Bevor Mary Ochers neuer Longplayer »Approaching Singularity: Music for The End of Time« released wurde, geschahen die grausamen, genozidalen Ereignisse des 7. Oktober, in dem Israel, geschwächt von einer rechtsextremen Regierung, seine Staatsbürger*innen nicht schützen konnte. Vier Tage später erhielt skug via Underground Institute in Berlin Mary Ochers sehr wesentlichen Kommentar. Der Tonträger handelt aber nicht nur von den Gräueln des Krieges und allzu oft lebenslang anhaltenden Traumata Betroffener. Darüber hinaus beschäftigt sich Ocher auf »Approaching Singularity: Music for The End of Time« mit Posthumanismus und der Limitiertheit des Körpers, dem Verschwinden der Menschlichkeit, totalitären Regimen und verschiedenen politischen und ethischen Implikationen, die mit der unvorhersehbaren Entwicklung des technischen Fortschritts verknüpft sind. Dazu liefert Ocher einen neunseitigen Essay, in dem sie ihre Sicht auf die Welt im Jahr 2023 darlegt.
Geboren im Tschernobyl-Jahr 1986 in Moskau, Hauptstadt der UdSSR, als Mariya Ocheretianskaya, ist Mary Ocher nun besser unter ihrem Alias bekannt. 1991 zog ihre Familie in einen Kibbuz in der Negev-Wüste, später nach Tel Aviv, wo sie eine jüdische Schule unter ihrem neuen Vornamen Miriam besuchte. Mit 18 ließ sie ihren Familiennamen auf Ocher ändern und übersiedelte im Jahr 2007 nach Berlin. Als Musikerin, Lyrikerin, Künstlerin und Regisseurin ist Ocher, deren Wurzeln sich sowohl in Timothy Snyders »Bloodlands« (Begriff für das sowohl von Sowjets als auch Nazis verwüstete Gebiet vom Baltikum/Polen bis über die Ukraine hinaus) als auch in Israel widerspiegeln, prädestiniert dafür, die soziale und politische Malaise mittels ihrer Kunst auszudrücken.
Nach »The West Against The People« (Klangbad, 2017) offeriert Mary Ocher in »Approaching Singularity: Music for The End of Time« mehr denn je politische Aspekte. Der neue Longplayer klingt wie ein Abgesang auf das komfortable Leben der westlichen Zivilisation. Die multiplen Weltkrisen schimmern durch beinahe alle Songs, die von Mary Ocher selbst produziert wurden. Vielleicht könnte Gothic Wave Kraut Electronica die ideale Bezeichnung für ihren einzigartigen Sound sein. Herausragend darauf sind u. a. Kollaborationen mit Barry Burns/Mogwai, Red Axes oder dem zum Synth-Wizzard mutierten, zeitgenössischen Komponisten Roberto Cacciapaglia. Die geheimnisumwobene, bis in die Antike zurückgehende Spiritualität ihrer Musik, die bereits auf »Mary Ocher + Your Government« (Klangbad, 2016) zu hören war, spielt auch auf dem neuen Album eine Rolle. Bevor Mary Ocher im E-Mail-Interview ihre klare Attitude wider eine Mainstream-Perspektive darlegt, sei noch auf ihr enormes soziales Engagement verwiesen. Sie publizierte die Ukraine Charity EP »Power and Exclusion from Power« und kuratierte »Hope for Her Future«, einen Benefiz-Sampler in Zusammenarbeit mit der Afghan Women’s Association.
skug: »Cosmic Rock« – der Titel erinnert daran, dass die Musik Ihres letzten Albums oft sehr räumlich ist. Bei uns löst das auch eine Referenz zu Afrofuturismus aus, mit George Clintons Raumschiff als Symbol für Solidarität und die Möglichkeit eines Neustarts. Entspricht das Ihrer Intention?
