Der Modernisierungs- und Industrialisierungsschock in Europa und Nordamerika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die früheste Phase der für die Ausstellung im Architekturzentrum Wien (Az W) ausgewählten Case Studies. Weiters werden verschiedene »Erschütterungen« im Stadtleben, die mit der Kriegslogik des ersten und zweiten Weltkrieges zu tun haben, aufgezeigt. Die Situation im Global South wird ab den 1950er Jahren des vorigen Jahrhunderts dokumentiert. In lokalspezifisch unterschiedlichen Geschwindigkeiten erfolgten hier Modernisierungsschübe, die zum Teil enorme Wachstumsexplosionen durch informelle Stadtentwicklungen nach sich zogen.
Die letzte Zeitphase der Ausstellung zeigt, dass diese informell entwickelten Stadtteile aktuell wieder unter einem enormen Druck stehen, weil neoliberale, developergetriebene Stadtentwicklungen dazu führen, dass informell entwickelte Gebiete durch Änderungen der Landnutzung von Zwangsabsiedlungen und Vertreibungen bedroht sind. Viele Case Studies setzen sich mit Meta-Konstellationen auseinander, zeigen nationale und supra-nationale Verknüpfungen auf und haben mehrere Zeitschleifen. Unterschiedlichste Positionalitäten des Schauens auf den Garten als Hybrid zwischen ökologischem und sozialem Handeln sollen Ähnlichkeiten und Differenzen der präsentierten Fallbeispiele in der historischen Rückschau leichter fassbar machen.
Am Beginn des kuratorischen Interesses stand die Frage nach der Bedeutung und den Formen von Parzellen und dieser speziellen Serialität, die sie über ein Wegesystem und ein Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv aufspannen. Die szenografische Gestaltung der Ausstellung versucht mit gebrauchten Baustellenzäunen dieser strukturellen ?berlegung gerecht zu werden. ?ber 250 Nutz-, Wild- und Zierpflanzen, die im Stile von DIY-Window-Farms die einzelnen Case-Study-Nischen sowohl dekorieren als auch auf inhaltliche Verbindungslinien zu den Projekten Bezug nehmen, fungieren auf einer symbolischen Ebene als Modelle für Veränderungen und Zugehörigkeiten. Samen in realiter können laut Elke Krasny revolutionäre Elemente sein, die ohne Rücksicht auf Grenzen und Nutzen migrieren. Und wie praktischer, transversal-partizipativer Urbanismus ungeahntes, visionäres Potential beinhalten. skug stellte ihr dazu ein paar wienspezifische Fragen:
skug: Wie wild ist die Stadt?
Elke Krasny: Wild ist durchaus eine Zuschreibung oder eine Zustandsbeschreibung, die in Selbstaussagen von AkteurInnen, aber auch in historischen Dokumenten über Stadtteile und diesen Schnittstellen zwischen Stadt-Land und Land-Stadt, die ich mir angeschaut habe, immer wieder vorkommt. Man könnte eine Kontinuität dieser Begrifflichkeit auch durch die Ausstellung spannen: Wildheit, nämlich wirklich eine die jetzt gleichgesetzt ist mit dieser Dunkelheit und Anarchie – was man jetzt vielleicht im lokalen Wiener Kontext mit dieser Anarchie der Vorstadt beschreiben könnte, die sich auf einen Buchtitel bezieht. Im Jahr 2000 haben Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner »Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900« veröffentlicht und damit zu einer Schreibung zur Wiener Stadtgeschichte außerhalb der Grenzen des Zentrums der hegemonialen Macht beigetragen.
In Wien gibt es schon über 50 Gemeinschaftsgartenprojekte. Ist dabei, wie hier in der Ausstellung so stark thematisiert, der Mangel oder die Krise der Hauptgrund dafür oder steckt dahinter einfach ein gewisser Lifestyle-Trend?
