Im ersten Teil dieses Interviews kamen Stefanie Sargnagel und Christiane Rösinger zu Wort und erklärten, wie es um die Letzte Wiener Lesebühne im Besonderen und das Dasein der Lesenden im Allgemeinen steht. Im zweiten Teil erzählt Severin Groebner von der Geschichte der Lesebühnen in Wien und anderswo und erklärt, wie lustvoll subjektiv das Lesebühne-Team arbeitet und warum sie eher Punkrock machen wollen als Salzburger Festspiele.
skug: Wie ist die Ersten Wiener Lesebühne entstanden, und woran haben sich die Gründer bei der Benennung orientiert?
Severin Groebner: Na schau … Das Konzept von Lesebühnen kommt aus Ostberlin, also es ist wirklich noch im Kommunismus entstanden. Da haben sich Leute getroffen und sich gegenseitige Geschichten vorgelesen, in irgendwelchen abgeranzten Buden, wo die Staatssicherheit nicht so genau hingeschaut hat. Dann ist die Mauer gefallen und das Konzept hat sich auf ganz Berlin ausgeweitet. Einer der Berühmtesten, der aus diesen Lesebühnen hervorgegangen ist, war Horst Evers. Der in Deutschland große Säle füllt. Aber diese Form hat sich dadurch entwickelt und dann haben die anderen deutschen Städte auch nachgezogen. Und wie ich nach Frankfurt gezogen bin, hat mich ein anderer deutscher Kollege gefragt, ob ich nicht Teil der örtlichen Lesebühne sein will, und ich habe gesagt: Ja, möchte ich. Und jetzt mach’ ich seit über zehn Jahren »Die Lesebühne Ihres Vertrauens« in Frankfurt. Einmal habe ich dann Hosea eingeladen und dann hat der gesagt: Ich wundere mich ja, dass es sowas in Wien nicht gibt. Worauf ich gesagt habe: Ja, ich wundere mich auch, dass es sowas in Wien nicht gibt. Und daraufhin hat er wiederum gesagt: Du solltest das machen! Ich habe daraufhin gesagt: Nein, ich finde, du solltest es machen! Und so ging es immer hin und her und dann haben wir uns die Hand darauf gegeben und haben gesagt, dann machen wir es eben zusammen. Und dann hat der Hosea die Steffi gefragt, ob sie mitmachen will, und die Steffi hat unvorsichtigerweise ja gesagt. Wir haben dann das Kabarett Niedermeier ins Boot geholt, die die Organisation stemmen. Sie stellen die Unterkünfte und halten den Kontakt zu Ö1. Dann hatten wir die erste Lesebühne im Februar, bei der siebzehn Gäste waren. Allerdings mit Thomas Gsella, ehemaliger »Titanic«-Chefredakteur, und Christoph und Lollo. Und das haben wir gleich live im Ö1-Radio gemacht. Wir sind ziemlich fett gestartet und wir haben diesen tollen Raum gefunden, das Vienna Ballhaus, das genau das Gegenteil ist von den abgeranzten Ostberliner Ziegelbauten. Das Vienna Ballhaus ist der proletarischste Ort – ironisch gemeint – es heißt nicht umsonst Vienna Ballhaus: Es schaut aus, als hätten der Herr Strauß und der Herr Lanner vor drei Minuten gerade den Ort verlassen.
Wie seid ihr zu dem Aufführungsort gekommen? Hat das Kabarett Niedermeier Kontakt dorthin gehabt?
Genau, die haben das gekannt, ich bin da am ersten Tag der Aufführung hineingekommen und mich hat es – auf gut Wienerisch gesagt – gleich am Oasch gesetzt. Wir sind das Stammteam von drei Personen und der Raum ist schon ein besonderer Ort.
Wie kamt ihr auf den Namen?
Der Name Letzte Wiener Lesebühne kommt aus zwei Gründen: Wir haben beschlossen, das am letzten Sonntag des Monats zu machen. Ein regelmäßiger Termin ist gut. Und »Letzte« auch, weil wir uns nicht sicher waren, ob es nicht schon eine Lesebühne gab, in Wien. Deshalb wollten wir uns nicht »Erste« nennen, wenn es vielleicht schon sowas gab, und nannten uns deshalb »Die Letzte«. Der Wiener neigt ja überhaupt ein bisschen zum Morbiden und zum Absterbenden. Wenn man da drauf schreibt »das Letzte«, findet er es tendenziell interessanter als »das Erste«. Also auch ein ironisches Spiel. Das darf man nicht so ganz ernst nehmen.
Beschreib’ einmal das Konzept der Lesebühne.
Das Konzept ist bei allen Lesebühnen gleich – und das haben wir nicht erfunden – es gibt eine Stammmannschaft von zwei, drei, vier, fünf, sechs, je nachdem, wie groß die Mannschaft ist, und die lesen Aktuelles oder Texte, die sie halt gerade lesen wollen. Texte von fünf bis zehn Minuten in etwa und dann hat man gern mal einen Gast von außerhalb, denn diese Lesebühnen sind über den ganzen deutschen Sprachraum verteilt. Es gibt auch in Dresden eine Lesebühne, in Rostock, in Düsseldorf etc. In Frankfurt, in München und in Stuttgart. Da lädt man sich einen Gast ein. Der bringt dann auch seine Knaller ein und ja, dadurch hat man eine Garantie, dass das Publikum regelmäßig was Frisches zu sehen bekommt, das es noch nicht kennt. Und auch wenn das Publikum sich denkt, dieser Text XY gefällt mir jetzt nicht so gut, wissen sie ja, in zehn Minuten ist er vorbei und dann kommt ein anderer. Es wird schon irgendwas kommen, das dem Publikum gefällt.