Mary Ocher: Nicht wirklich, obwohl ich Funkadelic wirklich sehr schätze. »Cosmic Rock« ist eine Referenz auf Krautrock und eine humorvolle Hommage auf die Anfänge von Techno.
Für uns ist »Zone (A Tale of a Mourning Mother)« das zentrale Stück des Albums. In ihrer Rezension des Buches »Emotionales Erbe« von Galit Atlas, einer Psychologin mit syrisch-iranischen Wurzeln, die in Israel aufwuchs und heute in New York lebt, betont Kerstin Kellerman den Umstand, dass Atlas von zahlreichen Kindern und Enkeln von Überlebenden der Shoah in ihrer Praxis aufgesucht wird. Dazu meint Atlas: »Die ererbten Gefühle der unverarbeiteten Traumata ihrer Eltern waren die Phantome, die in ihnen lebten, die Geister des Ungesagten und Unsagbaren.« Was halten Sie von dieser Beobachtung?
Das ist wirklich eine sehr gute Beschreibung. Ich würde sagen, dass wir (die Jüd*innen) nicht aus der Geschichte gelernt haben, aus unserer eigenen Verfolgung. Vielleicht ist dies das Unausweichliche der menschlichen Natur – sobald man eine Machtposition erlangt, diese zwangsläufig zu missbrauchen? Und die Deutschen haben nicht gelernt, zu allen gleichermaßen nett zu sein – ihr Schuldkomplex umfasst nur Jüd*innen und wir dürfen niemals kritisiert werden, selbst wenn wir schreckliche Dinge tun.
»Yellow Modulations (Triumph of The Mind over The Body)« ist ein überwältigendes Stück. Könnten Sie bitte ein wenig über die Hintergründe dieser »Yellow modulations running swiftly through [your] head« berichten?
Ich mag es nicht, Texte zu erklären. Es ist viel interessanter, wenn Hörer*innen ihre eigene Interpretation entwickeln. Ganz allgemein gesprochen, bezieht sich dieses Stück auf den Raum physischer Erfahrungen, die wir mit unseren biologischen Sinnen wahrnehmen. Dieser Raum ist durch unseren Körper beschränkt und kann imitiert werden durch technologische Mittel, die allmählich unsere biologischen Einschränkungen überwinden. Das Brummen im Hintergrund ist die Aufnahme eines zerebralen Krampfes.
Vordergründig geht es in »Sonic Departures (for Delia)« um den Klang von Wasser in einem Behälter. Anne Carson stellt in ihrem Essay »The Gender of Sound« die Frage, »inwieweit unsere Vorurteile über Gender die Art und Weise beeinflussen, wie wir Klang wahrnehmen.« Die von ihr thematisierte Frage spiegelt sich in den Arbeiten vieler Künstler*innen wider, etwa in Valentina Magalettis »A Queer Anthology of Drums« oder in Elke Auers und Yorgia Karidis Performance-Installation »Leaking Vessels«. Wäre diese Thematik für Sie eine zulässige Referenz für einige der Ideen, die hinter »Sonic Departures« stehen?
Vielen Dank, dass sie mir diese Arbeiten vorstellen. Männliche Autoren versuchen oft, »weibliche« Themen zu identifizieren, wenn sie mit Künstlerinnen sprechen. Wie aber bereits Virginia Woolf in »A Room of One’s Own« festgestellt hat, streben wir nicht danach, als »weibliche Autorinnen« oder »weibliche Künstlerinnen« gesehen zu werden. Wir wollen uns nicht auf ausschließlich oder vorwiegend weibliche Themen beschränken lassen. Wir wollen einfach nur als Künstler*innen gesehen werden und uns als solche frei zu allen Themen äußern.
Wollen Sie verraten, wem das Stück gewidmet ist?