Ich glaube die Krise, die viele mitteleuropäische Städte befasst, ist ja im Grunde genommen nicht nur die Finanz- und Wirtschaftskrise, sondern auch eine Krise des Sozialen. Wenn man sich das jetzt sehr ??roughly?? anschaut, kann man sagen, es gibt zwei große Felder, die permanent gegeneinander ausgespielt werden: das Ükologische und das Soziale. Wenn dem einen mehr Geld entzogen wird, dann leidet das andere. Der Garten ist ein Ort, wo man beides wieder zusammen denken kann. Und die Erzeugung eines Gartens bringt eine Community mit dieser Gewissheit hervor: Da ist etwas, was ein Funktionieren bedeuten kann.
In welcher Form findet man wildes Siedeln in Wien?
Ein historisches Beispiel ist dieses Areal auf der Schmelz, das finde ich bezüglich seiner raumpolitischen Schichtung spannend. Das Areal war ein militärisches Areal, als die kaiserliche Parade nicht mehr im Zentrum stattgefunden hat. Dort wo jetzt immer noch das Militärgeografische Institut am Hamerlingpark steht, dort war ja der Exerzierplatz in der Stadt. Es gibt historische Beschreibungen im späten 19. Jahrhundert die belegen, wie gefährlich das Areal rund um diese Kaserne war. Dort haben sich selbst Polizisten oder Wachmänner nicht unbegleitet hinein getraut, wie zeitgenössische Quellen darstellen, die in den Gedenkschriften des Vereins, die anlässlich von runden Jubiläen publiziert werden, immer wieder zitiert wird. Die Anarchie der Vorstadt wurde gleichgesetzt mit Gefahr, Kriminalität, Verbrechen, Dunkelheit, Wildheit. Manche dieser Beschreibungs- und Zuschreibungsnarrative überdauern Jahrzehnte.
In der Umgebung des Kasernenareals, den Vororten Ottakring und Neulerchenfeld, war Wien, vor allem mit der Ansiedlung von Textilindustrie, eine typische Stadt der Industrialisierung und der Arbeiterschicht. Die städtische Dichte enorm, die Wohnungsnot hoch, viele der ArbeiterInnen kamen aus dem Gebiet der k. u. k. Monarchie und machten Wien zu jenem Schmelztiegel, den Albert Lichtblau und Michael John als Herausgeber in dem gleichnamigen Band »Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien.« 1990 veröffentlichten. Zuwanderung, Multiethnizität, Minderheiten und räumliche Peripherie verdichten sich oft zur vorurteilsverfestigenden Zuschreibung von Gefahr und Kriminalität.
Im 1.Weltkrieg, als die Versorgungslage extrem schlecht war, ist dann eine informelle Umnutzung von diesem Exerzierplatzareal bei dieser Kaserne mit dem Anlegen von informellen Kriegsgemüsegärten passiert. Diese GärtnerInnen haben sich sehr schnell eine Organisationsstruktur gegeben und die Freie Vereinigung der Schrebergärten zur Zukunft aufgebaut. Ich denke, so ein Name hat schon einen unglaublichen Impetus. Es war eine freie Vereinigung – das ist nicht irgendwas, das jemand befohlen hat; und man setzt auf etwas, was eine Zukunft impliziert. Man entwirft einen Anspruch auf etwas, wo man zu bleiben denkt. Und eben interessanterweise nicht nur auf die einzelnen Parzellen, das sieht man in den Pachtkarten, den Einladungen zur Gartenvergebung. Es gab auch ein Schutzhaus – das kennt man ja immer noch als Das Schutzhaus zur Zukunft. Das Interessante ist die Logik wie das erzeugt worden ist, nämlich indem man Anteilscheine gekauft hat. Man finanzierte einen Ort – man würde das heute vielleicht Crowdfunding nennen – aus einem Kollektiv heraus. Auch andere Dinge verdeutlichen dieses kollektive Denken: Es gab einen Vorführgarten, ein Bienenhaus, es sind ganz viele Vorträge damals organisiert worden, wie man überhaupt lernen kann, in der Stadt Landwirtschaft zu betreiben.
Wie sieht die Situation dort heute aus?
