Zärtliche Lieder zu schreiben, heißt, sich einem Dilemma auszusetzen: Auf der einen Seite dürfen sie nicht gekünstelt wirken. Auf der anderen Seite müssen sie kunstfertig gestaltet sein. In Musik wirkt Effekthascherei wie zu viel Parfüm, ungenierte Gefühlsduselei wie starker Körpergeruch – beides ist ziemlich unsexy. Angel Olsens neuestes Album nimmt die Herausforderung an. Glaubt man dem Label, handelt es sich um einen authentischen Gefühlsausdruck, der das Coming-Out und den Tod der Eltern der amerikanischen Songwriterin musikalisch abbildet. Sentimentale Songs unterstreichen Olsens großartige Stimme. Die 35-Jährige singt von Vertrautheit, Verlust und Veränderung. Konnte man Olsens frühere LPs noch irgendwo zwischen Indie-Rock und Alternative-Pop verorten, ist »Big Time« ein vollblütiges Americana-Album. Es orientiert sich an dem Sound von Country-Größen wie Kitty Wells, Dolly Parton und Tammy Wynette, aber intensiviert deren melancholische Tendenzen. Alle zehn Lieder weisen eine ähnliche Struktur auf: Sie starten als Liedermacherei und halten ein bedächtiges Tempo. Langsam werden gefühlvolle akustische Arrangements eingefügt, die zu kathartischen Refrains führen. Ein einfacher, gleichmäßiger Rhythmus grundiert jedwede Veränderungen. Immer geht es um Liebe und Hoffnung. Ich werde den Eindruck nicht los, dass Olsen zehnmal versucht hat, denselben Song zu schreiben – zehnmal versucht hat, Zärtlichkeit künstlerischen Ausdruck zu verleihen. Diese Einförmigkeit zerstört den Werbe-Mythos von »Big Time« als spontane Expression intensiver Emotionen. Sie macht es auch schwer, Olsens Lamentationen mit gleichbleibender Aufmerksamkeit zuzuhören. Mein Fazit ist entsprechend gespalten: Einerseits halte ich die LP für ein nur bedingt erfolgreiches Album, das seine eigenen Ambitionen unterwandert. Andererseits vermute ich, dass einzelne Lieder viele Hörer*innen tief berühren werden. Der Name »Big Time« ist immerhin Programm: Es geht um große Gefühle.
Angel Olsen
»Big Time«
Jagjaguwar
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