© Christopher Mavrič
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Eine italienische Reise

Dass Matthias Forenbacher ein großartiger Konzeptionist ist, erschloss sich schon auf früheren Alben. Als Singer/Songwriter klingt der Steirer auf »La Nuova Collezione – Roma, Paris, Tokyo, New York« frischer denn je, dank Inklusion italienischer Blasmusik und gefinkelter Sounds. Ein Porträt.

Spät rückte Matthias Forenbacher in meinen Aufmerksamkeitsfokus, dank dem steirischen Label Pumpkin Records, das mit seinem experimentellen Album »Dogs« (2021) entlegen Zauberhaftes zusandte. Die zugrundeliegende Melodie legte zunächst die Fährte zu einer neapolitanischen Canzone, die in unseren Breiten als »Mein Hut, der hat drei Ecken« bekannt ist. Bereits ein Hinweis auf das vielfältig angelegte Schaffen des Steirers, dessen Vita beweist, dass es ein Vorteil ist, Weltgewandtheit durch Aufenthalte im Ausland und das Unterwegsein zu erlangen. Matthias Forenbacher gestaltet auch performative Hommagen wie etwa »Ruf!« über den »Manuskripte«-Herausgeber Alfred Kolleritsch, oder begleitet Buchpräsentationen, 2022 etwa Josef Winklers Lesung im Musilhaus in Klagenfurt aus »Die Ukrainerin«, der beklemmenden Biografie einer ehemaligen Zwangsarbeiterin, die in Kärnten Bergbäuerin wurde. Selbst bei einer Arbeit fürs Klangzeit-Festival schimmerte der Kern, der Forenbachers Werk kennzeichnet, durch. »Poem on a Junkyard« birgt Klänge und Geräusche von einem Schrottplatz, im Wesentlichen fungieren aber bei dieser Auseinandersetzung mit dem Thema Mensch und Maschine elektrische Gitarren und Looper als »Leadinstrumente«. Nicht zu vergessen Forenbachers fabulöse, Magie entfaltende, zwischen Folk und Rock’n’Roll changierende Alben »Le Monde Diplomatique« (2018) und »La Nuova Collezione« (2022, beide Pumpkin Records). Darauf ist Forenbacher ein großer Erzähler, der, selbst wenn er den Mikrokosmos persönlicher Lebensumstände im Fokus hat, nie den Blick auf globale, gesellschaftliche Problematiken verliert. Höchste Zeit also, via ausführlicher E-Mail-Konversation Matthias Forenbacher zu porträtieren. 

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skug: Ihre Songs sind so gut, dass ich zunächst dachte, es handle sich dabei um Neuinterpretationen oder Coversongs. Dabei sind alle Lyrics von Ihnen und das Überlassen von Interpretationsspielraum verdeutlicht eine Zeile aus »Explode«: »The ruins of stability are easy to see« kann mehrfach gedeutet werden. Mehrfachkrisen sind immanent und jetzt hat Italien rechts(extrem) gewählt, was absehbar war. Neoliberalismus bevorzugt hauptsächlich reiche Eliten und befördert somit den Rechtsruck und wird zur großen Gefahr für die Demokratie. Auch damit ich mich nicht in zu vielen Deutungen verliere, wie meinen Sie’s in diesem Song, der vermutlich länger zurückliegende Querverbindungen hat? 

Matthias Forenbacher: Ich tue mir immer schwer, eigene Musikstücke oder Texte selbst zu interpretieren oder zu erklären. Und ich bin froh, die Musik bzw. den künstlerischen Bereich, Musikinstrumente etc. zu haben, um Situationen und Dinge ausdrücken zu können, die ich eben in anderer Form wahrscheinlich nicht formulieren kann. Manchmal, in Radio- oder Fernsehsendungen oder Diskussionen, würde ich bei verschiedenen Themen gerne einen Song, eine Musik oder einzelne Gitarrentöne oder Klänge als Diskussionsbeitrag (ohne Worte dazu) einwerfen. Und ich glaube, es würde Sinn machen. Ich spiele deswegen auch gerne bei Lesungen oder in Galerien und in Verbindung mit anderen Kunst- oder Medienformen. Nichtsdestotrotz, die »ruins of stability« stehen auch in Zusammenhang mit anderen Worten aus dem Lied (z. B. »short-term lifestyle«) und mit anderen Songs und Stimmungen (z. B. »See The Change Won’t Come« aus dem »Le Monde Diplomatique«-Album). 

