Headerimage Placeholder

Erkki-Sven Tüür

Mit Geld aus dem Westland einkaufen in Estland: Die Gnaden der Konterrevolution.
Ein Portrait des Estischen Komponisten Erkki-Sven Tüür.

Vorab sei ein Geheimnis um die großartige Neue Musik aus Estland gelüftet. »The Heino Eller School« (Finlandia) ist eine Zusammenstellung, die den Einfluss eines estnischen Kompositionslehrers auf tonsetzende Landsleute dokumentiert. Heino Ellers (1887-1970) Sound gewordene Partituren wurden von Kritikern oft als Lärm abgekanzelt. Tatsächlich ist aber von einer Schule zu sprechen: Der ökonomische Einsatz der Musikmaterials und eine klare, transparente Orchestration ergänzen sich mit linearer Motivik, die sich immer konstruktiv auf das Vertikale – die Harmonie und in gewisser Weise auf die generelle Form des Werks – bezieht.
Gemeinsamkeiten finden sich daher sowohl bei der älteren (Eduard Tubin, Jaan Rääts, Arvo Pärt) als auch jüngeren Generation (Erkki-Sven Tüür, geboren 1959).
Daß Tüür in Tallinn sein Kompositionsstudium bei Jaan Rääts absolvierte, verwundert kaum. Der ebenfalls mit einem Werk vertretene Lepo Sumera, der Tüür privaten Kompositionsunterricht gab, hat diese Edition kompiliert. Symmetrisch angelegte Wiederholungen und rhythmisch akzentuierte Akkorde sorgen für einen charakteristischen Streicherklang, mit dem als Ursprungsort Estland assoziiert werden kann. Dazu paaren sich nordische Schwermut sowie durchgeistigte Spiritualität. Und immerzu sind es die Streicher, die als himmlische Crescendi entschweben.

Erkki-Sven Tüür befasst sich mit verschiedenen Polaritäten, etwa mit Minimal Music oder serieller Musik, und kombiniert beide in einer Komposition – heraus kommt kein postmodernes Crossover, sondern eine durchstrukturierte Partitur. Tüürs Musik ist von Spannungsmomenten geradezu durchdrungen, weil er auf verschiedenste Weise a- und tonale Musik miteinander verbindet. Genauso sieht er in der gleichzeitigen Verwendung von modalen und Zwölftonreihen keinen Widerspruch

Nach »Crystallisatio« (1996) liegt nun Erkki-Sven Tüürs zweites ECM-Album vor. Im Mittelpunkt von »Flux« steht das »Konzert für Violoncello und Orchester«, das dem Solisten David Geringas auf den Leib geschrieben ist. Geringas??? Saitenspiel strebt wie alle Streicher himmelwärts, Blechbläser funken dissonant drein.

Tüür ist ein Meister prächtiger Klangfarben, die das ORF-Symphonieorchester auslotet. Und Dennis Russell Davies??? Dirigat verleiht dem Werk zusätzlich magischen Feinschliff. Auch wenn das »Konzert« eine relativ konventionelle Komposition ist, so birgt es doch alle Ingredienzien, die Tüürs Schaffen kennzeichnen. Noch grandioser klingt die zweisätzige »Symphony No. 3«, die mit einem gezupften Intro anhebt und nach einem Match Blech gegen Geigen und irrlichterndem Vibraphon als Referee mit leisen Glockenschlägen sowie finalem Schlagzeuggrollen ihr Leben aushaucht. Atemberaubend geriet auch »Lighthouse For Strings«: Ausgeprägt tiefe Streicherpassagen kontrapunktieren in Leuchtturmhöhen entschwindende, dissonant schwirrende Violinen und doch finden beide Extreme zusammen. Erkki-Sven Tüür ist ein Hymniker zwischen meditativer Versenkung und aufwühlender Moderne.

Ein Werk Arvo Pärts wurde im »Liquid Radio« des Popsenders ORF-FM4 remixt. Würde sich nach Remixes aus Nils Petter Molvaers ECM-Album »Khmer« auch ein Stück aus dem Ouevre von Erkki-Sven Tüür für einen Ambient-Mix eignen?
Ich könnte auch selbst einen Remix anfertigen, habe aber keine Absicht, dies zu tun. Ich kann mir aber vorstellen, dass gewisse Themen verwendet werden könnten. Dafür kann ich mich aber nicht so recht erwärmen. Ein Remix würde mir nicht viel bedeuten. Er müsste auf der selben Wellenlänge wie die Quelle sein, weil ein technischer Schnitt allein künstlich klingt und keinen Sinn ergeben würde.

