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78plus – Ein Lastwagen voll Schellacks

78plus haben einen unverkennbaren Sound, sie setzen digitalisierte Schellacks als Instrument ein. Dazu eine knackige Rhytmusgruppe, sodass sogar manchen in Korea der Rockzipfel um die Kniekehlen weht. Nebenbei bewegen sie sich leichtfüßig zwischen den Genrestühlen, fühlen sich wohl beim Popdiskursieren und Verfassen von Spam-Lyrik. »Wandelwelt« kommt frisch aus der Presse. Grund genug, um mit einem Teil der Viererbande über Knacksen und andere »materialtheoretische Implikationen« zu philosophieren.

Wie entstand 78plus?
Stephan Sperlich: 78plus entstand aus dem Interesse am Klang der Schellackplatte und dessen elektronischer Bearbeitung. Zu Beginn war es sehr avantgardistisch und experimentell. Au&szligerdem war es viel mehr ein Kollektiv, ein offenes, postmodernes Projekt und wurde erst mit vielen Zwischenstufen zur Band in der heutigen Form. Diese Entwicklung war nicht von langer Hand geplant, sondern geschah hauptsächlich im kompositorischen Prozess: Das Material, die Samples leiteten die Kompositionen durch ihre Eigendynamik so stark in Richtung Pop, dass sich die Reduktion automatisch ergab. Die Rhythmusgruppe (Philipp Moosbrugger – double bass; Erwin Schober – drums) ist ja erst nach zwei Jahren hinzugekommen. Durch deren Einfluss hat sich das noch mal sehr verdichtet. Anfangs haben wir schon mal zu dritt Klavier gespielt oder mit Schellacks aufgelegt und das ganze live-elektronisch bearbeitet – etwas, was wir kaum mehr machen …

Ist das nicht oft eine Erwartung, dass ihr echte Schellacks dabeihabt?
SS:
Wir wurden öfter mit dem Vorwurf konfrontiert, »warum habt ihr die Schellacks auf MP3 mit, das ist ja Betrug«. Tja, Schellacks sind unglaublich schwer, brechen leicht, und können pro Seite gerade mal drei Minuten speichern. Nur für den optischen Effekt ist das zuviel Aufwand, und es geht uns ja gerade um die elektronische Bearbeitung.

Günther Berger: Um einen ganzen Abend mit Schellacks aufzulegen, bräuchte man einen LKW.

SS: Rückblickend betrachtet haben wir mittlerweile einen Weg gefunden, als Band mit dem Material umzugehen, der viel offen lässt, aber trotzdem eine kompakte Arbeitsweise erlaubt, sodass das Ergebnis auch dementsprechend homogen wird.

GB: Es ist uns auch zum ersten Mal passiert, dass wir uns selbst das fertige Album noch gerne anhören …

Das war bei eurem ersten Album nicht der Fall, was ist der Unterschied?

SS: Das war, zumindest bei mir, noch nie der Fall. Man hat alles während der Produktion schon derma&szligen oft gehört, dass man nachher eigentlich nichts mehr davon wissen will.

Philip Moosbrugger: »Im Denkturm« ist eine Werkschau und bildet unterschiedliche Phasen ab. »Wandelwelt« ist in einem überschaubaren Zeitraum entstanden, also kompakter. Freilich hat man inzwischen auch viel gelernt. Früher gab es einen grö&szligeren Pool an Leuten, die mitgearbeitet haben, aber es war einfach weniger effizient.

GB: Die Produktionsbedingungen waren anders, damals haben wir alles bis aufs Mastering selbst gemacht und die Entscheidungsprozesse waren schwieriger, weil wir basisdemokratischer organisiert waren.

SS: Au&szligerdem stand uns noch keine solche Infrastruktur zur Verfügung. Diesmal konnten wir mit Stefan Ehgartner in Patrick Pulsingers Studio mischen.

Wie kam es eigentlich zur Zusammenarbeit mit Pulsinger? Er hat ja schon euer erstes Album gemastered.

SS: Das ging über unser erstes Label, Para Recordings. Dessen Betreiber, Hannes Surtmann kennt Patrick schon sehr lang und hat uns connected. Die Zusammenarbeit hat sofort wunderbar funktioniert. Für mich persönlich war das was Besonderes, weil ich mit 16, 17 Techno entdeckt habe, zu einer Zeit als Patrick Pulsinger einer DER Chefs in diesem Bereich in Üsterreich war ??

Auf eurem neuen Album geht’s in »Wir mit Gefühl« oder »LED« um Technologie. »Massenkompatibilität« macht das auch auf einer anderen Ebene, da geht’s um den Diskurs in Medien und darum, wie man sich selbst – z. B. als MusikerIn – in diesem Diskurs wieder finden will. Wie ist es zu diesem Schwerpunkt gekommen?

SS: Es war nicht geplant, dass Mensch und Technologie diese Rolle spielen werden auf »Wandelwelt«, es ist kein Konzeptalbum. Aber der rote Faden ist ein Indiz dafür, dass irgendwo was stimmt, wenn das quasi von selbst diesen thematischen Zusammenhalt bekommt. 78plus ist generell so angelegt, dass ein technologischer Aspekt enthalten ist. Wir samplen Schellacks, also ist es eine prinzipielle Auseinandersetzung mit einem Medium, mit einem der ältesten Tonträger, den es gibt – der Schellackplatte – in einem andern Medium, dem Modernsten, das es gibt – in einer digitalen Umgebung. Da ergeben sich einige materialtheoretische Implikationen. Was mich Anfangs fasziniert hat, war einfach nur das Knacksen, es gibt tausende Arten davon. Diese technologischen Faktoren und auch die Vergänglichkeit davon beschäftigen uns dauernd. Du bist heute, wenn du Musik produzierst, von Technologie abhängig.

