Kein Wunder, dass der blaue EU-Spitzenkandidat Harald Vilimsky die Grüne Lena Schilling erst verteidigte und mit dem öffentlichen Eingeständnis, dass er selbst sogar in Hainburg war, überraschte. Aber kurz danach Bundespräsident Van der Bellen zu einem »Sugar Daddy« stilisieren und somit sexualisieren musste. Freiheitliche denken und reden eben so: ständig in den Kategorien von Missbrauch (Asyl-»Missbrauch«, Sozial-»Missbrauch« etc.). Warum wohl?
Einerseits triggern sie so Missbrauchsüberlebende, die obsessiv in den sozialen Medien unterwegs sind – eine bewusste Strategie, die ihnen zu großem Erfolg verhilft. Andererseits müssen nicht wenige Freiheitliche oder Rechtsextreme ständig den eigenen (zumindest emotionalen) Missbrauch als Kind durch Nazi-Eltern oder -Großeltern verdrängen und externalisieren diesen lieber. Sie hängen das Thema Missbrauch ständig anderen um. Im Falle Schillings sehr verlockend. Erst sich mit ihr solidarisieren – immerhin war ihr Opa ja laut Interview mit der Mutter ein Bezirksrat für die FPÖ – und dann jemanden als ihren angeblichen Täter inszenieren. Mit Haha und Hoho. Mit boshaftem Augenzwinkern. Etwas Ekeliges wird schon picken bleiben. Vermeintliches Kasperletheater, wie auf dem Wahlplakat. Vorhang auf: »Missbrauchsopfer, seid ihr alle da?«
Der »falsche Vorwurf«
Mit dem Tabuthema Missbrauch lässt sich auch der starke Trigger erklären, den viele Menschen ungeniert über Lena Schillings Kopf hinweg ausleben. Viermal tönte der neue Chefredakteur einer österreichischen Tageszeitung laut und vernehmlich in den öffentlichen Fernsehraum: Bei dem »falschen Vorwurf der sexuellen Belästigung« würde »eine rote Linie überschritten«. »Da hört es bei mir auf!«, rief er. Nicht bei sexualisierter Gewalt an sich oder bei Missbrauch, wie sie laut Statistik hierzulande schrecklicherweise jedes dritte Mädchen und jeder siebte Junge erfahren haben müssen, sondern beim »falschen Vorwurf«. Dabei schaute er sich selbstzufrieden um, denn der wahre Empfänger des »falschen Vorwurfs« hat sich nie öffentlich geäußert.
»Niemand von uns weiß, was wirklich passiert ist«, konterten zwei an der Fernsehdiskussion beteiligte Frauen, doch das beeindruckte diesen Mann mit viel Macht nicht. Er regte sich seit Wochen mit einer Obsession auf, wie man es sich für Missbrauchsüberlebende wünschen würde. Ein bekannter ORF-Kollege wird gegen eine »frischg’fangte« Politikerin verteidigt. Mit einer Vehemenz, die Kinder, die durchschnittlich sieben Mal (!) um Hilfe bitten, bevor ihnen wirklich jemand hilft, wohl nie erhalten. Die Moderatorin der Fernsehsendung fasst es am Ende sinngemäß zusammen: »Dass wir jetzt über diese Dinge reden müssen, deckt das Klima-Engagement der jungen Leute zu.« Immerhin war Schilling ja die Sprecherin der Lobau-Bewegung, was momentan völlig untergeht.
Last des Schweigens
Lena Schilling, die Enkelin eines Freiheitlichen, der laut ihrer Mutter »auf einem Wolkerl sitzt und stolz auf seine Enkelin ist«. Was dieser wohl für Ansichten hatte? Und ihr Uropa? Ihre Uroma? Nicht selten wurde der verstummte Wehrmacht-Opa im Kinderzimmer geparkt und Kleinkinder betrachteten den Mann voller unterdrückter Gefühle wohl mitleidig. Deswegen sind ja auch viele Nachfahren so an der Rolle des »untergehenden Helden« interessiert. Dass Schilling eine starke (unbewusste) Ausstrahlung besitzt, zeigt auch der Aussetzer der grünen Politikerin Olga Voglauer, die die junge Frau verteidigen wollte, dann aber selber mit ihrem »Silberstein«-Sager extrem einfuhr und ihre eigenen Angriffe gegen die Sozialdemokrat*innen wegen Antisemitismus-Vorwurfs zurücknehmen musste.
1989 erschien das Buch »Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von Nazi-Tätern« des israelischen Psychologen Dan Bar-On auf Deutsch. Seine Mutter war in Hamburg geboren und er machte seine Interviews mit sehr unterschiedlichen Kindern von deutschen Nazi-Täter*innen. Ein Zitat aus dem Buch: »Hitler ist tot. Aber er kann sein Ziel immer noch erreichen, wenn wir den Hass, das Misstrauen, den Schmerz und die gesamte Unmenschlichkeit, der wir jahrelang ausgesetzt waren, verinnerlichen.« Folgen des kollektiven gesellschaftlichen Schweigens zur Nazi-Zeit und für die Kinder und Enkel der Nazis werden wir am Sonntag der EU-Wahl und bei der Nationalratswahl im Herbst erfahren. Diese heute ganz schön alten Nazi-Kinder und Enkel erhielten als Kleinkinder selten Unterstützung außerhalb ihrer Familie und solidarisieren sich gerne mit mächtigen Tätern wie Wladimir Putin. So fühlen sie sich geschützt und sicher.