Politisch wurde die Ukraine vom Westen im Stich gelassen. Benefiz-Initiativen verringern zwar nicht die Machtlosigkeit gegen geschaffene Tatsachen, sind aber wichtige Statements gegen einen Krieg, der die ukrainische Demokratie trifft, die weitaus mehr Diversität zuließ, als dies in der Russischen Föderation jemals der Fall war. Große Veranstalter heben Benefiz-Konzerte aus der Taufe, um Spenden für die Opfer/Flüchtlinge in der Ukraine bzw. in den Asylländern zu lukrieren. »We Stand With Ukraine« feat. Mavi Phoenix, Yung Hurn, Bilderbuch et al. war ein Großereignis im Wiener Praterstadion am 19. März 2022, dessen Einnahmen Nachbar in Not und der Volkshilfe zugutekamen. Aber auch im Kleinen sprießen Initiativen, oft als Benefiz-Compilations.
Einen gigantischen Longplayer mit beinahe 19 Stunden Spielzeit hat Kai Niggemann in Kooperation mit Component Recordings in kurzer Zeit geschaffen. Gleich 199 Acts, darunter Stephen Mallinder von Cabaret Voltaire, Robin Rimbaud aka Scanner, Cico Beck von The Notwist, Jack Dangers von Meat Beat Manifesto, Philippe Petit oder Mia Zabelka & Arun Natarajan, sind auf »For Peace. Against War. Who Is Not? A Compilation For The People Of Ukraine« (Component Recordings) vertreten. Ein multidiverses Line-up aus 27 Ländern als Spiegelbild für eine kulturell und bevölkerungsmäßig äußerst diverse Ukraine. Der Erlös aus dem Compilation-Verkauf wird gleichmäßig an die Hilfsorganisationen Vostok SOS und das Ukrainische Rote Kreuz verteilt. Ein guter Grund für einige E-Mail-Fragen an Miturheber Kai Niggemann, seines Zeichens Soundartist und Musiker aus Köln, der mit den beiden Betreiber*innen des Labels Component Records, Elizabeth Virosa und Robert Galbraith aus Providence, Rhode Island (USA) den grandiosen Sampler kuratierte.
skug: Welche Verbindungen habt ihr zu ukrainischen Künstler*innen und können diese in der entsetzlichen Kriegssituation aufrechterhalten werden?
Kai Niggemann: Auf der Compilation ist FHTH aus Kyjiw mit einem Track »This Is My Country«, der sich nach unserem öffentlichen Aufruf meldete, um den Track einzureichen. Ich selbst habe zurzeit keine Kontakte in die Ukraine, war nur einmal dort, als es noch Sowjetunion war. Mit dem Theater-Label, von dem ich ein Fünftel bin (paradeiserproductions.com), planen wir ab Juli eine Podcast-Reihe als Austauschprojekt mit Menschen aus Krisenregionen, mit Focus (aber nicht begrenzt) auf die Ukraine. Zurzeit ist die Kommunikation (aus Gründen) in die Ukraine schwierig.
Die Intentionen mit »For Peace. Against War. Who is Not?« sind wohl mehrere. Welche?
Es ist ein Gefühl der Machtlosigkeit. Menschen weit weg von uns bestimmen über unser Schicksal, Menschen, die wir nicht einmal (ab)wählen könnten, wenn wir wollten. Nun sitzt man da und scrollt gebannt die neusten Nachrichten aus der Ukraine durch – am Ende des Tages bleibt nur ein hohles Gefühl, eine Angst und verschwendete Zeit. Ich bin kein Kämpfer, bin Kriegsdienstverweigerer, kann kein Russisch oder Ukrainisch um den »Reisenden« (tw. Selbstbezeichnung) aus der Ukraine mit Übersetzungen zur Seite zu stehen – ich bin Musiker. Aber ich bin auch Netzwerker und Kommunikator und dieses wollten wir zusammen mit Beth und Rob nutzen, um etwas Sinnvolles zu tun. Wir wollten Energie und Aufmerksamkeit bündeln, eine humanitäre Organisation unterstützen, den Zusammenhalt und die Selbstwirksamkeit der Szene stärken und ein Fundament legen für weitere Arbeiten. Wir haben um Beiträge aus allen Ländern von Menschen mit allen sexuellen Identitäten, Hautfarben und Herkünften gebeten und auch explizit russische Beiträge erbeten. Wir möchten Brücken bauen und helfen, zu mehr Frieden in der Welt zu führen.
