Sebastian Prantl, der nicht nur zusammen mit seiner Frau Cecilia Li, der aus Taiwan stammenden Pianistin, 1988 das Tanz Atelier Wien gründete, sondern auch in der Erschaffung des Tanzquartier Wien sowie des WUK seine Hände im Spiel hatte, hat gerade auch durch seine zahlreichen Mitinitiativen ein sehr konkretes Bild von der kulturpolitischen Lage Österreichs. Dabei erzählt er im Interview unter anderem, wieso die jetzige Situation eine Chance für eine Reformation des derzeitigen Kulturbetriebes darstellt und wie der Übermacht der »cultural industries« entgegenzuwirken ist. Ein Gespräch über Tanz und Theater, Vergangenheit und Zukunft sowie Nähe und Distanz.
skug: Wie geht es dir als Tänzer in der jetzigen Situation?
Sebastian Prantl: Gemischt und nachdenklich! In Asien gibt es eine Gruppe, die ich schätze, die gerade mit Begriffen wie »Dance Ecology« zurückgeht zur Betätigung in der Natur, im Konkreten sich an Bio-Farming beteiligt, um so einen neuen Gestus von Körperökonomie und dessen ästhetische Konsequenzen zu erforschen (wie das etwa auch der Butoh-Tanz zelebriert). Das hätte insofern neue Perspektiven in der derzeitigen Situation, als dem zeitgenössischen Bühnentanz, der eher mit Stadtkultur assoziiert wird und natürlich stark betroffen ist, relevante Aspekte abzuverlangen wären. Also wenn man sich vorstellt, dass jetzt Innenräume und Bühnen überhaupt nicht mehr oder nur mit äußerst schwierigen Vorkehrungen aufgemacht werden, da stellt es mir schon die Haare auf. Aber um positiv zu bleiben: Was gäbe es denn für Möglichkeiten, jetzt notgedrungenermaßen neues, sinnvolles Terrain zu besetzen? Ich finde es zum Beispiel interessant, dass in der jüngeren Generation Disziplinen, wie Yoga in der Natur zu betreiben, geradezu boomt. Also es scheint sich ja etwas zu verändern im Umgang mit »Räumen«, insofern ist dieses »back to nature« nicht nur Mode, sondern elementares Bedürfnis. Im breiteren Diskurs müssten diese neuen Schnittstellen herausgearbeitet werden, zu Gunsten neuer Rahmenbedingungen für Theater, das jetzt Sinn macht und nicht hauptsächlich »provokant« von der Bühne aus agiert… Wenn man allerdings den Theaterbegriff größer spannt, dann hat es was mit den zukünftigen partizipativen Denk- und Aktionsräumen zu tun, und da sind die Fragen schon »komplizierter«: Was bedeutet (privater) Innenraum, Außenraum, öffentlicher Stadtraum, Naturraum, Open Air … Family Park, Donauinselfest und so weiter. Das sind diese Themen, die mir jetzt in der Debatte stark abgehen: Also gerade bei den Grünen! Bitte schön, da geht es jetzt plötzlich nur um Zahlen und Auslastungen von Festspielen? Das kann nicht sein, das muss man prinzipieller diskutieren.
Was meinst du mit »prinzipieller«?
Also, was bedeutet Theater(-machen) schlechthin? Worum geht es da? Welche Phänomene stellen sich ein, greifen Platz, verändern Ort und Zeit? Geht es um Konfrontation, Transformation, Beschauung von Beschautem, Dialog? Natürlich, im Falle des Tanzes geht es auch um die Berührung im wahrsten Sinn des Wortes, um haptische Sinnlichkeit. Jetzt wird es schwierig: Ich meine jetzt nicht, dass ein Virus zu ignorieren sei, aber man muss es auch sehr konkret festmachen und abwägen, was möglich ist bzw. auch etwaige Hysterien identifizieren dürfen. Ich bin viel in Kontakt mit meinen Kolleg*innen in New York und London, wo es natürlich derzeit verheerend ist, das darf man nicht unterschätzen, aber man muss gleichzeitig auch die Türen offenlassen und sagen: Wir können uns jetzt nicht alle abschotten und isolieren, wir sind abhängig voneinander, wir müssen im Dialog bleiben können, jetzt halt mit Abstand! Und das ist ja auch nicht uninteressant, also gerade auch im Tanz. Ich bin mit Contact-Improvisation groß geworden, wo Nähe in jeder Hinsicht wichtig und ausschlaggebend ist, vom physikalischen bis zum emotionalen Aspekt … aber vielleicht entsteht jetzt wieder was ganz Neues, notgedrungenermaßen?