Viele Zeichen sind für mich deutlich erkennbar. Die Spannungen, das Brodeln in den Gesellschaften (egal ob in österreichischen, in europäischen, amerikanischen usw.). Und ob rechts oder links, ich glaube schon länger, dass das gar keine Kategorien mehr sind. Es gibt ein immer dringenderes Bedürfnis bei so vielen, dass sich Dinge endlich ändern und verbessern. Die Polarisierung hat in vielen Bereichen massiv zugenommen. Das hat man bei den französischen Gelbwesten gesehen, bei Corona-Demos, bei Meinungen zu bestimmten Themen, bei Trump, beim Krieg in der Ukraine etc. Bei vielen (medialen) Diskussionen, wo sofort Feindbilder in alle Richtungen und Schwarz-Weiß-/Gut-Schlecht-Konstruktionen entworfen werden. Dabei bräuchten wir so dringend neue Denkmodelle und Ideen und ein Zusammenhalten, um Probleme konstruktiv angehen zu können. Eben konkret die Umwelt oder die Schere zwischen auf der einen Seite wohlhabend sein und sich keine Sorgen machen müssen und auf der anderen Seite einem breiten Nicht-mehr- oder Kaum-mehr-Zurechtkommen. Die Unleistbarkeit eines normalen Lebens. Die Teuerung (schon vor Corona). Die Mehrjob-»Normalität«. Die europäische Großstadt, die für Normalverdiener nicht mehr meisterbar ist. Ja, großer und sinnloser Reichtum, auch ererbter, sehr hohe Gehälter etc., das muss alles deutlich eingeschränkt werden. Und Fleiß (z. B. statt Netzwerken) muss sich wahrscheinlich auch wieder auszahlen können. 

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Daneben ist die ständige Überanstrengung vieler (auch sehr junger Leute) klar wahrnehmbar. Ich glaube auch, dass kürzere Arbeitszeiten, nämlich sowohl – oder gerade – für Führungskräfte als auch für Angestellte unbedingt eingeführt werden sollten. Hohe Gehälter in Unternehmen müssen in einer nachvollziehbaren und deutlich näheren Relation zu den niedrigsten stehen. Auch die Begrifflichkeit des ständigen Wirtschaftswachstums wird ja immer vehementer und deutlicher in unterschiedlichsten Gesellschaften hinterfragt. Und auf der anderen Seite sieht man das starke Bedürfnis des Tanzens auf dem Vulkan, das völlige Verdrängen-Wollen von Realitäten, das SUV-Feiern, das Zelebrieren des Konsumierens, des vielen Essens und Trinkens, überhaupt die »Disposable Society«, die Social-Media-Mentalität und Insta-Ästhetik, die Werbung … »Ain’t there no one exciting tonight?« Gibt es da gar niemanden Aufregenden mehr bei diesem Fest, bei dieser Party, mit dem man sich in Ruhe, respektvoll, interessant, ohne vorgefasste Meinung und ohne Gefahr laufen zu müssen, etikettiert zu werden, unterhalten kann?

Der Opener »Explode« ist ein zentraler Song, ein ganz besonderes Statement zur Zeit. Wann entstanden die Lyrics? 

»Explode« wurde jedenfalls ca. 2013 geschrieben und noch am selben Tag aufgenommen. Damals waren Syrien, der arabische Raum, die Ukraine und ihre Änderungen sehr präsent, die gesellschaftlichen (Nach-)Wehen der Wirtschafts-/Finanzkrise, die keine wirkliche war (mit Phrasen wie »die Krise als Chance«), Griechenland etc. Und mit einigem war für mich völlig klar, dass wir auf Probleme zusteuern, auf die bis jetzt auch noch immer nicht geantwortet wird. 

Das neue Album trägt bereits im Titel Ihre große Neigung zur Italianità.

