Delete © Steinbrener & Dempf
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Warum ist die Werbung noch nicht verschwunden?

Adbusting, Culture-Jamming, Urban-Hacking – wer dem Konsumkapitalismus die Stadt aus den gierigen Griffeln reißen will, muss sie gegen die Einbahnstraße lesen.

Als John Nada die Brille aufsetzt, sieht er die Welt, wie sie ist – eine totalitäre Diktatur des ideologischen Markenfundamentalismus. John Carpenters Film »Sie leben« aus dem Jahr 1988 bringt die materielle Kraft der Manipulation auf die Kinobildschirme und in eine Realität, die den Menschen nicht nur etwas vorgaukelt, sondern sie versklavt. John Nada, ein obdachloser Arbeiter in Los Angeles, dem das »Nichts«, seine eigene Substanzlosigkeit, im Namen eingeschrieben ist, entdeckt in einer verlassenen Kirche eine Schachtel voller Sonnenbrillen. Als er eine aufsetzt, verändert sich seine Wahrnehmung. Wo eine Reklametafel das neue Computersystem bewarb, prangt plötzlich in großen Lettern »Gehorche!«. Nada blickt in eine andere Richtung. Der Zeitungsstand verwandelt sich in Imperative. Zeitschriften leuchten nicht mehr mit bunten Covern, sondern zeigen nur noch eine Botschaft: »Nicht denken!«. Nada realisiert, dass die Sonnenbrille die Ideologie hinter den Dingen sichtbar macht. Sie erlaubt ihm, die wirkliche Botschaft in den Reklametafeln, Postern und Menschen zu sehen.

Der Film wirkt als allegorische Darstellung einer postideologischen Gesellschaft, in der »Sie leben« – die Arbeiterinnen und Tagelöhner, die Reichen und Verblendeten, die Gewöhnlichen und jene, die glauben, im alternativlosen System des Spätkapitalismus eine alternative Nische gefunden zu haben, ohne jemals die Grenzen der Alternativlosigkeit zu sprengen. Sie alle sehen das »Nichts«, weil die hegemoniale Macht kein anderes Sein zulässt, das nicht auf die Befriedigung von Wünschen abzielt. Die Menschen werden – von einer geheimen, nicht umsonst im Passiv der Unsichtbarkeit stehenden Macht – ohne das Tragen der Sonnenbrille nicht als Subjekte angesprochen. Denn die Ideologie macht sie zu Objekten ihrer eigenen Lust. »Optimiere dein Leben, verwirkliche deinen Alltag, booste dich zu neuen Höchstleistungen, indem du konsumierst – aber sei du selbst!« sind Sätze, die man kennt, weil sie den kommerzialisierten Alltag darstellen, ihn strukturieren und ihm den Anschein einer inhärenten Stabilität geben sollen.

Sobald man wie John Nada die Brille aufsetzt, sieht man die Diktatur in der Demokratie, den Totalitarismus in der Konvention, eine unsichtbare Ordnung, die eine scheinbare Freiheit enthält – Ideologie, die an den Fundamenten der eigenen Überzeugung sägt. Die Ideologie zeigt sich nicht als etwas Unscharfes, das unsere Sichtweise verschwimmen lässt, sondern als Blick durch eine Brille, die sie verzerrt. Sie ist paradox, weil sich der ideologische Realismus nicht einfach auferlegt, sondern unsere Beziehung zur sozialen Welt bestimmt, in der wir leben. Das Tragen der Sonnenbrille, das Sehen der »wirklichen« Welt, ist ein Experiment an ihrer materiellen Grundlage. Carpenter spricht damit die konstitutiven Mechanismen des Konsums an und beschäftigt sich auf einer semiologischen Ebene mit ihnen. Er verwendet Symbole neu, deutet sie um, führt sie ad absurdum – um mit ihnen zu spielen, sie zu verdrehen und sie in einer Art Überaffirmation ihrer eigenen Lächerlichkeit aufzulösen.

