Header Foto Homepage Y. Varoufakis © Danae Stratou
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Kapital essen Seele auf – Yanis Varoufakis

Ûber die verdrängte Dialektik des Wirtschaftssystems: In kaum einer österreichischen (resp. deutschsprachigen) Zeitung wird der amtierende griechische Finanzminister Yanis Varoufakis als der Intellektuelle von Format gewürdigt, der er ist.

Amn. d. Red.: Der Autor Frank Jödicke hatte diesen Artikel für skug #102, 4-6/2015 geschrieben, zu einer Zeit also, als Griechenlands Schuldenkrise und im Besonderen Themen wie »Grexit« auf der täglichen Nachrichten-Agenda standen. Nach dem »Nein« der Volksabstimmung zum Sparpaket der Gläubiger am 5. Juli 2015 konnte Varoufakis dieses deutliche »Nein« – mehr als 61 Prozent der Stimmen – als politischen Erfolg verbuchen. Dieser hielt allerdings nur sehr kurz. Der seit Ende Januar 2015 als Finanzminister für die regierende SYRIZA-Partei tätige Varoufakis gab am Tag nach dem Votum per Twitter sein Ausscheiden aus dem Finanzministerium bekannt. Er wolle damit »die Vereinbarungen mit den Gläubigern erleichtern, schreibt er auf seinem Blog«. Kaum ein Politiker hat in den letzten Monaten für so viel Aufsehen gesorgt wie er, ambivalente Interpretationen inklusive: »Die Welt« bezeichnete ihn als »Brandstifter«, »Der Standard« als »Popstar-Minister«.

 

Es herrscht derweil eine Grundstimmung. Sie findet sich bei so verschiedenen Intellektuellen wie Charles Taylor und jüngst Noam Chomsky. Sie mögen im Einzelnen unterschiedliche Gründe für ihre Diagnose haben, das Ergebnis ist ähnlich: Die Lage, in der wir uns befinden (sei sie vornehmlich charakterisiert durch die ökologische, militärische oder ökonomische Drohkulisse), ist derart erhitzt, dass sogar von einem möglichen Ende der Zivilisation geredet werden muss. Von der Krise sich aber eine revolutionäre Neuerung der Lebensverhältnisse zu erwarten, ist aussichtslos; das was vor der Tür steht und mächtig pochend anklopft, ist schlimmer als das Bisherige. Yanis Varoufakis teilt diese Stimmung, er kann diese profund belegen und rechtfertigt damit seinen geistig-moralischen Abstieg vom Wirtschaftsprofessor zum Finanzminister. Aber er tut es ja für uns alle!

Zur verdrängten Dialektik des Weltwirtschaftssystems

Vor bestehender Drohkulisse, die für Varoufakis wesentlich geprägt ist durch den Zusammenbruch des Weltfinanzsystems im Jahr 2008, versucht er die jetzige Ordnung soweit aufrechtzuerhalten, dass Zeit für die Ausarbeitung von Perspektiven bleibt. Nach dem Zusammenbruch 2008 gab es keine Erholung, das ist eine Illusion. Die Depots sind so toxisch wie zuvor, mit einigen Tricks gelang es aber, einfach weiterzumachen. Der Hauptkniff war die Ûberschreibung der Schulden von den privaten Finanzunternehmen hin zur öffentlichen Hand. Der Dank unserer Finanzdienstleister war fort- währender Spott über das wirtschaftliche Unvermögen der nunmehr hoch verschuldeten Staaten. Soweit bekannt.

Varoufakis zeigt, wie diese Illusion von einer besonderen (eingeübten?) Unfähigkeit zu dialektischer Betrachtung der Ökonomie bedingt ist, also einzusehen, dass jedes Teil sein Gegenteil in sich trägt. Somit ging das Geld 2008 nicht verloren, es ist nicht verschwunden, wie konservative Ökonomen uns gerne weismachen, es hat nur seinen Besitzer gewechselt. Verlust ist zugleich Profit des Anderen. Jene Profiteure der Krise horten ihr Geld aber, da sie kein ›Investmentumfeld‹ vorfinden bzw. weil es sich für sie schlichtweg nicht lohnt, zu investieren. Solange eben jene Finanzprodukte auf dem Markt sind, die die Weltfinanzkrise verursacht haben, ist es lukrativer, weiterzumachen wie bisher, als Geld in produktive, ›realwirtschaftliche‹ Abenteuer zu stecken. Und da bürgerliche, volksparteiliche und ›sozialdemokratische‹ Politiker, obgleich sie jene Besitzer der obszön angeschwollenen Vermögen teilweise persönlich kennen, weiterhin die antidialektische Geschichte vom verschwundenen resp. verschwendeten Geld erzählen, ist von ihnen kaum Rettung zu erwarten.