Schon in meiner Jugend war der europäische und internationale Nachbar Italien sehr gegenwärtig. Mit 18 Jahren habe ich begonnen, neben meinem Studium als LKW-Fahrer zu arbeiten, und bin dann als Lenker von Schwertransporten über die Jahre immer wieder in Italien im Einsatz gewesen. Hab’ das sehr gerne gemacht und man konnte in kurzer Zeit viel von Land, Leuten und den Dimensionen kennenlernen. Das war sehr faszinierend und fundierte meine Italianità. Ab 1999 habe ich mehrere Jahre in Rom gelebt und danach auch einige Zeit in anderen Gegenden Italiens verbracht. Auf der Universität konnte ich mich intensiv mit italienischer Ästhetik in Werbung, Film und Medien auseinandersetzen. Wollte das jedoch (ob unbewusst oder/und bewusst) immer eher aus einer künstlerischen Perspektive (statt aus einer wissenschaftlichen; überhaupt die Werbung) betrachten. Mache ich eigentlich auch heute noch. 

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Sehr gut passt dazu Ihr Song »7,99«, wiederum aus »Le Monde Diplomatique«, mit einem Bruce-Springsteen’schen Backbeat. Ein wunderbares kleines Roadmovie, lässt an Einkaufszentren along Austrian roads denken, die architektonisch billig und eigentlich immer missraten sind … und dann noch diese Verdichtung von 9ern nach dem Komma, die bei allzu vielen psychologisch fatal wirkt. Doch zurück zum Hang, sich von der Kultur der Repubblica Italiana inspirieren zu lassen. Ihr Faible für Italien hat wohl noch tiefere Wurzeln? 

Schon davor haben mich die italienische Musik – vor allem traditionelle und ländliche, aber auch bestimmte Songs der italienischen Cantautori (Fabrizio De André, F. De Gregori …) und manche Stücke der 1960er, 1970er und 1980er (»Sapore di Mare«, Celentano, Alice, Nannini …) – und ihre besondere Melodiösität und Melancholie fasziniert. Und um nichts weniger, auch sehr früh schon, der italienische Film, insbesondere der Neorealismus. Kann mich noch genau erinnern, als ich das erste Mal Vittorio De Sicas »Fahrraddiebe« gesehen habe. Ich war sehr angetan davon, wie man mit so geringen Mitteln solch ein zugleich einfaches wie großartiges (filmisches) Kunstwerk (oder eigentlich fast schon Gemälde) schaffen und zugleich eine so zurückgenommene und zerbrechliche Geschichte über Menschen und Konflikte erzählen kann. Und der Film »Stromboli«, mit der kurzen, archaischen Musik, die darin vorkommt. Und Pasolini (»Mama Roma«) und Fellini (speziell »La Strada«). In eine solche Richtung wollte ich eigentlich immer auch musikalisch denken und vorgehen. Springsteens »Nebraska«-Album hat diesbezüglich für mich eine ähnliche lebenslange Bedeutung. Oder italienische Literatur: bestimmte Werke von Giovanni Verga oder besonders Carlo Levis »Cristo si è fermato a Eboli«, das für mich bis heute eines meiner Lieblingsbücher ist. Frankreich übrigens steht da für mich in Sachen Film und Literatur um nichts nach, z. B. Houellebecq, Barthes, Camus, de Saint-Exupéry, die Nouvelle Vague, Melville, Godard …

Besonders gelungen finde ich den Spagat, Songwriting, das die musikalischen und landschaftlichen Weiten, aber auch sozialen Spannungen Nordamerikas einfängt, mit italienischer Volksmusik zu paaren. Durch diese archaischen, frischen Beimengungen erhält »La Nuova Collezione« eine ganz besondere Klangnote! 