Und wenn du jetzt über diesen Dialog im Tanz sprichst: Was, denkst du, gibt es da für neue Zugänge, die man entwickeln könnte, mit denen man eine neue Diskussion anstoßen könnte?
Ich habe mich einschlägig mit Friedrich Kieslers Theatervisionen, z. B. der »Raumbühne«, beschäftigt (ein viel zu unterbewerteter Theatermann, Architekt und Visionär). Diese »Raumbühne« ist eine kreisförmig »schwebende« Bühnenkonstruktion mit einer spiralförmigen Rampe und wurde 1924 im Konzerthaus in Wien eingebaut. Kiesler hat bei seiner Konzeption die vorhandene Guckkastenbühnenachse provokant außer Kraft gesetzt und so konnte die Bühne von allen Seiten offen auf mehreren Ebenen bespielt werden. Seine späten Konzepte, z. B. »The Endless House«, verwoben dann noch universellere Themen und tradierte Materialien zu Innen- und Außenraum. Diese Vorgaben suggerieren offene multi-funktionelle Räume, die vieles zulassen und doch philosophische Ansprüche stellen. Da muss ich jetzt auf »Klein-Österreich« zurückkommen, wo wir fragwürdige Opernambiente vorfinden, die weder mit (Theater-)Geschichte noch mit Verortung etwas zu tun haben, wie z. B. im Steinbruch von St. Margareten. Fragile Natur (Naturschutz scheint ein hohles Schlagwort zu sein) verkommt zum Dekor und bietet einem enthusiastischen Publikum jeweils am Schluss noch ein Feuerwerk, egal ob es thematisch legitim ist, egal wie heiß der »Pannonische Sommer« sein mag … Das ist mit »ecology & economy of theatre making« unvereinbar! Des Weiteren denke ich an die Abstraktion von Bewegungsabläufen schlechthin, wie z. B. bei vielen Kampfsportarten, wo Nähe und Distanz vielschichtig imaginiert wird, um daraus emotional-ökonomische Energetik abzuleiten und mannigfaltig einzusetzen. (Die Parks in Taiwan sind am frühen Morgen mit diesen »virtuosen Kraftfeldern« besetzt, die sehr inspirierend auf mich wirken.) Um aus dem »Corona-Jammertal« nach einem »Shutdown« herauszukommen, könnte man Bewegungstrainings auf öffentlichen Plätzen anbieten, damit die Menschen wieder bewusst zueinander finden – mit entsprechenden Abstandsritualen. (Von wegen: All das findet ja auf den Balkonen der italienischen Städte so und so statt, wenn man den Clips im Netz folgt.) Also lassen wir die großen »Häuser am Ring« einmal für kurze Zeit leer und still – um Gottes Willen – vielleicht tut es den Gemäuern auch mal ganz gut. Außerdem sind diese ja ohnehin im Netz vielfältig präsent und vermarkten sich global. Nach dem Motto: Alle sollen nun online sich gebärden, flach, Zeit-uneingeschränkt, fragmentiert und sexy – no way!
Das ist interessant. Ich dachte mir gerade, ob das jetzt nebst dem ewigen Kampf gegen die großen Häuser nicht einmal die große Chance für die freie Szene ist.