Moderne-Import hinter den »Eisernen Vorhang«

Käme eine Stück ihres damals sehr eigenwilligen Kammer-Rockmusik-Ensembles In Spe für einen Remix in Frage?
Ich denke nein. Wir hatten zwei Aufnahmegeräte und spielten sowohl auf elektrischen (zwei Synthesizer, E-Gitarre, -Bass und -Perkussion) als auch auf akustischen Instrumenten (Cello, Piano). Eine Platte erschien auf dem einzig zugelassenen UdSSR-Label Melodia. Wir denken daran, diese alte Aufnahme zu remastern und auf CD rauszubringen. Vielleicht auf einem estnischen Label, für die Fans. Obwohl wir keine typische Popmusik machten, waren wir in den lokalen Toplists. Wir waren sehr populär, bei einem eher intellektuellen Publikum. Nach sechs Jahren verließ ich 1982 In Spe, weil ich keine Perspektive mehr sah. Die Sowjet-Behörden gaben uns nicht die Erlaubnis, eine Imitation, die wir aus dem Westen bezogen, in unsere Aufführungen einzubeziehen. Erst Mitte der 80er Jahre war es dank der Perestroika möglich, beispielsweise nach Finnland oder Schweden, von wo wir unsere Informationen hauptsächlich erhielten, zu reisen.

Die Gelegenheiten, westliche E-Musik zu hören, waren in Estland sicherlich begrenzt. Wie funktionierte der »Import« von Schallplatten hinter den »Eisernen Vorhang«?
Wir bekamen gewiss nicht genug. Doch kriegten wir die hauptsächlichen Entwicklungen mit. Wir hatten Freunde im Westen, die uns einige LPs oder Tapes sandten. Wir tauschten die neuen Materialien untereinander aus und kopierten diese. Die Post funktionierte im allgemeinen, doch verschwanden manchmal Sachen. In den 60er Jahren war Estland nicht so abgeschottet. Einige Leute besuchten das Festival »Warschauer Herbst«. Yannis Xenakis, Pierre Boulez oder die Zweite Wiener Schule waren uns also keineswegs fremd. Die Situation war im Zentrum der Sowjetunion, in Moskau etwa, sicherlich schlimmer als in Estland, wo es ein bisschen liberaler zuging.

Wie war es um das Leben eines estnischen Komponisten bestellt? Arvo Pärt hatte sicherlich Schwierigkeiten, als er religiöse Themen einfließen ließ.
Es war nicht erlaubt, religiöse Texte zu verwenden. Aber wir hatten die Gelegenheit, pure abstrakte Musik zu schreiben. Symphonien, Sonatas etc. Andererseits griffen Komponisten, die wollten, dass ihre Werke auf den Festivals aufgeführt werden, auf Texte zurück, die die Kommunistische Partei oder den Leninismus priesen. Auch wenn die Musik schlecht war, wurde sie gespielt, weil ja die KP verherrlicht wurde. Manche Leute nannten solche Stücke ironisch »Kaiser-Kantatas«. Nach Stücken dieser Machart konnte mancher Komponist für eine Weile freier experimentieren. Ich selbst habe aber niemals solche Stücke geschrieben.

Welche Tonsetzer aus dem Gebiet der sowjetischen Einflusszone mochten Sie? War Schostakowitsch darunter?
Ja, einige seiner Symponien. In Estland gibt es einen sehr guten Komponisten, der im Westen viel bekannter wäre, hätte es einen regen Kulturaustausch gegeben. Er heißt Lepo Sumera. Ich nahm Privatstunden bei ihm, er ist aber auch Professor auf der Musikakademie und wird wegen seiner symphonischen Werke geschätzt.

Zehn Jahre nach dem Fall des Kommunismus haben sich die Lebensumstände für Komponisten in Estland wohl schwerwiegend geändert. Mehr Komponisten als damals müssen wohl jetzt ihr Dasein als Musiklehrer fristen.
Für mich selbst hat sich die Situation gebessert. Weil die Lebenshaltungskosten in Estland niedriger sind und ich mein Einkommen für Auftragswerke vor allem aus dem Westen beziehe. Vor der Unabhängigkeit Estlands wurde mir jede Komposition bezahlt, gleich ob diese etwas Wert war oder nicht. Man mu
sste der Komponistenunion angehören. Auch wenn das neue Stück vielleicht fürs Radio aufgenommen, aber nie aufgeführt wurde, wurde der Urheber dafür vom Staat entlohnt.

Gavin Bryars war ja vor seiner Komponistenlaufbahn Improvisationsmusiker. Wurde ihr Entschluss, Tonsetzer zu werden, rasch umgesetzt oder war dies eine allmähliche Umstellung?
Das hing mit dem Arbeitsprozess zusammen. Ich fühlte, dass ich alle Möglichkeiten, im kleinen Ensemble-Rahmen zu komponieren, ausgeschöpft hatte. Ich wollte immer für größere Besetzungen schreiben, weshalb ich eine Gruppe von Bläsern oder Streichern einlud. Meine Interessen gingen mehr und mehr dahin, exakte komponierte Musik zu schreiben.

