Eine Streichholzschachtel, auf der »Ein Volk, ein Reich, ein Führer« steht. Die Scheinwerfer blenden in die Glasvitrine hinein. Glühpunkte, Brennpunkte. Bei den Glastischen zur NS-Zeit staut es sich immer, im neuen Haus der Geschichte in Wien. Der Bereich ist einfach zu eng gehalten. Absichtlich? Ein Mann mit Stock stolpert über die Rollen eines Stuhls. Seitlich gibt es eine Ruhebank. Alle Materialien liegen dicht auf dicht hinter Glas. Einmal entzifferte ein älterer Herr wie in Trance mit der Nase an der Glasplatte die Schriften. Als ihn jemand unterbricht und stört, geht er in die Luft. Auf Englisch. Eventuell ein Überlebender. Draußen gibt es ein großes Foyer mit seitlich Tischchen, wo man sich erholen kann. Seltsamerweise hat man nachher jedes Mal wirklich das Gefühl, sich erholen zu müssen. Warum wird nicht ganz klar. Beim ersten Besuch war ich über die vielen Bilder und Fotos erstaunt. Malerei, Plakate, Musik. Man kann immer etwas Neues entdecken, jeder Besuch bringt wieder neue Zugänge. Die Ausstellung geht aber an die Identität und ist wohl daher anstrengend. Österreicherin oder nicht? Und wenn ja, was für eine?
Facetten der Geschichte
Plakat: »Wien ist zum Verteidigungsbereich erklärt worden. Frauen und Kindern wird empfohlen, die Stadt zu verlassen. Der Reichsverteidigungs-Kommissar«. Ein großes Neonschild hoch oben: »Volksgemeinschaft ist Ausschluß«. Mein Eindruck ist, dass die Besucher*innen das Emotionale suchen und sich gleichzeitig davor fürchten. Eilig streben einige durch die Gegend und hängen dann vor einem Bild, Foto oder Text für eine Stunde steif und still, saugen sich fest in Gedanken. Es sollte kleine Heftchen geben, in denen man seine Assoziationen und Gedanken eintragen kann. Mitnehmen. Seitlich zieht sich das Thema »Macht der Bilder« durch. »Augenblick der Utopie« steht dort – ebenfalls in Neon. 57 Bilderstationen. Man soll eigene Bilder mitbringen. Kriegt Assoziationen. Zu Silvester fragte mich z. B. ein Mädchen, warum sich Österreich eigentlich so eine »schiache Fahne aus dem Krieg« genommen hätte? Rot, weiß, rot bis in den Tod, in der Mitte des blutroten Gewandes war die Schärpe. Wir hatten die Herkunft der österreichischen Fahne ebenfalls auf diese Weise in der Schule gelernt, wobei ich nicht mehr weiß, welcher Kriegsheld oder Eroberer das war. Kaiser? König? Das Mädchen und ich einigten uns auf eine grüne Fahne mit Sonnenblume und kleinen Blumen rundherum. Die wäre schön friedlich. Hier, im Haus der Geschichte rätseln viele Besucher*innen über die Präsentation, dabei geht es bei Erinnerung und Geschichte doch oft nur um Facetten, Teilerfassung, Puzzles – jeder und jeder hat sein eigenes davon.
Lücken bleiben offen
»Das weltweit erste jüdische Museum wurde 1895 in Wien errichtet.« Thema Restitution. Thema Sport. Es geht Schlag auf Schlag. In einem Sessellift kann man sitzen, ein Junge im Rollstuhl lächelt mich an und klopft mit den Füßen auf den Boden. Zwischen den Infos gibt es zeitgenössische Kunst, wie den Plakatstoß »Die innere Grenze« (Nicole Six und Paul Petritsch), der auf Fotos den slowenisch-kärntnerischen Grenzverlauf nach dem Ersten Weltkrieg zeigt. Bäume und Gebüsch. Zwischen 1945 und 1948 war die deutsch-österreichische Grenze geschlossen. Im Purtschellerhaus auf 1700 Metern Seehöhe traf sich die getrennte Verwandschaft. Eine Oma erklärt ihrem Enkel die Welt. »Den hams dann erschossen …«, höre ich. Der Enkel rauft sich die Haare. Hinten ist mehr Platz, es gibt sogar einen Sitzturm und eine Wand für Post-its zum Thema »Wofür lohnt es sich zu kämpfen?« Ein Neonschild: »Neue Zeiten, alte Ängste«. Viele Sachen lassen eben freie Assoziationen zu. Es wird gar nicht versucht, Lücken zu füllen oder eine Art »vollständiges« Geschichtsbild anzubieten. Man muss den Kurator*innen und der tapferen Direktorin Monika Sommer-Sieghart ein Kompliment zu ihrem Mut machen. »Es ist nicht so, dass andere Menschen immer recht haben«, wiederholt der Enkel seine Oma. »Was heißt denn das?«
Anriss über »Arbeitsscheue«
Filme gibt es auch. »Wir haben versucht, die Stimmung aufzulockern«, erzählt ein junger Mann über seine Flüchtlingshilfe am Westbahnhof. »Die Flüchtlinge waren schon alle schockiert und frustriert. Jeder Fehler geht denen unter die Haut, zum Beispiel plötzlich laut werden.« Beim Umschalten des Films trifft man auf einen »Flüchtling der Nazi-Okkupation«, Hugo Brainin. »Ein Bekannter sagte zu mir, dann bin ich ins Exil. Das war kein Exil, das war eine Flucht«, meinte Brainin zu dem. Dazu lächelt er weise über den Wunsch nach Selbstbestimmtheit, der oft mit der Wirklichkeit zusammenstößt. Es gibt Fotos von Hohenems, der Umleitung des Rheins, der Landbrücke zu dem Schweizer Ort Diepoldsau hin, die viele Flüchtlinge in der Nazi-Zeit nutzten. »Bald stand auf Fluchthilfe die Todesstrafe«, steht lakonisch dabei. Ein Satz, keine genauere Erklärung. Eine Frau sitzt gedankenverloren da und flicht ihre blonden Haare in Zöpfe. Schon die NS-Propaganda sprach von »Arbeitsscheuen« statt von »Arbeitslosen«, im Gegensatz zu »deutscher Tatkraft und deutschem Schaffensgeist«. Kein Scherz. Im allerersten Saal steht alles auf Rollen. »Hoch die Republik!« Wirkt aber fragil und unbefestigt, die Inszenierung. War die Revolution wohl auch. »Rotgardisten, Deutsch- und Hochmeister«. Das ist die Revolution? So habe ich mir die nicht vorgestellt. Man sieht lauter Männer mit dunklen Mänteln, Krawatten, Hüten und Regenschirmen auf der Straße. Zigaretten rauchend. Es hat geregnet, bei der Revolution am 12. November 1918. Der Sozialstaat wurde übrigens zuerst für die Kriegsinvalidenverbände errichtet. Wo ist nun dieser Erholungsraum?
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