Absolut! Also ich bin ja auch schon über 60 und (immer noch) frei, aber durch Vernetzung bin ich bislang fit in meinem Beruf unterwegs und muss mich um die schrumpfenden Subventionstöpfe nicht streiten, wobei sich das jetzt ändert angesichts des Zusammenbruchs der Netzwerke. Wir werden sehen, wie lange wir uns noch über Wasser halten! Es scheint schon so, dass es immer noch diese längst überholte Hierarchie gibt, wo »frei« im Gegensatz zu (an Häuser) gebunden steht. Das sind fragwürdige Dinge und leider immer noch sehr stark in der DNA der österreichischen Theaterlandschaft vorhanden. Der Begriff der »Freien Szene« – von meiner Generation geprägt – hat ja fast schon historische Qualitätsmerkmale. Als Bittsteller um Subventionen ansuchend und darüber hinaus sich mit der jeweiligen politischen Ideologie identifizierend, ist man schon prekär unterwegs. Das berühmte »rote Wien« hat in der Kulturpolitik schon lange abgedankt, da half auch die grüne Mischung kaum … und jetzt? Es gab immer wieder interessante Zeitfenster und Rahmenbedingungen, wo sinnvolle Wendungen möglich gewesen wären, Stichwort: Museumsquartier/Tanzquartier. Wir wollten immer ein offeneres Haus, wo Künstler*innen auf der Speerspitze alternierend, im Wechselspiel der Kräfte, relevante Inhalte ausprobieren (Art-Based Research auf Neudeutsch) und quasi als Stadtchoreograf*innen weit über die Halle G hinaus tätig werden (das war vor 20 Jahren!). Aber nein, Intendant*innen, Hierarchie und Konkurrenz mussten her, um ein klares Feld abzustecken (»creative industries«). Das wurde nicht verstanden. Es geht doch darum, dass Künstler*innen per Definition frei agieren und sich begegnen, reiben und beflügeln. Konkurrenz als Triebfeder für den Markt, gekoppelt an Tourismus, ist für jegliche Theaterentwicklung fatal. Jetzt ist wieder ein Zeitfenster offen! Jetzt geht es wieder um Grundsätzlicheres, Überlebensnotwendiges (Gesundheitliches, Wissenschaftliches etc.)! Ein neues Merkmal zur Sozialisierung und Ökonomisierung von Gesellschaften? Theater ist immer und überall Schmieröl, es ist subversiv und kann sich auch mit einem Virus auseinandersetzen! Und so wäre auch die Stadt Wien immer wieder neu aufgerufen, sich Vorbildern wie z. B. Friedrich Kiesler anzunähern. Also die »Freie Szene« und die »großen Häuser« und Festivals sind nicht gegeneinander auszuspielen bzw. anhand von Quoten auseinanderzurechnen. Auch dazu bitte eine sinnvolle Diskussion. Was passiert, wenn die Tourist*innen ausbleiben? Wie schaut ein Publikum in Zeiten von Corona aus?
Ich habe prinzipiell das Gefühl, dass meine Generation so eine Geilheit auf Konfrontation hat.
Das sind auch zyklische Aspekte – es kommt in Loops! Es staut sich auf! Ich würde mich freuen, wenn es wieder hitzigere Debatten gäbe, die auch Ergebnisse erzielen. Wir gründeten damals IGs, die ja immer noch da sind und Missstände anprangern. Inwieweit sich Verbesserungen einstellen, bleibe dahingestellt. Wir waren furchtloser damals und forderten öffentlichen Diskurs auf Augenhöhe und nicht nur hinter geschlossenen Türen.
Aber ich finde es auch schön, dass du vorher die Donauinsel erwähnt hast. Das alles gehört halt einfach auch in den Bottich der kulturellen Prägung.
Da wären ja auch interessante Phänomene zu untersuchen: Das könnte man neu ausrichten und ökologischer, besser in Bezug auf Frequenz, Zahl und Örtlichkeit organisieren. Natürlich lebt es von Nähe, Berührung, Erotik, Hitze … aber vielleicht könnte man da ja grad mit den heutigen Hightech-Formaten ganz neue »Zeit- und Raumchoreografien« entwickeln.
Vor allem einfach, weil diese ganze Situation, wie man aus zahlreichen Prognosen weiß, nicht hier in diesem Jahr Stopp machen wird, sondern sich jetzt einmal für ein paar Jahre ziehen wird. Und das könnte der fruchtbare Boden für einen transformativen Prozess der gesamten Kulturszene sein.
