Ausstellungsansicht, 2022 © TimTom
Ausstellungsansicht, 2022 © TimTom

Schutzraum im Weltall

Im Lager Theresienstadt erschuf Friedl Dicker ihren letzten Kunstraum, der für die inhaftierten und bedrohten Mädchen funktionierte. Im MUSA Wien Museum sind derzeit die schwebenden Raumentwürfe zu sehen, die sie in einem früheren Leben gemeinsam mit Franz Singer erschaffen hatte.

Eine Scherenarmleuchte aus Messing, die aus 1930 stammt, eine Hängeleuchte namens »Helge B 39« mit rot lackiertem Holz und Soffitten (Anm.: Soffitten sind zylinderförmige elektrische Leuchtmittel) – im MUSA Wien Museum sind derzeit Baukunstexemplare von Friedl Dicker und Franz Singer ausgestellt. Der Mann, der diese schöne Lampe über seine Tante Poldi erhielt, ist der Architekt Georg Schrom.

Leopoldine Schrom arbeitete direkt mit Dicker und Singer zusammen und vererbte ihrem Neffen auch ihr Architekturbüro. Ein Podium unter dem Schrank, das Bett unter dem Podium – Dicker und Singer liebten es, veränderbare Wohnumfelder zu kreieren, deren Bewohner*innen jeden Tag neu kreativ sein und je nach Stimmung und Aufgaben ihr Zimmer variieren können. »Ein Kastenraum, in dem eine Couch, ein Bett und ein Nachtisch unter einem begehbaren Kleiderschrank mit verstellbarem Spiegel herausschwenken, der über eine ebenfalls wegklappbare Treppe zu erreichen ist«, schwärmte der New Yorker Architekturtheoretiker Mark Wigley. 

Georg Schrom tüftelte lange über der Ausstellungsarchitektur im MUSA Wien Museum, damit der eigentlich kleine Saal mit Glasdach nicht zu voll aussieht: »Wir haben wochenlang kleine Modelle herumgeschoben. Wie soll man so viel Material in einem Rhythmus unterbringen, dass man nicht so erschlagen ist? Die Podeste erstellte ich mit Linoleum, einem Naturmaterial.« Seine Tante wäre viel in den Hinterhöfen des sechsten Wiener Gemeindebezirks herumgelaufen, und hätte dort von guten Handwerkern Prototypen erstellen lassen. »Sie verhandelte mit den Handwerkern und ließ sich nichts gefallen«, lächelt er.

Beschäftigungsraum im städtischen Montessori-Kindergarten im Goethehof, um 1931 © Bauhaus-Archiv Berlin

Mobiles Fluchtvehikel

Dickers und Singers Innenräume werden häufig als aufgeklappte Schachteln mit teils transparenten Wänden inszeniert, steht im MUSA Wien Museum an der Wand. Dieses Konzept wird hier als »Axonometrie« bezeichnet, was die beiden von den Avantgarde-Künstler*innen der De-Stijl-Bewegung übernommen hätten. »Bei diesem geometrischen Verfahren werden dreidimensionale Gegenstände in Parallelprojektion wiedergegeben, sodass zugleich der Grundriss eines Gebäudes oder Raumes und sein Inhalt gezeigt werden können.« Simpel ausgedrückt: Man kann durch Wände schauen, aber zum Beispiel die im Tisch versteckte Likörbar sieht man erst vor Ort.

Der extra aus New York eingeflogene Architekturtheoretiker Mark Wigley hatte auf einer Tagung der Universität für angewandte Kunst Wien aber ein anderes Konzept vertreten. (Anm.: Die Angewandte hat 2022 im Wiener Heiligkreuzerhof eine Dicker-Ausstellung gestaltet.) Dickers »Geschenk an die Welt« hätte aus »einem schützenden Raum, der als schwebender Kokon von einer unbarmherzig brutalen Außenwelt abgetrennt war«, bestanden. Dieser wie im Weltall schwebende, »bewegliche, aber letztlich zerbrechliche Raum« hätte einen Weg gezeigt, »um seine Bewohner*innen zu befreien.« 

Mark Wigley mystifiziert Dickers Raumentwürfe etwas: »Diese Räume löschen das Außen aus und bieten eine Art unendlicher Fluchtmöglichkeit.« Gleichzeitig klingt es wunderschön, wie er Dickers architektonische Bemühungen in Wörter fasst: »Die Mitte dieses mobilen Fluchtvehikels ist typischerweise leer, Aktivitäten treten meist in den Ecken auf, was eine Art kreisende Bewegung am äußeren Rand des Raumes erzeugt.« Er bezieht auch die Stoffe von Friedl Dicker mit ein, denn die Wände bestanden häufig aus einem »textilen Kokon aus ihren handgewebten mehrfarbigen Stoffen«.

Tiere aus dem Phantasus-Baukasten, 1919–1925 © Archiv Georg Schrom, Wien Museum MUSA

Verschachtelung an Optionen

»Es ist, als ob jeder Raum die geheime Fähigkeit besäße, als ganzes Haus zu funktionieren«, behauptet Mark Wigley und formuliert sein Wunschdenken: »Dieser Kokon könnte letztendlich die ganze Stadt, in der er verborgen ist, verwandeln und zerstören.« Es gäbe eine »dichte Verschachtelung an Optionen«. Was Wigley nicht wissen kann und was die Theresienstadt- und Auschwitz-Überlebende Helga Pollak-Kinsky mir erzählte: Auch in Theresienstadt schuf Friedl Dicker-Brandeis erfolgreich einen derartigen architektonischen Schutzraum für die Kinder, die sie im Zeichnen unterrichtete. Sie ließ die Betten der Mädchen neu aufstellen und durch ihren Mann Pavel Brandeis, der in der Holzwerkstatt arbeitete, Tische und Stühle herstellen. Ihr letztes schwebendes Raumschiff sozusagen. 

»Kunst war nun das Überleben selbst«, schrieb Friedl Dicker schon 1938/39 aus Hronov an ihre älteste Freundin Anny Wottitz. Es existieren um die 5.000 Arbeiten, geschaffen von 650 Schüler*innen, schreibt Langzeitforscherin Elena Makarova im Wien-Museum-Katalog. Makarova zitiert die in Theresienstadt inhaftierte Edna Admit: »Ich hatte bei ihr dasselbe Gefühl, wie man es bei einem Arzt hat. Sie selbst war die Medizin. Und bis heute ist mir das Geheimnis ihres Gefühls der Freiheit unfassbar. Es übertrug sich von ihr auf uns wie elektrischer Strom.«

Die Ausstellung »Atelier Bauhaus, Wien. Friedl Dicker und Franz Singer« ist noch bis 26. März 2023 im MUSA Wien Museum zu sehen.

Quellen:

»Atelier Bauhaus, Wien. Friedl Dicker und Franz Singer«, herausgegeben von Katharina Hövelmann, Andreas Nierhaus und Georg Schrom, Müry Salzmann Verlag 2023

»Friedl Dicker-Brandeis. Werke aus der Sammlung der Universität für angewandte Kunst Wien«, herausgegeben von Stefanie Kitzberger, Cosima Rainer und Linda Schädler, De Gruyte, edition: Angewandte 2022

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