John Nada wird zum Hacker, der das Tragen der Sonnenbrille als Strategie entdeckt, um eine alternative Praxis des Sehens und Erkennens zu schaffen. Was er durch die Brille sieht, besetzt den öffentlichen Raum von innen heraus. Die Realität, wie er sie kannte, weicht der unbequemen Erkenntnis, dass die Welt um ihn herum nur Fassade ist. Eine, die die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen manipuliert, bis sie sich freiwillig an deren Produktion beteiligen. Die aktive Rolle des Produzierens impliziert, dass die Umgebung konstruiert, also Produkt sozialer Konventionen und Abläufe ist, die unbewusst ablaufen. Schließlich führt die plötzliche Entdeckung der Alternative zu einer Erfahrung, die mit Schmerz verbunden ist. Nada prügelt sich mit seinem Freund, weil er sich weigert, die Brille aufzusetzen. Er will nicht hinschauen – nicht, weil er nicht könnte, sondern weil er weiß, dass die Wahrheit schmerzvoller ist als eine gebrochene Nase.

Wie man eine Straße auslöscht

Die Gestaltung der Öffentlichkeit durch Werbung basiert auf der Verweigerung eines Diskurses und ist kein Ergebnis kollektiver Verhandlungen, selbst wenn es sich dabei um einen Boxkampf handelt. Sie gründet viel eher auf dem Gebot einer Aneignung, die sich als gegeben präsentiert. Durch das Kratzen an der glatten Oberfläche der symbolischen Ordnung kommt man zu einem Verständnis, nach dem die öffentliche Ordnung, wie man sie in ihrer Allgegenwart kommerzieller und politisch-wirtschaftlicher Symbole kannte, kein unwiderruflich-kulturelles Schicksal ist, sondern ein System an öffentlichen Räumen, das sich verändern, aneignen und hacken lässt.

»Überkleben, verhüllen, löschen – die Neubaugasse wird zu temporären Experimentierfeld für eine Entschriftung des öffentlichen Raums«, wie die Künstler Christoph Steinbrener und Rainer Dempf ihr Projekt »Delete!« 2005 nannten. In einem Zeitraum von zwei Wochen verhüllten sie alle Aufschriften, Firmennamen, Logos und Werbetafeln der Einkaufsstraße mit gelben Folien, um einen Raum »neutraler Signale« zu schaffen. Das Projekt zielte darauf ab, die »appellativen Sprachen der Werbung« zu annullieren, »um etwas anderes hervortreten zu lassen: architektonische Gefüge, historische Schichtungen, soziale Akteure, lokale Kommunikation, den arbiträren Charakter symbolischer Güter.«

Die Neubaugasse habe dadurch, so Steinbrener und Dempf, ihre Zeichen verloren, um die »Dinge der Alltagswelt« aufmerksam zu machen auf den eindimensionalen und seiner Kontingenz entrissenen Funktionalismus, der den Alltag der Menschen prägt. Schließlich solle die Intervention als Enttextualisierung der Zeichen den »visuellen Lärm einer hypermedialisierten Stadt« absenken und »urbane Praktiken der fokussierenden Beobachtung und des Selbstausdrucks« regenerieren – und gleichzeitig ein Statement zur immer aggressiver und prominenter werdenden Beschriftung und Werbung setzen.

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Die Realisierung von »Delete!« habe auf der Entscheidung beruht, dass eine Werbefirma im öffentlichen Raum von Wien sogenannte Rolling Boards platzieren durfte, ohne dass es eine Diskussion über die kommerzielle Nutzung dieser Räume gegeben hätte. Diese Werbemöglichkeiten »in den Straßen, Video-Walls in den U-Bahnstationen, Screens in den Zuggarnituren und stockwerkumspannende Werbetransparente, die allesamt Einzug in eine Stadt wie Wien gehalten haben, produzieren ein neues Niveau von visual noise, das die Lesbarkeit der Stadt erdrückt«, wie der Historiker Siegfried Mattl festhielt.