Wenn man heute diesen Zustand dort analysiert, dann kann man sehen, was passiert, wenn etwas, das einen selbstorganisierten Anspruch hatte, in einen Zustand der Verfestigung gerät. Wobei die Situation dort nicht ad infinitum ausgehandelt ist. Es gibt ein Gesetzt das besagt, dass die Menschen dort bis 2043 bleiben können. Soweit ist es ausgehandelt. Ein spannendes Fallbeispiel, um sich informelles Siedeln über eine längere Dauer anzuschauen. Das war natürlich ursprünglich ein euphorischer Aufbruch, der bleibt nicht hundert Jahre ein euphorischer Aufbruch. Ich frag mich auch oft, wie stark sind solche Bilder im Selbstbewusstsein der eigenen Geschichte verankert: diese ehemalige Kriegssituation, diese Mangelbekämpfung. Die BewohnerInnen haben schon ihre Festschriften gemacht und ihre Geschichte erzählt, aber ich frag mich, wie stark ist das heute im visuellen Gedächtnis verankert, wenn sich Menschen heute dort bewegen und dort leben. Sehen sie das als Teil ihrer Geschichte, ist das bewusst abrufbar? Und zum Thema Nachträglichkeit: Es gab dort ein Haus seit den 1960er Jahren, das ist dann 1988 genehmigt worden. Das ist doch eine kleine zeitliche Differenz …
Weitere Beispiele in Wien?
Zum einen die Wiener Siedlerbewegung am Rosenhügel. Der Otto-Neurath-Nachlass ist nun in Amsterdam zugänglich. Der Begriff, den er verwendet hat, um dieses Siedlungsphänomen zu fassen, war der des Gipsy Urbanism, den ich aus vielen Gründen extrem problematisch finde. Erstens mal weil die Siedler nie den Anspruch des Weiterwanderns gestellt haben, sondern einen Verfestigungsanspruch. Zugleich glaube ich, dass mit der Begrifflichkeit des Gipsy Urbanism versucht wurde, einen minoritären Status festzuschreiben. Ist das, was Roma und Sinti erzeugen, per se in einem prekären, fragilen, minoritären Status? Was bedeutet das, wenn man diese Form von exotisierender Folie dann auf Menschen projiziert, die weder Roma noch Sinti sind? Ich finde das auf vielen Ebenen sehr schwierig. Diese historische Aufarbeitung, die finde ich extrem spannend, dieses ganze Material in dieser unglaublichen Konkretheit einer flächendeckenden Organisierung. Aber ich frag? mich, was solche Begriffe über das Denken unserer eigenen Zeit aussagen. Ich frage mich auch, was das heute bedeutet, wenn wir sagen, das sind Wilde SiedlerInnen? Was stellen wir uns dann vor? In welcher Hinsicht sind die dann wild, welcher Grad an Wildheit wohnt diesem Siedlertum inne?
Das wird auch romantisch verklärt oder?
Es gab ganz schnell einen unglaublich hohen Grad an Organisierung. Trotzdem ist dieser Begriff der Wilden Siedler oder des Settler?s Movements verfestigt. Eve Blau hat ja als eine der Ersten international darüber gearbeitet. Lokal gab es eine Wiederentdeckung dieser Thematik in den 1980er Jahren. Da gibt es Texte über die Siedlerbewegung von Klaus Novy, der in der Zwischenzeit verstorben ist. Das hab ich jetzt zum ersten Mal ins Englische übersetzen lassen, um noch einmal sichtbar zu machen, wie sich Schichten von Wissensproduktion verändern. Hierarchische Rezeptionsgeschichte bedeutete, dass lokale Wissensproduktion immer sehr wenig daran beteiligt war. Erst mit den wissenschaftlichen Arbeiten von Eve Blau zu »The Architecture of Red Vienna« und nun von Nader Vossoughian zu Neurath wurden die Positionen der Siedlerbewegung in einen internationalen Diskurs eingespeist. Die Rezeptionshierarchie zwischen lokalen Forschungsarbeiten zur informellen Geschichte einer Stadt, wie hier am Beispiel von Wien beobachtbar, aber grundsätzlich als lokalspezifische Situation in vielen Städten zu beobachten, und internationalisierter, globalisierter Rezeption von Forschungstätigkeit im US-amerikanischen Kontext ist bemerkenswert. Der neue Universalismus speist sich aus einer Hegemonie der Rezeptionshierarchie von Forschungspositionen, in der lokale Wissensproduktion nicht als Primärebene zirkuliert, sondern als Fußnote.