Es ist kein Geheimnis, dass diese Stück Delia Derbyshire gewidmet ist. Ihre Experimente waren natürlich analog – die direkte Manipulation von Tonbändern – und als solche bereits sehr aufregend. Inhaltlich wird das Stück von der Beschreibung einer Form getragen, einer Anleitung zur Erzeugung von Sound – alles weitere muss man sich als Zuhörer*in selbst dazu denken. Das Stück orientiert sich vielleicht mehr an Fluxus als an zeitgenössischen Themen.
Kann Musik als Zufluchtsort dienen, um zumindest zeitlich begrenzt der Vielzahl an Krisen zu entkommen? Oder sollen Musiker*innen ihre Finger in offene Wunden stecken, um die Monstrosität des Kapitalismus anzuprangern?
Niemand muss irgendetwas tun. Ich habe keine Verpflichtungen meinem Publikum gegenüber. Aber ich genieße es, meine Finger in offene Wunden zu stecken. Ich möchte keine Musik schaffen, die den Menschen dabei hilft, vor irgendwas zu flüchten. Ich will, dass meine Musik mein Publikum konfrontiert. Die Leute sollen lernen, mit der Realität um uns herum umzugehen.
Die naive Idee, dass ein freier Markt autokratische Regime demokratisieren könne, hat uns die gefährliche Lage beschert, dass unsere Gesellschaft aktuell von einer sehr anti-liberalen Form des Kapitalismus bedroht ist. Wo sehen sie Hoffnung in diesen düsteren Zeiten?
»Liberal« hat in unterschiedlichen Teilen der Welt eine andere Bedeutung. In den USA wird damit meist ein freier, unregulierter Markt bezeichnet, während der Begriff in Europa oft mit Sozialismus assoziiert wird (was sich am anderen Ende der politischen Skala befindet). Der Essay »Appoaching Singularity: Music For The End Of Time«, der das neue (gleichnamige, Anm.) Album begleitet, beschreibt eine Vielzahl an vorstellbaren Szenarios über das Erleben von Zukunft. Es ist gefährlich, Kapitalismus mit Freiheit und den freien Markt mit Glück gleichzusetzen.
Es ist offensichtlich, dass der aktuellen Krise nur mit einer sozialen, politischen und wirtschaftlichen Transformation begegnet werden kann, die einen nachhaltigen Umgang damit ermöglicht. Welche Voraussetzungen sind für eine derartige Veränderung notwendig? Brauchen wir mehr Idole, Vorbilder oder Communities? Fallen Ihnen Beispiele ein, die einen positiven Weg in diese Richtung beschreiten?
Unsere Gesellschaft besteht aus vielen Menschen, deren Lage nicht mit unserer vergleichbar ist. So lange es Menschen gibt, deren Grundbedürfnisse nicht gedeckt sind, hat die Menschheit als Ganzes nicht das Privileg, über die Zeit und den Wunsch zu verfügen, sich über die Zerstörung ihres Habitats Gedanken zu machen. Die meisten Menschen sind damit beschäftigt, jeden Tag zu überleben, und sehen immer noch keinen Zusammenhang zwischen der Rolle des Menschen und der Vielfalt an Naturkatastrophen, die ihre Häuser zerstören und die Leben ihrer Familien bedrohen.
Große Konzerne und herrschende Politiker*innen sind von Gier und Chauvinismus getrieben und leider folgen ihnen zu viele Bürger*innen. Die unmenschliche Propaganda und Desinformation der russischen Medien spaltet sogar Familien: Ein Teil glaubt die Lügen, ein anderer Teil ist in Opposition und läuft Gefahr, verraten zu werden. Wieviel wissen Sie über die schreckliche Situation in ihrer eigenen Familie mit ihren russischen und ukrainisch-jüdischen Teilen?