Der praktischen »Entschriftung« der Straße ging eine Vorbereitungsphase der »Verschriftlichung« von fast zwei Jahren voraus, in der sich die Künstler darum kümmerten, die Konzeption in ihrem Umfang als legale Kunstinstallation im öffentlichen Raum möglich zu machen. Konkret sei dem Projekt ein bürokratischer Aufwand mit Stadt und einzelnen Geschäftsleuten der Neubaugasse vorausgegangen. Erstere musste von der künstlerischen Tragweite überzeugt werden, letztere sollten vom kommerziellen Mehrwert überzeugt werden. »Dazu gehört[e], dass die Neubaugasse auf eine spektakuläre Weise neu wahrgenommen wird, die Leute neugierig gemacht werden, hingehen und sich völlig neu orientieren«, so Steinbrener.

Die Künstler verstanden die Stadt, die Straße, das Schild als einen Text. Als solcher steht er in einem direkten Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt und in ihrer wechselseitigen Beziehung zueinander. Die räumliche Struktur wird nicht passiv konstruiert. Menschen schreiben sich in den Raum ein, beschriften und verschriftlichen ihn, indem sie eine aktive Rolle in der Produktion des Raumes übernehmen. Das zeigt sich auch daran, dass der »neutralisierte, homogenisierte Zeit-Raum« für Jean Baudrillard die Manifestation des Urbanen ist. Er bezeichnet ihn als einen »Zeit-Raum der Indifferenz«, als ein »Vieleck aus Zeichen, Medien und Codes«. Dadurch sei jede Tätigkeit und jeder Augenblick des täglichen Lebens durch vielfältige Codes einem bestimmten Zeit-Raum zugeordnet. Der Raum unterliegt keiner passiven Konstruktion, sondern einer aktiven Rekonstruktion, die innerhalb sozialer Systeme stattfindet und auf die Autor*innen zurückwirkt.

Bevor sich die Straße selbst auslöscht

Wie sich der Kapitalismus als natürliche Umgebung präsentiert, ist eine Auswirkung sozial-kultureller und wirtschaftlich-ideologischer Gestaltung unserer Öffentlichkeit, insbesondere jener kommunikativen und sozialen Räume, die wir häufig nutzen und formen. Wir müssen verstehen, wie sich Prinzipien der semiotischen Beziehungen in die Formen der Artikulation einschreiben. Dafür bedarf es theoretischer Anhaltspunkte, die praktische Wege öffnen, die zuvor verstellt waren. Eine solche Theorie, so die Monochrom-Philosophen Günther Friesinger und Johannes Grenzfurthner, »muss die Art und Weise offenlegen, in der die Medialität sowohl eine Funktion der sozialen Machtverhältnisse als auch die Form der Präsentation ist, die sie eröffnet und arrangiert.«

Dafür muss man den öffentlichen Raum zuerst zergliedern: in seine Aktivitätsknoten und Verkehrswege, Kommunikationsinseln und Ränder, Zeichen und Symbole. Im Fall von »Delete!« verdichtet sich diese Ausdifferenzierung in einem multifunktionalen Raumtext, einer »Semiosphäre« heterotopischer Nicht-Grenzen, die offen ist für eine Neu- bzw. Umschreibung. Im Prozess dieser Umschreibung soll die Straße als Raum selbst zu Bewusstsein gelangen. Der Literaturwissenschaftler Karlheinz Stierle unterscheidet die »Stadt« deshalb von einem »Dorf« als »Ort der unmittelbaren Kommunikation und direkten Interaktion« dahingehend, dass ein Dorf – im Vergleich zur Stadt – weniger auf ein konstituierendes System der Zeichen angewiesen sei. »Je größer die Stadt, desto geringer ist in ihr die Chance der direkten sprachlichen Kommunikation, umso zahlreicher sind aber auch die Zeichensprachen, in denen die multiple Kohärenz der Stadt sich spiegelt.« Er deutet die Größe einer Stadt als etwas »Unvertrautes«, in das sich die Zeichen einschreiben, um eine Vertrautheit zu schaffen. Es entsteht ein Raum, der durch soziale Praktiken und unterschiedliche Möglichkeiten der Aneignung verändert werden kann. In ihm kommt es zu einer Befüllung mit Zeichen, die sich in der ästhetischen Erfahrung von Werbung, Logos und Schildern niederschlägt.

