Klarinettist Ken Thomson steht beinahe ganz am Rande der flachen, lang gestreckten Bühne des Wiener fluc und spielt wunderschöne Melodien aus der Ecke heraus. Voll Schwere und Tiefe und Trauer. Er wirft keinen einzigen Blick auf die anderen Mitglieder seiner Gruppe Barbez, sondern spielt alleine vor sich hin, stark und kräftig, dann wieder in hohen Melodiebögen. Die Kompositionen des Barbez-Bandleaders Dan Kaufman basieren auf liturgischen Melodien von Juden aus Rom, auf die ihn Yotam Haber aufmerksam machte und die er gebannt recherchierte. Es sind alte Melodien der Juden Roms, die noch vor der Diaspora auswanderten und im Oktober 1943 Opfer eines Massakers der italienischen Gestapo wurden. Von 1023 Deportierten überlebten allein 16 das KZ Auschwitz. Auch der neu erschienenen CD »Bella Ciao« (Tzadik) entströmt tiefe Trauer. Sie ist aber ganz anders angelegt als der Live-Auftritt der Band – mehr voicelastig, mit einer Stimme, die an die frühe Anne Clark von 1984 erinnert.
Im fluc drückt Dan hin und wieder mit dem Fuß den Vocoder und eine weibliche Stimme schwebt wie ein Geist über der Bühne, körperlich nicht vorhanden, aber wie eine Stellvertreterin für die Seelen/Neshome der Toten. Die Zuschauer blicken suchend herum, wo sich denn die singende und sprechende Frau befindet. Interessant ist auch die Ausrichtung der Band: Drei Musiker sind seitlich nach rechts ausgerichtet, auf den Klarinettisten hin, statt nach vorne in den Zuschauerraum. Schlagzeuger John Bollinger – das Schlagzeug ist seltsamerweise quer in die linke Ecke der Bühne verräumt – beugt sich ständig nach vorne über die Trommeln, um zu lauschen. Auch Bass und Gitarre blicken eng aneinander gedrängt nach rechts. Dort, mit relativ viel Luftraum um sich herum – das kleine Xylophon als Grenze, steht der Klarinettist und arbeitet alleine vor sich hin. Beim Wiener Konzert übernimmt die Klarinette die tragende und klagende Stimme, alles ist auf sie ausgerichtet, sie ist die Hauptperson.
Fragmentarisierung als Strategie
Seltsamerweise ist Ken aber an diesem Abend außer für die Melodie auch für die Rhythmusgruppe das tragende Element und schlägt immer wieder kleine Tonfolgen auf dem Xylophon an. Das Xylophon – der Rhythmus-Träger. Live ist bei Barbez eine künstlerische Strategie der zweiten bzw. dritten Generation nach dem Holocaust sehr gut zu bemerken, die auf der CD eher untergeht, in Gleichmäßigkeit und Einheitlichkeit verschwindet. Auf der Bühne wechseln Melodiengeflechte, melodische Gebäude mit starken, schnellen Rhythmen. Dan unterbricht oder beantwortet die fragenden, klagenden Melodien mit punkartigen Einsätzen und Ausbrüchen auf der Gitarre, die das Schlagzeug flott begleitet. Dan scheint aber eher vorsichtig zu sein, diese Sequenzen einzuleiten. Er schaut immer erst freundlich eine Runde ins den dunklen Zuschauerraum, bevor er sich entschließt »loszuschlagen«.
Fragmentarisierung ist eine künstlerische Strategie, die bildende Künstlerinnen wie Tatiana Lecomte im Wiener Jüdischen Museum (sie trennte Worte, Farben und Illustrationen in unterschiedliche Räume ab) oder Filmkünstler wie Chris Gangl (der einen in Bildern und Text stark fragmentarisierten Film über seinen Opa, einen polnischen Zwangsarbeiter, machte. Die Filmsprache besteht nur aus Hauptwörtern zur NS-Politik, die ein Kind, das dritte Generation nach dem Holocaust ist, nicht verstehen kann, aber sich wie ein unergründliches Rätsel merkt) verwenden, um Traumata aus der NS-Zeit abzubilden. Hier bei Barbez sehe ich diese Strategie zum ersten Mal in der Musik, obwohl viele Punk Bands auch die Fragmentarisierung in melodiöser Strophe und extremen Hardcore-Refrains benutzen. Dan Kaufman stammt ja aus der Punkbewegung und Barbez veröffentlichte die CD »Bella Ciao« in der Reihe »Radical Jewish Culture« bei John Zorns Label Tzadik. Schnelle Brüche, die Melodien werden abgelöst von flotten Teilen, Bruchstücke. Ein fragmentarisches Leben kann nur in Fragmenten erzählt werden, und hier setzt sich dieses fragmentarisierte Leben über die Generationenfolge hinweg und fort.
Ûberwindung der Fragmentarisierung
Dan, der während des Konzertes erstaunlicherweise immer steifer wird und Rückenschmerzen bekommt, als ob ihm ein Geist einen giftigen Pfeil in den Rücken geschossen hätte (ein eifersüchtiges Familiengespenst, ein Täter?!), hält sich zurück. Eventuell ist er zu vorsichtig. Er lässt Ken gewähren, der shakt und immense Power ausstrahlt, in der sich immer wieder Abgründe auftun. Das Rhythmus-Xylophon, das Ken neben der Klarinette spielt, holt alle in die Realität zurück, pling plong, und bietet den Ûbergang zur Realität an sozusagen, die Brücke zwischen Liturgie-Melodien und Punk. Das Xylophon überwindet die Fragmentarisierung. In der bildenden Kunst kann ein Dreier-Bild die Auflösung des Traumas bedeuten. Auf die Musik umgesetzt wären das hier: Erstes Bild, Punk mit Gitarre, Bass und Schlagzeug, zweites Bild, Liturgie mit Klarinette und Stimme und drittes Bild: das Xylophon als rhythmisches Melodieinstrument, von Ken mit roten Schlägern sehr pointiert und klar und wie nebenbei geschlagen, als Ûberwindung des Traumas. Ein lustiger und ermutigender Gedanke für so ein kleines Instrument.
Während der Schlagzeuger einen Klopfteppich hinlegt, sobald es ihm erlaubt ist und mit großen Ohren lauscht, was die anderen machen (eine sehr gute Eigenschaft bei einem Schlagzeuger), gibt Ken quasi trotz Schlagzeug den Rhthmus vor – die Energie.
Dan Kaufman gelingt es immer wieder, kurze Einbrüche zu gestalten. Sehr spannend das Ganze, vor allem, da die Band ohne Soundcheck auf die Bühne musste, weil ihr Van auf der Autobahn zusammenbrach, nach Graz abgeschleppt und dort repariert wurde.
Die Energie der zweiten und dritten Generation nach der Shoah ist deutlich zu spüren – den Abgrund der Shoah umkreisen, aber nicht hineinfallen. Der freundliche John könnte aber sein Schlagzeug experimenteller und mit mehr Brüchen anlegen und auch der flotte Bassist könnte sich mehr trauen, Dan könnte in anderen Schuhen punkartiger herumhüpfen und seine alte Energie mehr herauslassen (gegen den steifen Rücken) – aber das Vocoder-Prinzip mit der Stimme, die für die Toten spricht, können die Jungs gerne beibehalten. New York, Brooklyn! Ist die Shoah in Amerika ein Thema? Amerika ist groß, aber bei den Betroffenen ist die Shoah künstlerisch schon ein Thema, war die Antwort.