus gutem Grund. Wenn auf 330 Seiten durchschnittlich knapp zweieinhalb Seiten pro Artist zur Verfügung stehen, würde es in Zeiten von Wikipedia wenig Sinn machen, die dort z. T. extensiv vorhandenen Infos einfach auf Minibiographien lexikografisch zurechtzustutzen. Es geht auch ohne Wiki und die starken Männer.
Persönlich = privat = politisch
Die 93 Autor*innen (viele aus dem Ventil-/testcard-Umfeld; darunter auch die skug-Autoren Didi Neidhart und Lutz Vössing) finden in 140 Beiträgen recht unterschiedliche Zugänge zu den vorgestellten Künstlerinnen*. Popkulturtheoretische Analysen einzelner Songs und Alben finden sich ebenso wie Würdigungen des Lebenswerkes oder Einschätzungen ihrer Relevanz für die Gegenwart. Oftmals geht es um sehr persönliche Erweckungserlebnisse; um Erinnerungen an und Momentaufnahmen von jugendlichen Aneignungsprozessen, in denen zum ersten Mal Ahnungen von Selbstermächtigung i. S. v. emanzipatorischer Handlungsfähigkeit aufblitzten. Das aktivierende und befreiende Gefühl, endlich starke Stimmen und lauten Krach außerhalb des meistens weißen, cis-hetero-dominierten Boys Clubs zu hören, eröffnete neue individuelle und kollektive Handlungsspielräume. Dazu Juliane Streich in ihrem Intro: »Das ist eine der vielen Motivationen für dieses Buch: Role Models vorstellen. Denn wie wichtig weibliche Vorbilder für ihr eigenes Schaffen waren, erzählt fast jede Musikerin.«
https://www.youtube.com/watch?v=5dlrXCYrNYI
Don’t fear the F-Word
An Streichs Projekt richten sich – »natürlich« – Fragen bezüglich des Feminismus-Begriffs und, damit zusammenhängend, bezüglich der Auswahl der vorgestellten Frauen*. »Die einen verstehen Feminismus als private Selbstermächtigung, die anderen als politische Bewegung, die dritten als Support für LQBTs. Und alles ist richtig. Denn die Frau in der Musik, sie ist so vielfältig wie die Musik an sich«, so die Herausgeberin. Möchte da jemand einen Beliebigkeitsvorwurf bemühen? Angemessener erscheint es, auf die anti-essenzialistischen, queerfeministischen Aspekte dieses Zugangs hinzuweisen. Die ermöglichen es, nicht nur »Musikerinnen«, sondern auch Musikerinnen* wie Jackie Shane, Terre Thaemlitz, Laura Jane Grace (Against Me!), Kevin Blechdom, Ahnoni, FaulenzA und SOPHIE zu inkludieren. Last but not least gestattet diese Offenheit auch cis-männlichen Allies, ihr akkumuliertes popkulturelles Kapital jenseits musikjournalistischen Mansplainings in den Dienst der Sache zu stellen und auch davon zu erzählen, wie ihnen manch weibliches* Role Model den entscheidenden Arschtritt versetzte, um sich nicht auf patriarchale Dividenden der hegemonialen Männlichkeit zu verlassen.
Feminismus hat viele Gesichter
Feministische Musikgeschichte bezieht in »These Girls« ausdrücklich diejenigen mit ein, die diese mitschreiben. Aus der Sicht von Rezipient*innen interpretiert, kann selbstermächtigendes, emanzipatorisches Potenzial auch bei Künstlerinnen* zu finden sein, die sich selbst nicht explizit als feministisch verstehen. Mehr noch können die aktivierenden und (je nachdem) umcodierenden Aneignungen auch in der Auseinandersetzung mit kommerziellen Hochglanzprodukten und ihren Repräsentantinnen* passieren. So wird zumindest plausibel, warum – im eigenen Musikgedächtnis abgespeichert – fragwürdige Acts wie Tic Tac Toe, Marusha, die Spice Girls und Taylor Swift Erwähnung finden. Deren signifikante (konsumistische, neoliberale) Schattenseiten werden auch nicht verschwiegen. Und manch stereotypischer Bullshit, mit dem frau sich im Musikbusiness herumzuschlagen hat, lässt sich an ihnen umso deutlicher exemplifizieren.
X ja, Y nein?