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Gleichzeitig steht der öffentliche Raum in einer Wechselwirkung seiner semiotischen Besetzung und folgt einer sprachlichen oder auf Zeichen basierten Aushandlung, die Anfangs- und Endpunkt seiner Transformation bedingt. Wir können uns keinen Raum ohne textliche und visuelle Zeichen vorstellen, weil es ihn nicht gibt. Logos, Schriftzüge und Werbetafeln prägen das Stadtbild, dessen Zentren und Einkaufsstraßen. »Der Raum, der eigentlich allen gehört, wird in bestimmter Hinsicht privatisiert. Diese Privatisierung bedeutet, dass die Werbenden das Recht erhalten, von denen, die den Stadtraum erleben, einen Obolus an Aufmerksamkeit einzufordern«, so der Architekt Georg Franck. Im Stadtraum will er eine »Invasion von Marken« erkennen – einer Formulierung, der man nicht zwingend folgen muss, um Werbung als Teil einer kapitalistischen Ausprägung der Zeichen auszumachen, die in ihrer Zusammensetzung nur ein Ziel verfolgen: das Mehr an Konsum und die Stabilität des Systems, die dieses Mehr reproduziert.

»Heterotopien setzen immer ein System von Öffnungen und Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringbar macht«, schrieb Michel Foucault in einem Essay zur ideologischen Aufladung des Raumes. Er bezeichnete Heterotopien als Räume des Außen im Innen und Innen im Außen. Man muss den inneren Raum von außen »verstehen« können, um mit ihm in einen inneren Dialog zu treten oder ihn von innen heraus »lesen« zu können. Dieses Verstehen funktioniert nie ganz, weil Raum das Ergebnis einer Artikulation ist, bei der man versucht, die innere Bedeutung zu fixieren, diese Fixierung aber durch seine Abgrenzung zu einem Äußeren unmöglich ist. In einem subversiven Verständnis des Hegemonieanspruchs des Raums stehen wir an der Schwelle. »Es wäre eine totalitäre Illusion zu glauben, man könne die Totalität eines Signifikationssystems meistern, ganz egal, ob wir dieses System ›Diskurs‹, ›Gesellschaft‹, ›Stadt‹ oder ›öffentlicher Raum‹ nennen«, so der Philosoph Oliver Marchart.

Mit 120 Sachen über die Diskurs-Straße brettern

Die Betretung des Raums erfordert uns etwas ab, sie ist nicht einfach gegeben, indem man die Grenze zwischen Innen und Außen affirmativ anerkennt oder ablehnt. Gleichzeitig zwingt uns der Raum von außen etwas auf, er drängt uns zum Eintritt, gerade weil er sich selbst nicht genügt. Der Raum muss permanent eine Grenze ziehen, um Raum zu bleiben. Durch die Zeichen der Werbung erfährt er unmittelbare Ausdehnung, die sich im Moment unseres Eintritts verdichtet, um sich in unsere Körper einzuschreiben. Aber: es kommt zu keinem Austausch, zu keinem Diskurs. Der Dialog als Einschreibung ist vorgetäuscht. Wir finden uns wieder in einem fingierten Abhängigkeitsverhältnis – die Werbung schreibt den Eindringling aus dem Raum heraus, sie entschriftet ihn. Übrig bleibt die Illusion: »Man glaubt einzutreten und ist damit ausgeschlossen«, so Foucault.