Es geht um die Grundparameter: Ich unterrichtete viel an Kunstuniversitäten, auch in Asien, und bemerke zunehmend ein Auseinanderklaffen, von Soft- und Hardware, um es so technisch auszudrücken. Wo die »Hardware« dominiert und sich zunehmend alles danach ausrichtet, entsteht ein großes Vakuum. Perfekt geschulte Körperformation und Technik, aber es fehlt der Inhalt, die Verwurzelung, die (Kunst-)geschichtliche Integration – zu viel »copy-paste«. Meine Frage ist dann meistens: Was tut es mit dir und mir – mit uns, miteinander? Es geht nicht um ein Produkt! Es geht um Prozesse: Wer bist du, wer bin ich – wer sind wir? Da komme ich wieder auf Friedrich Kiesler zurück: »US, YOU, ME« ist der Titel einer exemplarischen, späteren Arbeit. »So swift… to roar from rift to rift… a prey… of nature’s gift… to man… for self-destruction / resist, sweet madman… the drive to wound and kill… have the guts… to live your depth… / the security is… you me us« (Friedrich Kiesler).
Also grad für dich, der viel in Asien unterwegs ist: Nachdem du am Anfang darüber geredet hast, dass solche körperlichen Praktiken aus dem asiatischen Raum hier herüberschwappen und dass das jetzt Leute in Europa machen, aber eben sehr wohl aus einer Motivation der »Mindfulness« heraus – in diesem sehr schweren, pathetischen Sinne: Wie kannst du dir erklären, dass solche Praktiken aus diesem Raum kommen, in dem die Leute aber so »disconnected« sind?
Das ist diese sogenannte globale Transformation mit allen Folgen und Konsequenzen – wir spüren es ja gerade jetzt massiv! Es gibt z. B. viele junge Japaner*innen, die keine Ahnung haben, was Zen ist und was ein Sandgarten bedeutet. Natürlich genauso bei uns! Diese Gleichschaltung und Abflachung spitzen sich auf allen Ebenen und in allen Kulturen zu: Stichwort China, als Überwachungsstaat schlechthin, wo die jetzt vollzogenen Maßnahmen mit relativ geringem Widerstand hingenommen werden. Wir Europäer stehen jetzt plötzlich auf der Schwelle vor gewaltigen Entscheidungen: Sollen wir da auch mit? Die Verunsicherung ist berechtigterweise groß, da unsere sogenannte Freiheit (Freizügigkeit) auf dem Spiel steht! Unser viel zitierter »Humanismus«, was bedeutet er? Wir seien zu langsam (im »digitalen Fortschritt«), zu träge und zu kompliziert. Nichtsdestotrotz, darum geht es! Qualitative Vielschichtigkeiten müssen »hochgehalten werden«, sonst haben wir alles verloren, was uns ausmacht. Europa steht jetzt wirklich am Scheideweg. Die Welt als Bühne (als Raumbühne), ist sie wirklich am Zenit angelangt – tanzen wir auf dem Vulkan? Ich glaube nicht an Weltuntergang, der Globus hält noch einiges aus, aber es wird eindeutig enger! Also, was tun wir? Eine komplexe (emotionale) Frage, die neben all den Statistiken allemal nach Antworten sucht. Stichwort Amerika: Die Gesellschaften kommen gerade an die Kante eines Abgrunds: USA, Brasilien … Man denke nur an den Rassismus in alle Richtungen, der wieder neu aufbricht.
Aber was ich jetzt rückbesinnend auf das Publikum noch fragen wollte: Wie kann man diese neue Distanziertheit umdeuten? Wie muss man Berührung und Nähe für Rezipient*innen späterer Zeit reinterpretieren?