Für das »Le Monde Diplomatique«-Album wollte ich unbedingt diese filmische und neorealistische Ästhetik einfangen und in meine, wahrscheinlich zum Teil sicher nordamerikanisch geprägten, Songs einfließen lassen. (Ich hab’ lange in den USA und Kanada gelebt.) Jedenfalls habe ich mich deswegen zu einer Reise nach Italien aufgemacht, um einen Chor und eine Blaskapelle zu finden. Eine, die nicht perfekt klingt, sondern eher ungehobelt, unpräzise und etwas »gezogen«, die sich aber in den Songs zurechtfinden kann. Ich wollte eigentlich in den Süden oder in die Gegend der Abruzzen. Allerdings war mein Auto nicht gerade das neueste und ich bin etwas zu spät von Österreich weggekommen, sodass ich in den Spätherbst-Abendstunden erst in der Gegend von Bologna war. Jedenfalls – um es etwas abzukürzen: Es hat sich so ergeben, dass ich, motiviert vor allem durch die extreme Hilfsbereitschaft einiger in der Gegend Ansässiger (und durch ihr großes Interesse an diesem meinem Vorhaben), meine Recherche in der Emiglia Romagna und Umgebung begonnen hatte und ich zudem auch erfahren konnte, dass diese Gegend um Bologna eigentlich eh das musikalische Herz Italiens bildet (Zucchero, Lucio Dalla, Pavarotti, Milva, Laura Pausini …). 

Schnell konnten sich so Kontakte und gegenseitige Anknüpfungspunkte ergeben, ich habe für ein paar Wochen eine einfache, schöne Unterkunft am Rande von Weinbergen gefunden und von dort aus viele Fahrten unternommen, um bestimmte Musiker(-typen) zu finden. Für Choraufnahmen bin ich beispielsweise in extremem Regen in die Stadt Nonantola gefahren und vom dortigen Verein sehr herzlich empfangen worden. Leider waren die Damen (die meisten über 80 und manche ehemalige Mondinen auf Reisfeldern) aber nicht damit vertraut, mit Kopfhörern zu singen (ich hatte extra alle mögliche Technik mitgenommen, aber daran hätte ich nicht gedacht), sodass die Aufnahmen nichts geworden sind. Dafür durfte ich von einer dieser Damen erfahren, dass sie Darstellerin im Film-Klassiker »Riso Amaro«/»Bitterer Reis« aus dem Jahre 1950 war. Auch sie war in ihrer Jugend eine ehemalige Mondine, eine Reiserntehelferin, und sie hat im Film auch eine solche verkörpert. Ihre Erzählungen und Ausführungen, auch die ihrer Kolleginnen, waren wirklich sehr, sehr interessant und spannend zu hören. 

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Nun dämmert mir, dass bereits das Vorgängeralbum »Le Monde Diplomatique« auf diesen Aufnahmen basiert und »La Nuova Collezione« ein gleichfalls glorioses Dacapo davon ist. 

Einige Freundschaften sind so entstanden, auch mit der Familie dieser Unterkunft, in der ich gewohnt habe. Die Schwester des Junioreigentümers, Elisabetta Martignoni, singt Background auf ein paar Nummern. Und mit Antonio Rimedio, der für mich die Blaskapelle zu den Songs arrangiert hat, habe ich mehrere Konzerte u. a. in Belgien und Frankreich gespielt, die er mit Akkordeon und Oboe begleitet. Bei Marco Biscarini konnte ich in seinem Studio die relativ aufwendigen Blaskapellenaufnahmen tätigen. Ohne seine tatkräftige Hilfe und sein soundtechnisches Wissen wäre das schwieriger vonstattengegangen. Er ist ja auch als Komponist für bekannte Filme in Italien tätig, so konnten sich einige gegenseitige Projekte und Verbindungen ergeben, mit denen ich große Freude habe. Die musikalischen Reisen durch Italien waren jedenfalls sehr aufregend und intensiv und stellen für mich einen wichtigen und immerwährenden, stets sehr präsenten Part auf diesen beiden Alben dar. Wahrscheinlich sollte ich die Erlebnisse und Ereignisse dazu gesondert einmal aufschreiben. Etwas Videomaterial davon gibt’s außerdem auch noch …

Ein bisschen sind Sie schon der Alan Lomax von Norditalien, sollte da nicht doch in die Abruzzen und weiter bis zum Stiefelabsatz ausgedehnt werden? Zumindest für die nächsten Alben? 

Ja, die Abruzzen und überhaupt den Süden Italiens würde ich wirklich sehr gerne musikalisch noch weiter erforschen und durch Aufnahmen mit eigenen Songstrukturen in Verbindung setzen. Da gibt es viele Aspekte, die mich wirklich interessieren und faszinieren. Die Blaskapellen sowieso, aber auch das Akkordeon, gewisse Gesänge und bestimmte Besonderheiten, die mich in Tarantellen oder sizilianischen Liedern oder auch in sardischen Hirtenmusiken immer wieder extrem mitreißen. Auch filmisch würde es mich zudem sehr reizen, da etwas zu erzählen. Ich denke immer wieder darüber nach, auf welche Weise man so etwas realisieren könnte. 