Dieser Ausschluss im Einschluss ist der dialektische Stillstand, aus dem heraus wir an den Möglichkeitsbedingungen für eine Neuetablierung einer Struktur ansetzen können. Die ausschließende Funktion der Grenzziehung zu einem Innen etabliert eine Ambivalenz in der durch Grenzen definierten Differenz. Eine Ambivalenz, die sich durch Zeichen kontextualisieren lässt. »Die Stadt ist ein Diskurs«, schrieb Roland Barthes. Und dieser Diskurs sei eine Sprache. »Die Stadt spricht zu ihren Bewohnern, wir sprechen unsere Stadt, die Stadt, in der wir uns befinden, indem wir sie bewohnen, durchlaufen und ansehen«. Soll heißen: Man ist im urbanen öffentlichen Raum von einer undefinierten Anzahl unterschiedlicher Schriftzeichen und -symbole umgeben, die auf uns einwirken, während wir auf sie einwirken.

Die Straße wird zu einem Zeichenort, der Zeichenräume bedingt und gleichzeitig strukturiert. Diese Dynamik untersteht den Regeln eines Rhythmus, den die Bewohner*innen der Stadt vorgeben. Barthes benennt einen »grundlegenden Rhythmus der Bedeutung, der aus der Opposition, dem Alternieren und der Nebeneinanderstellung merkmaltragender und merkmalloser Elemente« bestehe. Die Einkaufsstraße, das Zentrum, der innere, von Konsum geprägte Raum einer Stadt wird dadurch zu einer Spielwiese der Zeichen, deren Anordnung zwar vorgegeben scheint – aber gleichzeitig den subversiven Kräften des Bruchs unterliegen können, sofern es Raum für Spiel gibt.

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Das Kunstwort »Adbusting«, gebildet aus den englischen Worten »advertising« und »to bust« (stören, zerstören), beschreibt das gezielte Verändern von Werbung. Es handelt sich dabei um einen Eingriff in klassische Werbemedien und einer Überspitzung der Original-Version durch Adaption, Anpassung und Affirmation von Zeichen und Symbolen. Ziel ist es, sich gegen die manipulative Intention der Werbung und deren Handlungsanweisungen zu richten, indem man die Bedeutung der Aussage verändert. Das kann ein Plakat sein, das sich verfremden lässt. Oder ein Sticker, mit dem man sich durch eine Aussage in den Raum einschreiben kann.

Schließlich unterliegt das System der Zeichen gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsbeziehungen, in das sich durch die Veränderung der Zeichen eingreifen lässt. Man kann sie dekonstruieren, an- und umordnen, in neuen Kontexten platzieren oder löschen, um Irritationen und Fehler im hegemonialen System zu provozieren. Und wie John Nada in »Sie leben« die Gegenwart zu hacken. Denn ein Hack zweckentfremde die Kultur, in der er stattfindet, schreiben die Kulturwissenschaftler Thomas Düllo und Franz Liebl. Indem der Hack sich in einem fremden System einnistet, macht er es sich zu eigen, bevor er sich in einem Akt der Desorientierung neu orientiert. »Urban Hacking« versteht sich also als Arbeit an und in den Zeichensystemen der Straße und durch das Eindringen in ein System, dessen kapitalistische Funktionsweise auf der scheinbaren Unsichtbarkeit seiner selbst beruht.

»Der Hacker installiert eine Störung nicht am, sondern im System, die die Codestrukturen dieses Systems sichtbar macht«, so Düllo und Liebl. Deshalb muss man den Hack als performativen Prozess denken. Denn das Hacken realisiert sich über seine eigene Praxis, ist Zweck und Mittel zugleich – und bezieht sich auf sich selbst, um etwas anderes offenzulegen, das (absichtlich oder unabsichtlich) nicht offengelegt ist. »Der Hack hat kein Ziel, er ist das Ziel«, schreiben Düllo und Liebl. Man erzeugt dadurch eine Störung im System, »ein parasitäres Dasein in der Welt der Reklame«, wie es der Mediendesigner Pierre Smolarski nennt. Indem man den öffentlichen Raum als Anordnung von Zeichen begreift, lässt sich die symbolische Deutungshoheit im öffentlichen Raum infrage stellen. Eingriffe ins System machen die Funktionen des Raumes sichtbar, weil er in seiner intendierten Funktionalität gestört wird. Aus »Never change a running system« wird »Change a system and run«.