Die russische Propaganda ist etwas ganz Normales und es wäre heuchlerisch, zu sagen, dass sie einzigartig ist – das ist sie nicht. Es ist außerdem recht vereinfachend, anzunehmen, dass die Leute die von der Regierung genehmigte Version glauben. Die Situation ist sehr vielschichtig. Ein Aspekt besteht in der Tatsache, dass Menschen in korrupten, autokratischen Regimen oft wissen, dass sie angelogen werden. Niemand in meiner Familie hat sich etwa der Illusion darüber hingegeben, dass das, was die kommunistische Partei ihnen gesagt hat, wahr sei. Das gesamte Narrativ der Nation wurde mit dem Tod Stalins auf den Kopf gestellt und dann erneut während der turbulenten Zeit der Veränderungen während der Perestroika (»Umgestaltung«). Herrscher, die zuvor verehrt wurden, wurden über Nacht zu Schurken. Man verliert das Vertrauen in die eigene Regierung, sobald man versteht, dass alles einem Nutzen untergeordnet ist. Sobald dieser Nutzen nicht mehr besteht, wird einfach eine neue Version von Wahrheit geschaffen, ein nützlicheres Narrativ. Aber hat nicht jedes Land die Erfahrung, dass seine Geschichte schon einmal in der einen oder anderen Form umgeschrieben wurde? Die Menschen in der ehemaligen DDR haben das in kleinerem Maßstab erlebt: Da sie immer schon mehr Kontakt zum Westen gehabt hatten, war die Sowjetunion sehr darum bemüht, die Bevölkerung von Informationen abzuschneiden. Sie war darin sehr erfolgreich, doch heute wäre so etwas viel schwieriger. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, nicht zu wissen, wie das Leben draußen ist? Der zweite Aspekt bezieht sich darauf, dass Länder, die bereits für die Verbreitung von Desinformation bekannt sind, in Kriegszeiten noch aktiver werden. Sie stehen zwar mehr unter Beobachtung, da ich allerdings die verschiedensten Nachrichtenquellen zu den Themen Israel-Palästina und USA-Russland lese, kann ich getrost behaupten, dass alle Seiten lügen. Sie alle versuchen, die Wahrheit in Farben zu malen, die sie selbst besser aussehen lassen als die Gegenseite. Es ist sehr schwer festzustellen, welche Fakten bestätigt sind. Manchmal veröffentlichen Zeitungen ihre Nachrichten sehr schnell und ohne eine saubere Überprüfung oder die Fakten werden übersprungen und man beginnt überhaupt gleich mit der Interpretation.
Die pogromartigen Angriffe der Hamas am 7. Oktober 2023 haben uns sprachlos gemacht. Ihr Kommentar zu den Ereignissen, der uns vier Tage danach über ihr Label Underground Institute erreichte, waren so klar, dass wir uns zu diesem Interview via E-Mail entschlossen haben. Gibt es noch etwas Wichtiges, das Sie eineinhalb Monate nach dieser Tragödie und während des andauernden Krieges in Gaza hinzufügen wollen?
Ich habe einen offenen Brief verfasst und ihn zwei deutschen Zeitungen angeboten, die in ihren Rezensionen des neuen Albums auf meinen Kommentar verwiesen hatten. Aber der Brief wurde nicht veröffentlicht. Ein Journalist meinte sogar, dass mir die Mehrheit der Deutschen bestimmt nicht zustimmen würde. Es ist höchst problematisch, wenn die Mainstream-Presse verlangt, in einer bestimmten Art und Weise zu denken. Immerhin kritisiere ich mit Israel jenes Land, in dem ich aufgewachsen bin. Den Deutschen fällt es sehr schwer, Israel zu kritisieren, denn sie verwechseln Kritik mit Antisemitismus. Das ist ein absolutes No-Go, weil: Nazis. Aber man muss auch bedenken, dass sie dort nicht aufgewachsen sind und ich schon.
Live-Konzerte: Am 19. Dezember 2023 präsentiert Mary Ocher ihr Album im Café Wolf in Graz. Weitere Tourdaten unter: http://maryocher.com/shows
Link: http://maryocher.com