Fleißig sind auch weitere Musiker*innen: Boris Hauf hat den Benefiz-Sampler »No War« (Shameless Records) u. a. mit Tracks von Naked Lunch und Angélica Castelló released und die Gebrüder Teichmann reagierten ebenfalls schnell, mit »Sounds Of Survival From Ukrainian Underground« (Noland). Was haltet ihr davon?
Super! Sehr, sehr, sehr gut! Heute habe ich die Compilation »May Putin Rot in Hell« (Noise Artists für die Ukraine) gekauft, am 4. März erschien schon die Drum’n’Bass-Compilation »Together With Ukraine«, die bisher schon 80.000 GBP zusammengesammelt hat! Alle diese Initiativen sind super und superwichtig. Eine Schutzweste kostet 400 bis 600 EUR, ein Helm ebenso viel. Humanitäres Verbrauchsmaterial für 100.000 EUR ist in einer Stadt wie Kyjiw auch sehr schnell verbraucht. Ich bin sehr beeindruckt, dass jede Szene sich mobilisiert und etwas macht. Es fällt vielen Menschen leichter zu spenden, wenn sie noch eine Gegenleistung dafür bekommen – ein Käufer hat für unsere Compilation (Einstiegspreis 12 USD, aber mit der Bitte mehr zu spenden, wenn man kann) 200 USD bezahlt!
Zum Tracklisting: Es sind unglaubliche 199 Acts. Wie lang wäre eigentlich die Abspieldauer des kompletten Albums und wie konntet ihr dermaßen schnell Freigaben von allen Artists erreichen? Und welche Personen haben dieses beachtliche Teamwork auf Schiene gebracht?
Das gesamte Album ist 18 Stunden 51 Minuten lang! Wir haben das Ganze über einen Open Call gemacht – alle Einsendenden hatten sich durch die Einsendung mit der Veröffentlichung in diesem Rahmen einverstanden erklärt. Mit einigen Artists haben wir individuelle Vereinbarungen getroffen, die meisten vertreten ihre Rechte selbst, so dass es sehr schnell und unbürokratisch vonstattenging! Der Sampler wurde von Kai Niggemann, Robert Galbraith und Elizabeth Virosa (die beiden sind die Band Snowbeasts und das Label Component Recordings) erdacht. Wir haben kurz nach Kriegsbeginn über Möglichkeiten geschrieben, die wir als Musiker*innen haben, um etwas zu tun, da waren wir schnell bei der Idee, eine Compilation zu machen. Wir haben den Aufruf noch am selben Abend (2. März 2022) auf allen Social-Media-Diensten gepostet und bekamen fast sofort Einsendungen. Koordiniert haben wir unsere Arbeit mit Hilfe des sicheren Messengers Signal, Videocalls (auch über Signal) und einem geteilten Cloud-Speicher, in dem wir die Songs gesammelt und Infos in anderen Dokumenten erstellt und gesammelt haben.
Um Hörer*innen angehörs der Fülle und Sound-Vielfalt etwas Orientierung zu geben, bittet skug schlussendlich um einige Empfehlungen.
Meine Lieblingstracks ändern sich gern mal. Ich bin sehr begeistert von Wolfgang Flürs Opener »Say No!«. Er hat so eine Offenheit, Direktheit, die mich sehr berührt. Ansonsten sind das hier meine Top Five im Moment:
- Valentin: »Digital Hugs«
Es ist so schön warm. Beginnt wie ein relativ normaler Techno-Track, und bekommt dann aber eine Tiefe mit der wunderbaren Stimme.
- Joan Hacker: »I Am Alive«
Macht trotz der statischen Anmutung eine ganz schöne Reise, ein beeindruckend emotionaler Drone-Track. Wir waren von dieser Version so angetan, dass wir sogar auf Joans Angebot, ihn auf die ursprünglich gedachten 10 Minuten zu kürzen, verzichtet haben.
- Yan Jun: »Folk Song«
Ein Track aus China. Ich liebe die Wut, den Schmerz, oder die Dringlichkeit, die in dem Schrei/Call steckt.
- Todd Barton: »Seekings«
Todd ist mir ein Lehrer und ein Vorbild. Dieses Stück hat eine atmosphärische Dichte, die nicht viele Leute mit dem Buchla herstellen können.
- Denise Ritter: »Area One«
Ein Stück über die 1980er-Jahre in Deutschland, in der Nähe eines Atomwaffenstützpunkts der Amerikaner. Hits very close to home …
Various Artists: »For Peace. Against War. Who Is Not? A Compilation For The People Of Ukraine« (Component Recordings)