Mich beschäftigt die Frage nach einer partizipativen Teilhabe auch hinsichtlich rebellischer Agenden, z. B. die der Demonstrationskultur. Als singulärer Protagonist könntest du nonstop aktiv performen, wie z. B. der Choreograf in Istanbul während der Ghesi Park-Proteste, als er in Stille dastand, mit einem profunden tänzerischen Gestus, und sofort verstanden wurde, um schließlich als Provokateur weggeschafft zu werden … In Zukunft könnte Tanz somit eine sehr prominente Rolle einnehmen, was Widerstand betrifft. Ein beschränktes Publikum ist äußerst relevant und effizient vis-à-vis der Teilhabe und Weitergabe von kodifizierten Informationen (all das gab es schon im ehemaligen Ostblock vor nicht so langer Zeit und ist ja wieder höchst aktuell bei den Hongkong-Protesten sichtbar geworden). Also, das Partizipative könnte eine ausschlaggebende Rolle spielen, nicht bloßes »Entertaining« oder pseudo-avantgardistisches Gebärden … »Living Theatre« … das haben wir ja alles schon gehabt! Aber eben diese Gangart, dieses Engagement, dieses »worum es eigentlich geht« könnte, müsste wieder in den Vordergrund rücken. Man könnte alle Musikformationen (Orchester bis Solist*innen von Klassik bis Avantgarde) im Konzerthaus als »Soundparcours« auftreten lassen. Das Publikum kann (mit Zeit- und Zahlencodes versehen) durch das Gebäude wandern und genießen, Neues anders hören und wahrnehmen. Vielerlei ist denk- und machbar.
Quasi Konzert-Schauen auf eigene Gefahr.
So irgendwas Ähnliches! Oder man zieht die Abstandsregel von zehn Quadratmetern pro Darsteller*in konzeptuell rigoros durch und untersucht, was mit Choreografie, Stück und Inhalt passiert … da wären wir dann eventuell bei einem »Post-Robert-Wilson’schen Happening«. Vieles ist möglich, keine Frage! Und natürlich wäre dann noch Film/Medien in diesem Zusammenhang neu zu positionieren. Also wir sehen: too many options! Ich persönlich liebe es immer, bei Proben im Publikum zu sitzen und einer Vielzahl von Protagonist*innen zu folgen. Oder den Luxus, in Orchesterproben zu gehen, wo fast niemand im Publikum sitzt: Ich habe diese Möglichkeit immer genutzt, weil es das Erlebnis verdichtet. Großartige Theoretiker*innen, sprechen vom Tod des Theaters, wenn die Proben abgeschlossen sind und die Premiere etwaige Veränderungen am Stück quasi versiegelt. Das Veränderbare, das Transformierende ist die wahre Droge am Theater(-machen). Da, wo es sich aufbaut, um dann (vor einem Publikum) langsam wieder zu verebben. Mein Interesse gilt hauptsächlich dem »improvisational theatre«, »real-time composition«, »evolutionary theatre« … all diese Labels sind ständig neu zu ordnen und zu befragen! Und gerade in der österreichischen Theaterlandschaft mit ihrem Überhang an Repertoire-Theater (das manchmal hohl erscheint) wäre also eine neue Zuschreibung und Ausrichtung sicherlich spannend. Hier sollte die Kulturpolitik zum Diskurs anregen und nicht sagen: Da mischen wir uns nicht ein.
Weil wir jetzt aber auf vielen Ebenen eine Tendenz erkennen, die in so einen Konservatismus mündet, frage ich mich: Wer sind die Leute, die dann überhaupt in so ein »neues« Theater kommen würden? Ich meine, wenn sowas vom Staat subventioniert würde, dann könnte das ja eventuell tatsächlich eine neue Ära des Theaters anzetteln, aber wenn nicht?
Aber schauen wir z. B. einmal auf die Tschechische Republik und ihre ersten Reflexe bei Corona hinsichtlich (Theater-)Schaffender: Wenn ich es richtig im Kopf habe, kann das potenzielle Publikum jetzt Tickets kaufen, nicht wissend, wann es diese benützen wird, aber damit ist gewährleistet, dass die Protagonist*innen bis hin zu den Bühnenarbeiter*innen überleben. Und nicht die Voucher-Debatte wie hierzulande. Somit wird eine Solidarität und eine positiv besetzte Vorschau hinsichtlich eines zukünftigen Theaters generiert, neben den staatlichen Verpflichtungen. In Österreich gibt es einen allgemeinen Hilfstopf, der für viele Freischaffende unzugänglich bleibt, aufgrund bürokratischer Hürden. Ich verstehe nicht, wo da die Grünen geblieben sind! Ich verstehe auch nicht, wie man so zögerlich und kurzsichtig mit dieser Chance umgehen kann. »Green-profiling of art and culture« ist somit vom Tisch! Ich habe in der »Hainburger Au« gekämpft und immer wieder grün gewählt … Hm!