Das ist die semiotische Subversion des Culture Jamming, die Resemiotisierung eines Zeichensystems, das seine ursprüngliche Bedeutung konterkariert, indem sie dessen Kontingenz aufzeigt. Man deutet die Bilder und Symbole um und lenkt den Blick auf die verändernden und veränderten Zeichen. Die scheinbare Natürlichkeit der Zeichen erfährt einen Bruch, sofern wir feststellen können, dass das, was zuvor natürlich gegeben war, plötzlich in seiner Veränderung wahrnehmbar wird. Der Akt des Wahrnehmens, dem die Prozesshaftigkeit des Erkennens vorausgeht, passiert nicht mehr unterbewusst; ist kein passives Passieren, sondern aktives Agieren. Anstatt die Tatsache zu akzeptieren, als Konsument*in in eine Abhängigkeit durch Zeichen der Stadt zu geraten, übernimmt man eine handelnde Rolle oder wird durch die Intervention dazu gedrängt, selbst zu handeln. Der Eingriff in das System modifiziert unsere Vorstellung. Er schafft eine Plattform für Gedanken und Handlungen, die zuvor nicht artikulierbar waren. Aber: »Nur das Fehlen und der Verlust vertrauter Umgebungen und Konventionen macht diese Konstruktionen greifbar«, so Friesinger und Grenzfurthner.

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Die systematische Intervention verändert nicht die Welt, sondern provoziert gesellschaftsveränderndes Handeln durch veränderte Aufmerksamkeit. Plötzlich lassen sich Brüche, Leerstellen und Spalten erkennen, die zuvor den Schein einer Natürlichkeit besaßen. Das ist der Angriff auf die Normalität und ihre Konvention. Das ist die semiotische Subversion, die man als Taktik der »Kommunikationsguerilla« versteht und Umberto Eco als »semiotische Guerilla« bezeichnet. Allein die Begriffsdefinition stellt klar: Man befindet sich im Krieg – ein Krieg, in dem Straßen von Zeichen bombardiert und Fassaden mit Codes durchlöchert werden. Die Guerillataktik des Culture Jammings zielt allerdings nicht darauf ab, die Kommunikationskanäle zu unterbrechen, sondern erkennt sie als Herrschaftspraxen an. Dabei geht es nicht darum, die Codes zu zerstören – das bliebe nur Vandalismus –, sondern sie zu dekonstruieren, um sie strategisch umzudeuten.

Der Konsumanleitung den Finger zeigen

Die Intervention als Chance zur Diversität der Meinungen im öffentlichen Raum ist eine Kritik an seiner Verteilung. Schließlich geht es bei diesen Formen der Intervention nicht darum, für die Menschen zu ent- und unterscheiden, was gut für sie ist –, sondern um ihnen eine Art Pascalsche Wette anzubieten, die ihren Wunsch nach Neuem und Neuartigen antizipiert. Man geht davon aus, dass der Mensch noch nicht weiß, was er will – und dass Dinge, die er am meisten schätzt, mitunter solche sind, die ihn überraschen, kurz: Der Mensch wird nicht vor vollendete Tatsachen gestellt, sondern vollendet die Tatsachen selbst. Allerdings weiß er nicht, um welche Tatsachen es sich handelt, bis er sie vollendet hat. Man sucht nach einem undefinierten Etwas, und stößt – über Umwege des provozierten Zufalls – auf eine Entdeckung, die man ursprünglich nicht im Sinn hatte. Das zeigt sich an »Delete!« und seiner gewollten Unabgeschlossenheit. »Die semitransparenten Oberflächen, die wir benutzten, sind uns nicht einfach passiert, sondern gingen auf eine bewusste Entscheidung zurück«, so Christoph Steinbrener. Gelbe Folien verhüllten zwar die Zeichen, verdeckten sie aber nicht ganz. »Delete!« schob sich mittels als »Entschriftung« getarnter »Beschriftung« in eine Einkaufsstraße und legte damit offen, dass Kunst nur eine Frage des Schauplatzes ist.