 

Die dialektischen Beziehungen sind vielgestaltig. Nicht nur jeder Verlust ist eines Anderen Gewinn (und umgekehrt), auch jedes wirtschaftliche Wachstum ist eines Anderen Elend. Varoufakis wagt sogar die Formel, wo Gutes entsteht, wird zugleich das Böse genährt. Leider, der Kapitalismus hat diese Struktur. Wirtschaftswachstum, also bessere Produkte, höhere Effizienz, verbesserte Distribution etc., bedeutet notwendig den Verlust von Arbeitsplätzen, da Verbesserungen ohne Einsparungspotential kapitalistisch widersinnig sind, weil Kapital nur dann mehr werden kann (und diese Vermehrung ist ja der Sinn der ganzen Veranstaltung), wenn sich die Arbeit ihm gegenüber verbilligt.

Varoufakis‘ Analyse reicht an dieser Stelle aber noch tiefer und verweist auf eine Grundbedingung unserer Existenz: die menschliche Tauschrelation, also die Arbeit von Menschen für Menschen. Bezeichnenderweise ist die Besonderheit der menschlichen Tauschrelation für viele Ökonomen oder Finanzminister nicht notwendige Voraussetzung für ihre Ûberlegungen. In ihren Konzeptionen tauchen Menschen nicht mehr auf. Somit wären ihre Berechnungen erst dann zutreffend, wenn nur mehr Zahlenkolonnen und Maschinen wirtschaften würden, allerdings – so Varoufakis – gäbe es dann auch keinen Kapitalismus mehr. Denn dieser braucht etwas, wozu nur Menschen in der Lage sind: die Schaffung von Mehrwert.

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Yanis Varoufakis © Yorgos Karahalis/Bloomberg/Getty Images

Ohne Mehrwert ist alles Wirtschaften genuin sinnlos

Schauen wir uns den Prozess der Schaffung von Mehrwert konkret an und betrachten hierzu die Dialektik des Produktes, das zugleich quantifizierbare Zahlenkolonne und Qualität menschlicher Vorstellung sein kann: Imaginiert sei ein Robotapparat, der mittels eingeschriebenen Programms aus einem Haufen Holz, Nägeln und etwas Leim einen Stuhl fertigt. Der Apparat kann diese Operation vollständig vorausberechnen, das Produkt seiner Arbeit ist die exakte Summe der aufgewandten Materialien, Energie und Zeit.

Bezeichnenderweise ist es aber auch nicht mehr. Selbst wenn wir uns – auf kitschige Art – diesen Roboter als humanoid vorstellen und er sich somit auf den Stuhl setzen könnte, gäbe es für die Maschine schlichtweg keinen Grund dafür, den Stuhl zu bauen, da sie weder in der Lage ist, den Gebrauchswert zu empfinden (in diesem Fall: Ausruhen nach getaner Arbeit auf der Sitzfläche), noch den Mehrwert des Stuhles erkennt. Dies können nur Menschen. Sie sagen solche Dinge wie: »Für diesen schönen Stuhl wäre ich bereit, ein Vermögen zu geben …«

 

Das ist der springende Punkt. Philosophisch gesagt, lassen wir dabei allzu leicht die Objekter- kenntnis (Erkennen des Stuhles) gegenüber dem Erkenntnisobjekt (Stuhl) unter den Tisch fallen und vergegenwärtigen uns nicht, dass wir als Menschen erst kraft unserer besonderen Vorstellung der Welt den Dingen Wert und Gehalt hinzufügen. Diese Werte lassen sich niemals gänzlich vorausbe- rechnen und quantifizieren. Ohne diese menschliche Hinzufügung, die nichts weniger ist als ein Verwandeln der Welt mittels Arbeit, (An-)Teilnahme, Imagination, Liebe etc., gibt es keinen Mehrwert, keinen Reichtum und damit letztlich auch kein kapitalistisches Wirtschaften.* Die neoliberale Welt- auffassung ist gefangen in einer entropischen Perspektive, in der alle menschliche Arbeit in eine handelbare und berechenbare Ware verwandelt wurde und somit in letzter Konsequenz nur mehr Zahlenposten gegeneinander verrechnet werden, von denen einige eben ›Humankapital‹ sind. Setzt sich allerdings diese Weltsicht vollständig durch, dann bedeutet sie nichts weniger als das Ende der Menschheit qua Menschheit und führt sich damit selbst ad absurdum. Aber auch der Weg dorthin ist bereits blutig und brutal.

Allein für die neuerliche Artikulation dieser Einsicht gebührt Yanis Varoufakis Dank und ist ihm alles Gute bei seinen zermürbenden Verhandlungen zu wünschen. Bleibt noch die Frage, wie konnte er diesen tiefschürfenden und klaren Blick auf die Lage gewinnen, den sonst kaum ein Ökonom in führender Position einzunehmen vermag? Nun gut – für die meisten dürfte dies keine Ûberraschung sein, und Varoufakis sagt es selbst, er hat das alles von Karl Marx.

* Varoufakis‘ Gedanken zu diesem Thema finden sich z. B. in seinem Vortrag auf dem »Subversive Festival in Zagreb – 2013« und jüngst in seinem Essay »How I became an erratic Marxist«.

 

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Text
Frank Jödicke

Veröffentlichung
30.07.2015

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