Ich teile Ihre Leidenschaft für Blasmusikkapellen, besonders die Marching Bands aus New Orleans haben es mir angetan, und bin daher dankbar, mehr davon aus unserem südlichen Nachbarland kennenzulernen. 

Die Faszination für Blaskapellen kommt vor allem aus Italien, wo ich immer wieder speziell von dieser ganz besonderen »Gezogenheit«, der nicht ganz so großen Präzision, dem Unperfekten, aber Kräftigen und Frohen und zugleich Traurigen hingerissen bin. Ich habe einmal einen Ausschnitt von eigenen Videoaufnahmen aus Rom auf YouTube hochgeladen, der eigentlich zur Erklärung für Musikerkollegen dienen sollte, leider bekomme ich ihn von YouTube jetzt nicht mehr weg, weil die irgendetwas geändert haben … Jedenfalls, dieses Video (siehe oben) hat mich konkret darin bestärkt, einmal so etwas in meine eigene Musik einfließen zu lassen. Und natürlich immer wieder besondere Blaskapellen in besonderen Filmen. Auch, wie Sie schreiben, Begräbniskapellen aus New Orleans, ganz großartig! 

Weiter zurück in Ihrer Biografie: Sie haben einige Zeit in Nordamerika verbracht. Was hat Sie dorthin bewogen und wie konnten Sie Ihre Existenz bestreiten? 

In den USA habe ich Mitte der 1990er mehr als zwei Jahre gelebt und gearbeitet; und zwar als Golfcaddy, u. a. in einem Country Club im kleinen Atlantikstädtchen Manchester by the Sea (falls Sie den gleichnamigen Film kennen). Jeden Tag – außer montags – auf jeder Schulter ein volles Golf-Bag zu tragen für entweder 4 bis 5 Stunden (eine 18-Loch-Runde) oder 8 bis 10 Stunden (zwei Runden), bei großer Hitze und sehr hoher Ostküsten-Luftfeuchtigkeit … Golf wollte ich dann an den freien Montagen jedenfalls nicht mehr spielen bzw. lernen. Hab’ mir damit aber mein erstes Auto (ein schönes, schäbiges, schwarzes V8-Oldsmobile-Coupè für genau USD 550,-) verdient und gekauft und für die Fahrt zur Arbeit auch dringend benötigt. Daneben auch noch manchmal andere kleinere Jobs und jeden ersten Sonntagabend im Monat einen 15-minütigen Acoustic-Folk-Auftritt im Hotel Colonial Inn (Gage: zwei Mittagessen pro Monat) in Concord, Massachusetts getätigt. In Concord habe ich gewohnt, nicht weit weg von H. D. Thoreaus Wirkungsstätte und dem »Walden Pond« .(Ein Lied mit diesem Titel habe ich übrigens ein paar Jahre später – in Rom – geschrieben und 2008/09 in Kanada fertiggestellt und dann dort in Edmonton gemeinsam mit meiner damaligen Begleitband The Bisons für mein Album »Life Vest« aufgenommen.)

Kamen Sie im zweitgrößten Staat der Erde, der annähernd die Größe Europas hat, auch in Berührung mit der indigenen Kultur? 