»Crystallisatio«

Auf dem Album »Crystallisatio« sind bis auf das Titelstück vorwiegend akustische Instrumente zu vernehmen. Spielt die Elektronik nun eine kleinere Rolle, weil sie nun bei ECM unter Vertrag sind?
Das stimmt so nicht. Zwar gibt es nur auf »Crystallisatio« drei elektrisch verstärkte Flöten und ein spezielles Midi-Effektgerät, aber auf Finlandia existiert beispielsweise eine Einspielung meiner kompletten »Architectonics«-Serie, wo auch E-Gitarre und Synthesizer zum Einsatz kommen. Meine Alben für Virgin Classics und Finlandia waren längst erschienen, bevor ich Manfred Eicher von ECM traf. ECM ist eines der besten Labels für Neue Musik. Ich mag das Cover-Design und wie erklärende Texte geschrieben werden. Hinter ECM steckt eine eigene Philosophie des Musikproduzierens. Es geht nicht nur darum, Platten zu verkaufen.

Zurück zu den »Architectonics«: Was ist wichtiger: Wie die Musik gebaut ist, oder wie sie mit dem Raum korrespondiert?
Beides ist miteinander verschränkt. Ich war schon immer am realen Sound interessiert. Nicht nur an inneren Theorien, wie Klang aufgebaut wird, sondern daran, wie die Musik wirklich klingt. Also einerseits an der Architektur von Sound und andererseits daran, wie sie in einem besonderem Raum oder einer Halle klingt. Die hauptsächliche Verbindungslinie zwischen den sieben »Architectonics«-Stücken ist die Vorstellung davon, wie ich daraus eine visuelle Gestalt entwickle, noch bevor ich die Musik schreibe. Zuvor also hatte ich schon eine konzeptuelle Idee in visueller Form, welche ich »Architectonics« nannte.

Wenn ich ihre Musik, die sich ebenso auf frühere Kompositionsformen bezieht, höre, scheint mir ein Einfluss seitens ihres Landsmanns Arvo Pärt vorzuliegen. In den 70er Jahren beeindruckten mich Gregorianische Gesänge sehr und als ich dann Pärts »Tabula Rasa« hörte, war dies ein großer Einfluss. Ich bin aber nicht der Vertreter dieser und jener Schule, diese Beeinflussung ist nur ein kleines Element von vielen.

Balance zwischen Emotion und Rationalität

Ihre Musik hat auch eine gewisse Mystik, hat Soul und tiefe Klarheit im Ausdruck, klingt aber um einiges moderner und expressiver.
Es geht darum, zwischen emotioneller und rationaler Ebene eine Balance zu finden. Viele Komponisten orientieren sich zu sehr an nur einem Pol. Ich hingegen baue Brücken zwischen diesen getrennten Welten. Bringe ich melodische Momente ein, ist meine Herangehensweise intuitiv, während ich für andere Abschnitte mathematische Berechnungen durchführe.

In »Passion« und »Requiem« greifen sie auf sehr alte Musikformen zurück. Was ist das Grundlegende im »Requiem«?
Beim »Requiem« in memoriam Peeter Lilje handelt sich um einen äußerst kraftvollen Text, der eine Menge verschiedener philosophischer Gedanken enthält. Diese Gedanken über die Ewigkeit, über die Menschheit, über das Schicksal lenkten mich beim Komponieren. Es ist meinem Freund, einem talentierten Dirigenten des Estnischen Symphonieorchesters, der mit 43 Jahren an einem Herzinfarkt starb, gewidmet. Das »Requiem« basiert auf einem religiösen Text, den ich gekürzt habe. Auch habe ich nicht die Musik in verschiedene Teile mit Nummern gesplittet, wie dies gewöhnlich bei Requiems gemacht wird. Wodurch ich mit der üblichen Form eines Requiems gebrochen habe.

Ihre Klangsprache ist eine Metaklangsprache. Sie operieren mit verschiedensten Formen und können leicht von einer zur anderen wechseln. Ihre Musik wechselt sogar zwischen tonal und dissonant, was diese sehr anregend macht. Ihrer Musik kann man nicht oberflächlich zuhören. Wenn man sich dieser Musik sehr sorgfältig widmet, will man mehr und mehr davon hören.
Genau das ist mein Ziel. Ich bin glücklich, eine derartige Reaktion auf meine Musik zu hören. Ich kann nicht Musik schreiben, die nicht interessant genug ist, dass ich sie selbst hörte. Klarerweise bin ich auch von meiner eigenen Arbeit beeinflusst. Und natürlich hoffe ich, dass andere Menschen meine Musik auf dieselbe Weise wie ich empfinden. Die Übergänge zwischen tonalem und atonalem Denken sind mir wirklich wichtig. Ich lenke meine ganze Aufmerksamkeit im speziellen darauf.