Aber worin liegt die Blockade?
Ich bin da jetzt selbstkritisch und nostalgisch zugleich … die Künstler*innen aus meiner Generation haben sich da auch selbsttätig verabschiedet. Wir waren anfangs immer laut, aber da wir jetzt schon Oldies sind, werden wir mehr und mehr entsorgt – besonders die »Lauten«. Es macht mir schon Sorgen, dass sich viele irgendwie anpassen und teilweise aufgegeben haben.
Vielleicht ist diese ausbleibende Revolution dem geschuldet, dass die eigentliche soziale Distanzierung im Grunde schon in den letzten Jahren stattgefunden hat, die natürlich in weiterer Folge politisch auch zu einem Anstieg von Ausgrenzung und Entsolidarisierung führt. Also wir hatten ja schon so einen »good ground« für eine Situation wie jetzt. Und jetzt wird genau dieses Verhalten halt ausgenutzt und sogar auf ein Podest gehoben, um zu sagen: Es ist solidarisch, wenn ihr Distanz haltet!
Es droht die Gefahr, wie bei Greta Thunbergs Initiative z. B., dass die Dinge abgewürgt und auf den Kopf gestellt werden, in der Tat! Das ist die Crux bei der viel grundsätzlicheren Debatte zum Klimawandel, die plötzlich in den Hintergrund geworfen ist. Dort wartet sie nun mit offenem, aufgerissenem Mund, ohne zu schreien. Die Chance, jetzt radikal gegenzusteuern, böte sich an, wie wir alle sehen. Der Druck muss auf europäischer Ebene massiv erhöht werden! Kunst und Kultur muss als Tonikum wirken, um Energie und Bewegung in die Sache zu bekommen!
Ich weiß nicht, warum einfach so vergessen werden kann, was für einen bewegenden Stellenwert Kunst und Kultur für eine Gesellschaft haben, und ich meine: Es ist mir klar, dass gerade sehr viele Bereiche leiden. Aber ich finde die Kultur ist so etwas Übergreifendes.
Es ist so! Besonders, wenn man von außen auf Europa schaut: Überall in der Welt werden wir bewundert aufgrund unserer gut organisierten kulturellen Aus- und Einrichtungen in Städten, Sprachen, Brauchtümern und Festen, gut verpackt und sichtbar in Tourismus-Paletten. Und jetzt plötzlich sind die Venezianer*innen wieder unter sich, allein gelassen … Genießen sie es? Kommen sie auf neue Gedanken und Ideen? Nur nach außen gekehrt zu sein und sich selbst nicht mehr wahrzunehmen, ist auf die Dauer zermürbend!
Kunst muss ja auch uns bewegen!
Und deswegen ist die Diskussion »Wann sperr maʼ wieder auf?« und »Wie kommen die Deutschen wieder nach Salzburg?« absurd!
Ja, genau, à la »Wie kriegʼ ma unsere Burg sonst voll?«
Ja, und auch die Frage zu Auslastungen, Hotelnächtigungen und ihren Steigerungsraten, scheinbar gekoppelt an Theateraktivitäten, brauchen wir jetzt nicht! Soll die Theater(-Kunst) schuld sein, wenn die Hotels leer sind. Das ist alles völlig absurd.
Die Freizeitindustrie schafft die Hotels, nicht die Kunst.