Diverse persönliche Zugänge erklären vermutlich auch, warum sich keine Autor*innen für einige der ganz große Namen (Billie Holiday, Ella Fitzgerald, Diana Ross, Tina Turner, Joan Jett, Queen Latifah, Lil’ Kim; Carol King taucht als Songwriterin immer wieder auf) gefunden haben. Streich greift den Einwand gleich zu Beginn ihrer Einleitung auf: »Ist Künstlerin X dabei? Nein … Janet Jackson, echt nicht?« Zugegeben, beim ersten Durchblättern erging es mir ähnlich: Keine Sylvia Juncosa? (Schlagt nach in »Damaged Goods«!) Schade. Carla Bozulich dabei? Yes! Gewisse Lücken werden jedoch mit etlichen weniger bekannten, z. T. auch obskuren Acts wettgemacht. Und dabei gibt es vermutlich für beinahe jede*n auch noch Neues zu entdecken – oder zumindest wieder zu entdecken. Schon mal was von den Flying Lesbians gehört? Die Berliner Band, die ihre einzige LP 1975 veröffentlichte, wird zwischen Patti Smith und Debbie Harry prominent platziert vorgestellt. Wer kreuz und que(e)r schmökernd zwischen den Dekaden surft, wird bemerken, dass die Beiträge keineswegs bloß aneinandergereiht sind. Immer wieder verlinken sich die Namen. Joni Mitchell taucht bei Austra auf. An Karen Carpenter wird bei Kim Gordon nochmals erinnert. Ihr »Tunic (Song for Karen)«, geschrieben für die 1983 an Anorexie verstorbene Sängerin und Schlagzeugerin der Carpenters, erschien auf Sonic Youths »Goo«. The Raincoats erfahren mit ihrem Nachfolgeprojekt Dorothy eine zweite Würdigung.
Female Empowerment
Stark sind die Beiträge auch dann, wenn sie das Prinzipielle beispielhaft anhand von Songzitaten und biografischen Details identifizieren. Marianne Faithful wird immer noch mit Ageismus und Lookismus medial konfrontiert, während Mick Jagger und Keith Richards als unkaputtbare »Überlebenskünstler« gefeiert werden. Wer hingegen bei mehrdimensional diskriminierten Women* of Color wie Jackie Shane 1967 hört »Baby, do what you want, just know what you’re doing«, darf sich bestärkt via Missy Elliott zu Janelle Monáe (Schaut euch ihre Performance bei der Oscar-Gala an!), Jamila Woods und Princess Nokia in die Gegenwart katapultieren. Das sind empowernde Konstanten, die Kraft im Kampf gegen die Kontinuität der patriarchalen Strukturen und misogynen Muster geben; gegen die Machtmechanismen, die auch erfolgreichen Frauen* stets dasselbe beschränkte Rollenrepertoire zugewiesen haben.
Gender-P(l)ay-Gap
»You don’t own me«, wusste Lesley Gore schon 1964. Je älter die Beispiele, desto schmerzhafter die Einsichten: Wie viel wurde damals schon erkannt, wie wenig bzw. wie langsam hat das Musikbiz verändert? Wie viel an tatsächlicher Gleichstellung wurde noch immer nicht eingelöst? Gender-Pay-Gap war und ist auch immer ein Gender-Play-Gap! Was Kerstin Grether im Outro bezüglich Rock-Booking kritisiert, gilt auch für elektronische Musik (die in »These Girls« tendenziell etwas unterrepräsentiert ist). Female:pressure, das von Susanne Kirchmayr aka Electric Indigo initiierte internationale feministische Netzwerk, veröffentlichte am Internationalen Frauen*tag 2020 die aktuelle Studie zum Geschlechterverhältnis auf elektronischen Festivals. So ist zwar zwischen 2012 und 2019 die Zahl weiblicher* Artists von 10 % auf 25 % gestiegen, aber Ausgewogenheit sieht anders aus.
Y-Girlz against B-Boys
Abschließend möchte ich die Yeastie Girlz, meine liebste Wiederentdeckung, nicht unerwähnt lassen. 1989 war mir in dem One-Issue-Fanzine »Zucchini« (vom Hardcore-Aktivisten Charly Wiesauer schwarz-weiß kopiert rausgebracht) ein kurzer Review aufgefallen. Der Jubel galt Rapperinnen im Punk-Umfeld, die auf unerhört explizite Weise den Sexismus der männlichen Artgenossen gegen diese wendeten. Zu hören bekommen hatte ich die einzige, 12-minütige Single dieser Acapella-Crew (»Ovary Action«, Lookout Records, 1988) seinerzeit nie. Name und Attitude waren natürlich auch eine mehr als berechtigte Spitze gegen die damals sich so postpubertär machistisch gebärdenden Beastie Boys. In der demnächst erscheinenden Doku über die Boys werden die Girlz vermutlich unerwähnt bleiben. Nicht einmal in der ansonsten wirklich tollen »Queercore. How to punk a revolution«-Doku (2017) fanden sie Erwähnung. Wie schön, dass Linus Volkmann in »These Girls« an sie erinnert.