Gerade 1980er Jahre-Sounds tauchen in letzter Zeit vermehrt auf, auch bei euch. Twentysomethings die ein Trauma verarbeiten müssen?
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SS: Wir beziehen uns klanglich mitunter auf die 80er, das ist eine Klangästhetik, die mit mir was zu tun hat. Warum sollte ich damit nicht arbeiten? Es war ja nicht alles schlecht in den 80ern! Wir haben eine Nummer, eine Hymne an die LED, aber da steckt mehr dahinter: eine Referenz zu Kraftwerk, aber auch zu Roger Whittaker, den wir oft genug im Wurlitzer ertragen mussten ??Wir werden in der öffentlichen Wahrnehmung oft auf den Schellacksound reduziert, aber es geht uns durchwegs darum, Diskurse einzubauen und viele Arten von Musik in neue Kontexte zu setzen.

Wie geht ihr beim Sampling vor, was die Auswahl, das Urheberrecht etc. betrifft?

SS: Das mit den Rechten ist eine komplizierte Sache, v. a. weil Urheberrecht und Leistungsschutzrecht zum Tragen kommen, die beide völlig unterschiedlich funktionieren. Wir haben uns damit eingehend auseinandergesetzt. Aber aufgrund der Art und Weise, wie wir samplen, haben wir damit kaum Probleme. Denn uns geht es primär um den Klang, der urheberrechtlich nicht geschützt werden kann. Au&szligerdem würden wir nie eine komplette Melodie o. ä. straight absamplen und einen Beat drunter legen. Es geht darum, das mit Respekt gegenüber der Musik zu tun, Copy und Paste wären obendrein uninteressant.

Ihr hattet Gäste als TextautorInnen sowie für musikalische Parts. Wie kam’s dazu?

SS: Das sind alles Leute aus unserem Umfeld. Wir wollten diesmal nicht nur unser eigenes Süppchen kochen, sondern versuchen offen zu sein an den Rändern. Beim ersten Album waren ja alle Texte von uns, beim aktuellen aber haben wir gezielt Leute gefragt, ob sie Textideen oder Sounds beisteuern möchten, manche von ihnen beteiligen sich auch an Live-Konzerten.

Also gibt’s anstelle des anfänglich fluktuierenden Kollektivs jetzt die Kernband gleichzusetzen mit einem Planeten, um den Satelliten schwirren?

SS: Genau! Und wenn über die Jahre immer wieder gute Leute unentgeltlich mitarbeiten, ist’s schön, wenn man sich revanchieren kann. Wir teilen dann gern unsere Ressourcen, die meist weniger finanzieller als geistiger Natur sind, etwa Credits, oder Kompositionsrechte, die wir als einen Teil des Kapitals von Musikschaffenden sehen.

Von wegen Kapital: Wie sehr bringt da die Vertonung von Stummfilmen, die ihr öfter macht, etwas? Was gab’s da bisher?

SS: Das bringt etwas, weil es eine zusätzliche Schiene zur klassischen Bandtätigkeit ist. ?berdies ist es das einzige ?berbleibsel der multimedialen Aktivitäten aus der 78plus-Urzeit. Es ist nahe liegend, einen Stummfilm mit Schellacksamples zu vertonen. Dieses Konzept lässt sich gut an den Mann bringen. Wir haben bisher zwei Stummfilme vertont. »Asphalt« [A 1929], unsere eigene Idee, wurde in der Sammlung Essl und im brut gespielt. Der zweite, ein Auftragswerk des Filmarchiv Austria in Kooperation mit 3sat und dem Wiener Mozartjahr 2006 – eine bis 2005 verschollen geglaubte Mozart-Biographie, aus dem Jahr 1921. Das war eine interessante und schwierige Sache, die drei beteiligten Organisationen waren uneins in ihren Erwartungen an die Vertonung. Letztlich hat es dann doch gut funktioniert.

Wie legt ihr die Arbeit mit den bewegten Bildern an?

GB: Wir haben uns den Film mehrmals angesehen und Samples ausgewählt. Damit haben wir dann improvisiert.

SS: Beim Improvisieren mit Elektronik kommt es immer sehr auf die Materialvorgabe an. Je abstrakter, desto einfacher. Das Reizvolle ist, dass der Film als Partitur fungiert, die die Improvisation lenkt.

PM: Man muss schon viel festlegen, da nicht alles nach Tonarten sortiert ist, ich als Bassist jedoch die Tonart wissen muss. Man arbeitet über Skelette, optische und akustische Cues. Gleichzeitig bleibt viel Raum für freies Arbeiten. Die Balance ist schwierig, auch in Bands ohne Elektronik. Au&szligerdem ist es wahnsinnig aufregend, was du mit Musik bewirken kannst im Film. Hier mit Gegensätzen zu arbeiten, ist besonders spannend.

Ihr meintet vorher, es kann in diese Richtung weitergehen. Was hei&szligt das?

GB: Pop ist die Sto&szligrichtung ?? trotzdem schräg bleiben. Was mich beruhigt ist, dass nach unserem letzten Konzert ein 5-jähriges Mädel gefragt hat, wann wir wieder spielen.

SS: Kinder haben ja ein erstaunliches Urteilsvermögen, wenn es Kindern gefällt, hat man in Wirklichkeit schon gewonnen! Musik, die einem als Kind wichtig war, wird immer etwas Besonderes bleiben.

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Text
Rosa Danner

Veröffentlichung
18.10.2012

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