Diese sogenannten »cultural industries«. Eine grausliche Terminologie, aber sie wird mehr und mehr verhandelt und verzerrt das Bild und den Auftrag …
Auf der anderen Seite: Im »Falter« gab es letztens einen Artikel von Doron Rabinovici, in dem er im letzten Absatz appelliert, dass es jetzt eine genaue Analyse, viel Skepsis und noch mehr Ironie brauche. Stichwort Ironie …
Bei mir ist Ironie und Abstraktion im Körperlichen gepaart und allgegenwärtig. Eine ironische Leichtigkeit ist jeweils neu zu definieren und sicherlich jetzt eine besondere Herausforderung. Ich wurde ja geprägt vom American (Post-)Modern Dance, teilweise überladen oder aber auch »conceptual and brainy«. Durch Pina Bausch kam ich schließlich zu einer eigenen »Bewegungssprache«, die sich durch Selbstironie immer wieder neu erfindet. Ich war nie ein formalistischer Tänzer, sondern mir war die Emotion immer sehr wichtig. »Embodiment of (e)motion« untersucht die Verwandlung per se. Du »beschaust« dich nicht nur, sondern du »belächelst« dich auch. Somit ist eine gewisse Distanz und Leichtigkeit im Spiel. Ich arbeite auch als Choreograf prinzipiell am Vis-à-vis (von Pina gelernt!). Ich gehe vom Material aus und suche nach Erweiterungen: Wie und was nehme ich wahr, aus welcher Motivation setze ich Entscheidungen? Und das »loopt« sich weiter, hoffentlich in Leichtigkeit! Sonst ist das Ganze physisch nicht zu machen.
Der Grund, warum ich das ansprechen wollte, rührt daher, weil man ja die ganze Situation künstlerisch von einer sehr schweren Ebene aus anpacken könnte, um der Gesellschaft quasi den Spiegel vorzuhalten. Aber vielleicht, gerade weil die Situation so viele Ebenen durchzieht, wäre es besser, aus einer kulturellen, kunstschaffenden Sicht, mit einer gewissen Ironie heranzugehen.
Das siehst du ja jetzt besonders im Netz mit all den surrealen Clips. Ich bin da zuerst etwas skeptisch eingestiegen, aber schätze mittlerweile die Möglichkeiten der virtuellen Verständigung sehr. Die Situationen sind oft ironisch und komisch, obwohl sie sehr ernste Inhalte verfolgen … z. B. das berühmte Klatschen! Plötzlich entsteht aus einem surrealen, verzweifelten Habitus heraus eine profunde »social installation«, die unter die Haut geht! In New York City, unglaublich – aus allen Wolkenkratzern raunte es über die ganze Stadt … also das finde ich absolut irre! Es ist schon erstaunlich, dass bei uns (in Wien) diese Art von transmedialer humoristischer Verständigung nicht so ganz herauskann. Vielleicht hat es was mit der »perfekten Leadership« der Regierung Kurz zu tun. Nett, gestylt und schon knapp am Peinlichen, besonders wenn die Pointen überreizt präsentiert werden. Erfahrung und Glaubwürdigkeit, z. B. bei Frau Merkel, wirken da schon differenzierter, wenn sie sagt: »Wir brauchen Kritik und Widerstand« (wobei ich kein absoluter Merkel-Fan bin). Also für mich ist es zurzeit zwiespältig im politischen Theater Österreichs, mit all den vielen netten, jungen Protagonist*innen.
Mit Minister*innen, die als Marionetten fungieren, hinter denen wieder zehn Leute stehen.
Dadurch kriegt man irgendwie das Gefühl, dass da was nicht stimmt. Und es fällt auch den Grünen oft schwer, souverän zu erscheinen. Vizekanzler Kogler ist witzig, aber dennoch überfordert, was natürlich auch nachvollziehbar ist … Für intellektuellere Ansprüche ist die ganze Show schwierig und riecht nach Bühnennebel, der sich in Hohlräume senkt. Warten wir auf dialektische Szenenwechsel nach der Krise!
Wenn ich die Dialektik in meiner Generation lokalisieren müsste, dann wäre das einerseits diese globalisierte Mentalität, die auf einer Ebene fungiert. Aber dann auf der anderen Ebene diese Distanzierung, die natürlich teilweise kulturell »enforced« ist, aber …
… aber vielleicht auch aus dem heraus entsteht! Wenn man beobachtet, wie in Europa die Nationalismen wieder aufbrechen, wo es gerade für meine Generation besonders wertvoll war, z. B. in Polen nach der Wende uneingeschränkt unterrichten zu können, ist das ein schwerer Rückfall.