Wie wählt ihr die Gäste aus?
Da gibt es eigentlich kein Konzept, sondern wir reden uns einfach zusammen. Die Steffi, der Hosea und ich, bzw. das Niedermeier macht auch immer wieder Vorschläge. Jeder hat sein Vetorecht. Und es gab schon Leute, die von dem einen oder anderen von uns abgelehnt wurden, und dann sagen die anderen: Ja, Pech, kann man nix machen.
Aus welchen Gründen gab es Ablehnungen?
Eigentlich eine Frage des Geschmacks, also nach vollkommen subjektiven Kriterien. Ich kann jetzt nicht sagen: Wir müssen halt alle miteinander glauben, dass das ein guter Gast oder eine gute Gästin ist. Bei Christiane Rösinger haben wir nicht lang diskutiert darüber. Da war klar: Die wollen wir haben und super, dass die gerade in der Stadt ist. Jess Jochimsen war auch ganz klar. Denn das – wie gesagt – das ist ein sehr guter Kollege, der schöne Texte schreibt und der auch selber Lesebühnen macht. Den holen wir uns, weil er gut ist. Und er ist so wahnsinnig gern in Wien. Er liebt Wien. Es geht in erster Linie darum, den Gast zu kennen. Da gibt’s auch Leute, die schlagen die Steffi oder der Hosea vor und die kenn’ ich nicht. Da muss ich mich verlassen. Ich werde niemanden ablehnen, nur weil ich ihn nicht kenn’. Wir verlassen uns auf den Geschmack der anderen, bei Gästen, die wir nicht kennen. Ich habe auch schon Kollegen vorgeschlagen, wo sie sagten: Die kenn’ ich nicht. Und bin dann aber sehr gut damit gefahren. Also es geht darum, was uns gefällt.
Ist es nicht Bedingung, dass humoristische Texte bei der Letzten Wiener Lesebühne gelesen werden?
Naja, sollte schon so sein. Also Betroffenheitslyrik eher nicht. Mit Lyrik hab’ ich ein Problem. Wir haben aber fast jedes Mal auch einen musikalischen Act. Frau Rösinger hat das gestern auch gemacht. Da haben wir schon ganz tolle Leute für die Musik gehabt. Sowohl Christoph und Lollo als auch den Ernst Molden und jetzt Christiane Rösinger. Und wir haben zum Beispiel auch den Daniel Wisser vorgeschlagen. Der war auch schon bei uns, als er den Roman »Königin der Berge« noch nicht veröffentlicht hatte und auch noch keinen Buchpreis hatte. Ich kenn’ den Daniel schon sehr, sehr lang und bin ein großer Fan von ihm. Der war da und hat den Saal gerockt. Denn er ist einfach großartig. Steffi hat auch schon tolle Künstlerinnen und Künstler mitgebracht. Die Denice Bourbon zum Beispiel, die war auch sehr lustig. Die Auswahlkriterien sind also, was wir für gut erachten. Und humoristisch: Wenn’s bissi lustig ist, ist’s gut. Zum Beispiel die Doris Knecht war auch schon da und hat aus ihrem Roman »Alles über Beziehungen« vorgelesen. Über den knapp 50-Jährigen, der mehrere Affären hat. Sie hat also aus dem Roman vorgelesen und erzählt, worum es darin geht. Das hat auch funktioniert. Also letztlich ist das Kriterium, dass es sich gut vorlesen lässt. Dass der Zuhörer was davon hat. Und ich find’s immer wieder lustig: Manche Zuschauer ärgern sich manchmal, wenn sie nicht so viel sehen, weil sie so sitzen. Ich denke mir dann: Ja, aber wegen dem Sehen kommst’ eh net her. Es heißt ja Lesebühne und nicht Schaubühne. Wurscht, wer liest, man sieht immer nur einen Menschen über ein Blatt Papier gebeugt oder ein Buch.
Dir auch die Frage, die ich schon Stefanie Sargnagel und Christiane Rösinger gestellt habe: Autor*innen/Schriftsteller*innen geben heute immer häufiger Lesungen. Es scheint ein bisschen so, als wolle man aus Autor*innen so Aushilfskabarettist*innen machen oder sie zumindest während der Lesungen als »Stars« inszenieren. Wie steht ihr zu dieser Entwicklung?
Das hat weniger mit Lesebühnen zu tun. Es gibt ja auch in der Wissenschaft sowas wie Science Slams. Das Showbusiness ist eine der reibenden Erscheinungsformen des Kapitalismus und da die ganze Welt in unseren Breiten durchkapitalisiert wird, frisst sich auch das Showbusiness in alles hinein. Und es verkauft sich halt mehr, wenn ein Autor halbwegs lesen kann. Das hat was mit Vermarktung zu tun und nicht mit dem, was wir gerade tun, denn was wir tun, kommt ja nicht vom Verlag, sondern im Gegenteil: Wir haben hauptsächlich Leute, die schon mal ein, zwei Bücher draußen haben oder auch gar keins. Wegen denen, die bei uns vorlesen, kauft man sich kein Buch, sondern man kommt zu uns, um einen schönen Abend zu haben. Da unsere Kriterien so wahnsinnig subjektiv sind, nehmen wir den oder die, weil’s uns taugt, und wenn’s uns nicht taugt, dann weg und Ende. Bezüglich der gestellten Frage: Das hat mit Lesebühnen relativ wenig zu tun. Wenn ich mir den Literaturbetrieb anschaue, hat das mehr was mit Literaturhäusern und dergleichen zu tun. Die Lesebühnen sind ja von ihrer Erfindung her – wie gesagt – doch eher der Punkrock der Literatur und nicht die Salzburger Festspiele.
Link: http://www.niedermair.at/cms/kuenstler/lesebuehne.html