Für mich gab es zuvor niemanden, der auf solch perfekte Weise eine Balance zwischen tonal und atonal schaffte. Einerseits klingt ihre Musik sehr spirituell, dann wieder ist dieser Moment nicht so präsent. Auch verläuft die Handhabung repetitiver Strukturen nicht nach einfachen Strickmustern.
Ich bevorzuge repetitive Texturen, die in sich selbst langsam gleitende, verschiedenartige Überlagerungen tragen. Meister darin sind Steve Reich oder Györgi Ligeti.

Autodidakt

Ihr mathematisches Talent schimmert durch. Wie verlief eigentlich ihre Ausbildung?
Im Alter von 15 Jahren verließ ich meinen Heimatort Kärdle auf der Ostseeinsel Hiiumaa und trat in ein Tallinn in ein Gymnasium ein. Ich dachte, dass ich an der Universität Mathematik studieren würde, doch wurde mein Hobby Musik zu meinem Lebensinhalt. Ich begann, an der Hochschule systematisch Musik zu studieren, auch wenn meine Eltern Angst vor dieser Veränderung hatten. Meine Mutter ist Ökonomin bei einer Bank, mein Vater Theologe. Mein Vater spielte die ganze Zeit Alte Musik, Barock- und klassische Musik, weshalb die Musik in meinem Leben ein so große Rolle spielt. Vieles ist in meinem Unterbewusstsein hängen geblieben.

Gibt es nun eine Beeinflussung durch liturgische, protestantische Gesänge aus Estlands Kirchen?
Es ist schwer, darauf eine klare Antwort zu geben, da es auch katholische Messen gibt. Im Prinzip waren die Esten aber heidnischer und weniger religiös als die Polen. Mein Zugang, nach der Ewigkeit zu suchen und eine Antwort darauf zu finden, ist ein sehr persönlicher.

Wie konnte ihr Vater als Theologe in einem atheistischen Land über die Runden kommen?
Es war sehr hart für ihn. Er hatte eine riesige Sammlung von Büchern. Er war Autodidakt und studierte für sich selbst. Natürlich musste er andere Arbeiten erledigen, um überleben zu können.

Sie selbst haben ja auch als Autodidakt begonnen.
Ich wollte keine Kindermusikschule, wo man in Estland die erste musikalische Ausbildung bekommt, besuchen, obwohl ich die Musik liebte. Meine um acht Jahre ältere Schwester ging in diese Schule, hatte jedoch, da wir zu Hause kein Piano hatten, große Schwierigkeiten, weil sie nicht üben konnte. Ich war noch klein, bekam die Probleme aber mit. Als ich sechs Jahre alt war, konnte mein Vater endlich ein Piano kaufen, doch war ich aufgrund der schlechten Erfahrungen meiner Schwester resolut dagegen, die Kindermusikschule zu absolvieren. Ich begann ohne Vorwissen Piano zu spielen und fand Tunes, Songs und Melodien von selbst heraus und begann, diese mit einer zweiten Stimme oder dem Bass zu kombinieren. Schon als Zwölfjähriger las ich mich in die grundlegenden Kenntnisse der Musiktheorie ein. Als 17jähriger ging ich
dann aufs Musikcollege. Ich begann als Perkussionist, weil dies das einzige Instrument war, für das keine musikalische Vorbildung verlangt wurde.

Die meisten Kompositionen entstehen aber wohl am Piano.
Am Piano kontrolliere ich die vertikale Struktur und Harmonien im Speziellen. Ich verwende aber auch Midi-Equipment. Damit kann ich die Texturen und insbesondere die Timings kontrollieren. Das hat viel mit dem inneren Hören zu tun. Seit sieben Jahren komponiere ich Note für Note am Computer und kann jederzeit zurück, um Nachkontrollen zu machen.

Vorerst wissen sie also nur, wie es klingen soll. Es muss ein wunderbares Gefühl sein, das neu entstandene Werk bei Proben auf echten Instrumenten zu hören.
Dem ist so.

Home / Musik / Artikel

Text
Alfred Pranzl

Veröffentlichung
30.09.1999

Schlagwörter

favicon

Unterstütze uns mit deiner Spende

skug ist ein unabhängiges Non-Profit-Magazin. Unterstütze unsere journalistische Arbeit mit einer Spende an den Empfänger: Verein zur Förderung von Subkultur, Verwendungszweck: skug Spende, IBAN: AT80 1100 0034 8351 7300, BIC: BKAUATWW, Bank Austria. Vielen Dank!

Ähnliche Beiträge

Nach oben scrollen