Die Installation zeigte dadurch die Möglichkeit kontingenter Wahrnehmung auf. Der gewollte Kollateralschaden war ein »Junkspace«, ein Überbleibsel und Abfallprodukt moderner Architektur. Er manifestiert vermüllte Räume durch verdichtete Zeichen, offenbart ein akkumulierendes Etwas, bei dem »immer mehr immer mehr ist«, wie der Architekt Rem Koolhas anmerkte. Mit Blick auf eine Einkaufsstraße wie die Neubaugasse konnte man erkennen: Das Mehr realisiert sich nicht einfach irgendwie. Es ist Ergebnis einer forcierten Prozessleistung, in der Architektur immer seltener ihrer Zweckmäßigkeit folgt, während man den Raum für Zwecke des Konsums umdisponiert. Fassaden werden zu Modulen, in denen sich Markenmythen organisieren und anordnen lassen. Denn: »Marken im Junkspace spielen dieselbe Rolle wie Schwarze Löcher im Universum – sie sind Essenzen, durch die alle Bedeutung verschwindet«, so Koolhas. Die Bedürfnisse des Menschen und seine sozialen Handlungen treten in den Hintergrund, oder eher: werden in den Hintergrund getreten von einer amorphen Architektur, die ihre Funktion an den Bedürfnissen des Kommerzes ausrichtet und ihn zum dominanten Einfluss auf unser Leben macht.

Die Zeichen-Vermüllung ist keine Folge eines globalisierten Turbokapitalismus, sondern seine Bedingung. Ein Umstand, der sich leicht erklären lässt. Der öffentliche Raum wird durch seine maximale Befüllung vorhersehbar, weil er nicht individuellen Entscheidungen seiner Gestaltung unterliegt, sondern den ökonomischen Interessen, ihren kommerziellen Versuchungen und Verwünschungen folgt. Durch den Eingriff des Überdeckens werde der Blick auf andere Dinge gelenkt. »Motive, die in der Stadt zwangsläufig untergehen, weil sie nicht hinreichend farbig sind, bekommen plötzlich wieder Bedeutung«, so Steinbrener. »Es ist doch interessant, was man im städtischen Raum unentwegt an Zeichen und Zeichenschichten ausblenden muss.«

Das Überkleben und scheinbare Unsichtbarmachen von Werbung und Logos wie bei »Delete!« erobert den Raum nicht zurück – dazu müsste man sich fragen, zu welchem »zurück« man überhaupt will, ohne gleichzeitig in kulturpessimistischer Verklärung einer idealisierten Authentizität der Vergangenheit zu folgen. Ein »zurück« kann es aber allein deshalb nicht geben, weil die Tatsache, dass ein öffentlicher Raum, frei von Hierarchie und Herrschaft, nie existiert hat. Der öffentliche Raum, die Öffentlichkeit ist qua ihrer Definitionseigenschaft immer unterschiedlichen Herrschaftsverhältnissen unterworfen, die sich darin einschreiben. Was durch das Überkleben stattfindet, ist vielmehr ein Angebot, mit dem öffentlichen Raum in einen erneuten Dialog zu treten, der nicht unmittelbar und von sich aus zum Konsum anleitet. Hier besteht die Möglichkeit, aus einem Zustand der Sprachlosigkeit auszubrechen, die Stimme wiederzuerlangen, sich in den Raum neu einzuschreiben und der manipulativen Macht – wie John Nada am Ende von »Sie leben« – den Finger entgegenzustrecken.

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