Was ich »wild« finde ist, dass die Arbeitsstunden von Frauen weniger wert waren, als die Arbeitsstunden von Männern. Da war eine extreme Geschlechterungerechtigkeit eingeschrieben. Arbeitstunden bedeutet dann wiederum – und das find? ich nicht wahnsinnig wild – dass es eine Ordnung gegeben hat. Jeder Siedler, jede Siedlerin musste 2.000 Arbeitsstunden leisten, und diese Arbeitsleistung bezahlt dann ein Haus, das man dort bekommt. Aber man baut nicht sein eigenes Haus. Das ist für mich so eine pädagogische Finte – weil wenn ich jetzt für mein eigenes Haus investiere, dann mach ich nichts mehr sobald es fertig ist. Wenn ich aber nicht weiß, was ich bekomme? Wie geht man um mit einer Sozietät im Aufbau? Da sind eigentlich wahnsinnig strenge Regeln notwendig, die alles andere als wild sind. Ich finde diese Dialektik zwischen Ordnung und Wildheit sehr spannend.
Die Dualität oder die Diametralität von Ordnung und Wildheit. Wie kann man das überhaupt in Beziehung zueinander setzen?
Eine vorauseilende Projektion auf Phänomene der Stadtentwicklung von unten ist sehr stark begrifflich geprägt von Vorstellungen von Chaos, Ungeregeltheit, Unordnung, Wildheit, Informalität. Je genauer man aber hinschaut, desto mehr sieht man, dass das formal nicht zutrifft. Der soziale und kulturelle Grad der Organisierung sorgt für das Funktionieren der Ükonomien und der kollektiven Einrichtungen. Es besteht der Anspruch, nicht nur Landnahmen in einen gefestigten Zustand überzuführen, sondern auch Zugang zu Bildung, zu Gesundheitseinrichtungen und sozialen Einrichtungen zu schaffen. Wahrscheinlich muss man die Begriffe auf ihre Vorurteile, ihre Ambivalenzen hin abklopfen. Das Wilde kann etwas sein, das man abwertet: sozusagen die Kinder und die Wilden. In der Zeit der Aufklärung waren die Kinder und die Wilden die »Anderen«, die man nicht versteht. Ich frage mich oft, ob überreglementierte Gesellschaften nicht eine unglaubliche Sehnsucht nach Wildheit haben und diese sehr glorifizieren.
»Hands-On Urbanism 1850-2012. Vom Recht auf Grün«
Ausstellung im Az W:
15. März 2012 – 25. Juni 2012
Az W PHOTO AWARD 2012:
24. Mai – 4. Juni 2012, Halle F3
www.azw.at
Literaturhinweise:
Elke Krasny (Hrsg.): »Hands-On Urbanism 1850-2012. Vom Recht auf Grün«, Wien: Turia + Kant 2012, 355 Seiten, EUR 36,-
Elke Krasny und Irene Nierhaus (Hrsg.): »Urbanografien. Stadtforschung in Kunst, Architektur und Theorie«, Berlin: Reimer Verlag 2008, 208 Seiten, EUR 39,90
Heide, Angela und Elke Krasny (Hrsg.): »Aufbruch in die Nähe. Wien Lerchenfelder Straße. Mikrogeschichten zwischen Lokalidentitäten und Globalisierung«, Wien: Turia + Kant 2010, 224 Seiten, EUR 26,90
Krasny, Elke: »Stadt und Frauen. Eine andere Topografie von Wien«, Wien: Metroverlag 2008, 224 Seiten, EUR 19,90
Fotocredits:
1.) Die Ausstellung »Hands-On Urbanism 1850 – 2012. Vom Recht auf Grün« © Pez Hejduk
2.) Zukunft auf der Schmelz, eine Kleingartenanlage in Wien © Una Steiner
3.) © Archiv der :AH! Siedlung Rosenhügel
4.) Macondo, Nachbarschafts- und Recycle-Garten im Dorf der Flüchtlinge in Wien © Elke Krasny