Auch die nationale Verkapselung, die jetzt quasi auch passiert, ist dadurch, dass jedes Land seine eigenen Maßnahmen gemacht hat. Dass das jetzt nicht europäisch generell gelöst wurde.
Die regionalen Cluster des Virus könnten ja auch neue geographische Solidaritäten generieren, um dem Pathos der ehemaligen Nationalgrenzen endlich etwas Lebendigeres entgegenzusetzen. (Vielleicht bräuchten wir ganz viele regionale Grenzen wie im Mittelalter, damit es wirklich klar ist, was auf dem Spiel steht.) Die virologische Faktenlage müsste Europa umdeuten, neu kartographieren! Mich hat immer Raumplanung sehr interessiert. Da geht es um strukturelle, flexible Parameter, die weit über Choreografie hinaus greifen: Welche Räume ergeben neue strukturelle Parameter und Denkansätze? Z. B. als das Tanzquartier endlich ausverhandelt war und die Halle G im Souterrain als Krönung des Zentrums Gestalt annahm, war das für mich der Tod einer langjährig angestrebten, umfassenden Idee! Kulturstadträtin Ursula Pasterk stand damals auch der Überlegung offen gegenüber, den exemplarischen Pavillon von Adolf Krischanitz (den Rundpavillon aus St. Pölten und das große, orange Rechteck vom Karlsplatz) auf die Jesuitenwiese zu transferieren. Also ein kreisförmiger und ein rechteckiger, transparenter Baukörper mitten im Grünen als zukunftsträchtiges, architektonisches Ensemble in den 2. Bezirk zu setzen. Wir wollten raus und runter von den dunklen Bühnenräumen! Aber da ist nicht sehr viel übergeblieben, da stehen wir jetzt wieder am Anfang! Vielleicht gibt es jetzt wieder eine neue Perspektive, die über das Verwalten der gegebenen Häuser hinausreicht? Natürlich haben wir auch die Problematik der bestehenden Häuser: Was macht man mit denen? In Amsterdam z. B. sind fast alle Kirchen »offene Räume« geworden. In Österreich, wo die katholischen Kirchen immer noch katholisch sind, wird sich sicherlich auch da etwas umschichten und auftun!
Abschließend: Was, würdest du sagen, ist jetzt notwendig, zu machen? Akut kulturpolitisch, aber auch für dich persönlich?
Meine Familie und ich leben vom Ersparten. Ich habe bis jetzt beim Härtefonds nicht angesucht, aber ich würde – wie viele andere auch – wahrscheinlich durchfallen, da ich kein geregeltes Einkommen nachweisen kann. Nochmals, man muss die Debatte auf eine Ebene stellen, die Sinn macht. Es muss inhaltlich diskutiert werden, organisiert durch die IGs, die Politik und Kunstschaffende aller Generationen, spartenübergreifend! »Back to normal« wird es nicht geben! Natürlich sollen erstmal die Schecks von 1.000 Euro pro Kopf und Monat an alle Freischaffenden raus, sowie in Bayern – das wäre das Mindeste!
Erst einmal dezidiert die existenziellen Sachen absichern und sich dann um den Rest kümmern.
Dann aber die Diskussion raus aus dem politischen Klein-Klein, hin zu interessanten Fragestellungen für alle Beteiligten. Was die Medien betrifft: ob »Standard«, »Falter«, »Presse«, »Profil«, wie sie alle heißen … in einer Krise sind Schulterschlüsse möglich! Es wäre ja großartig, wenn die Situation jetzt auch von jüngeren Journalist*innen genutzt werden könnte. Ängste und angepasste Meinungen sind hier fehl am Platz! Es drängt die Zeit! (Ich will jetzt nicht »Verschwörungstheorien« weiter anheizen, z. B. der »Kampf der Titanen« in China, wo zwei tief verfeindete Clans der kommunistischen Partei in Hongkong demnächst zum »showdown« antreten, während zwischendurch eventuell ein Drittel der Weltbevölkerung eliminiert wird.) Was kann man tun? Man muss größer lesen lernen!