In Kanada war ich zunächst in Montreal und dort vor allem als Musiker tätig. (»Normale« Arbeit bzw. etwas nebenbei war eher schwierig zu finden.) Zuerst hatte ich begonnen, in U-Bahn-Stationen und bei Open-Stages zu spielen und schließlich, nach einigen harten Wochen/Monaten, sind langsam ein paar regelmäßige Buchungen für Musikauftritte (zuerst einmal im Monat, dann jede zweite Woche) dazu gekommen, was schließlich alles zusammen Zimmermiete, Essen/Verpflegung und dann auch Musikausstattung und Kleidung abdeckte. Zum Schluss sind auch noch ein paar musikalische Aufträge für Galerien und Theaterproduktionen dazugekommen (z. B. für »Warten Auf Godot«, das outdoor aufgeführt wurde und wo sämtliche Darsteller, Musiker, Beleuchter, Visagisten etc. alle auf zwei Meter hohen Pfählen gesessen sind; das Publikum auf Stühlen). Alles in allem war es jedenfalls nicht ganz so leicht damals, auch in der Stadt Montreal (aber ich hab’ viel gelernt), und so bin ich im Herbst schließlich gegen Westen, nach Manitoba, weitergezogen (d. h. 49 Stunden durchgehend mit dem Greyhound-Bus unterwegs gewesen). Hab’ dort über eine Mitbewohnerin einen Job als Mähdrescher- und LKW-Fahrer auf einer großen Farm ihrer Eltern bekommen. Das hat zum ersten Mal etwas Leichtigkeit in die Sache gebracht und Freude gemacht und Musik zu machen war auch möglich. 

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Ein gutes Jahr später bin ich dann, diesmal ausgestattet mit einer interessanten Arbeit, wieder nach Kanada, nach Edmonton, gegangen. Durfte dort fürs Wirth Institute for Austrian and Central European Studies arbeiten, das wie ein Kulturinstitut aufgestellt ist und sozusagen eine Schnittstelle zwischen den österreichischen (und anderen zentraleuropäischen) und kanadischen Außen- und Wissenschaftsministerien darstellt. Die Aufgabe war es, Österreich und Zentraleuropa in Westkanada zu repräsentieren und kulturell zu vernetzen, Veranstaltungen zu organisieren, eine immer größer werdende Bibliothek mitzuentwickeln und vieles mehr. Daneben hatte ich auch Gelegenheit, mich intensiv mit der dortigen kanadischen indianischen Kultur (insbesondere der Cree, Blackfoot, Tlingit …) auseinanderzusetzen. (Das Native Center war im angrenzenden Gebäude; im gleichen Gebäude am anderen Ende des Ganges war übrigens eine Dependance der Smithsonian Collection, wahnsinnig toll.) Und ich konnte vor allem in Ruhe meine Live- und Recording-Band The Bisons aufbauen. Das Leben in Edmonton war um einiges leichter, regelmäßiger und schöner als davor. Und einige Musiker und ehemalige Kollegen sind gute Freunde geworden.

Zurück zum aktuellen Album »La Nuova Collezione«. Auch wenn scheiden weh tut, so harmonieren in »When We Parked Your New Car« die Bläser wunderschön mit dem Akkordeon, obwohl eine zerbrochene Beziehung den Handlungsstrang bildet. Wie viele von den Lyrics auf dem neuen Album sind autobiografisch? 

Da muss ich sagen, dass ich autobiografisch überhaupt nie schreibe und das auch gar nicht kann. Ich tue mir sogar extrem schwer, konkrete Themen herzunehmen und über diese Texte zu verfassen. Texte und Worte kommen, wenn diese es selber wollen. Ich muss dann nur ganz schnell sein und sie festhalten, bevor sie davon- oder weiterziehen. Und ich habe ständig einen kleinen Notizblock bei mir und zuhause einen größeren Textblock um mich und notiere sehr viel an Worten, interessanten Sätzen und Textfragmenten und Ideen überhaupt. Manchmal erschreckt es mich jedoch und auch mein näheres Umfeld, dass bestimmte fiktive Situationen bzw. Themen oder auch Stimmungen aus manchen Songgeschichten dann einige Zeit später wirklich so zutreffen und passieren, z. B. in »When We Parked Your New Car« und »Hold Me, Hold Me« oder »She’s Tired« und »I Don’t Believe You« aus »Le Monde Diplomatique«. Das ist übrigens eine Steirische Harmonika auf »When We Parked Your New Car«, die da neben den Bläsern vorkommt. Auf »The Wild Bunny« spielt dann Antonio Rimedio aus Kalabrien das Akkordeon zu den Bläsern.

Wofür steht der Untertitel »Roma, Paris, Tokyo, New York« von »La Nuova Collezione«? Da besteht wohl ein Konnex zu »Melodrame, FR/IT 1983«, ein besonders herzergreifendes Lied mit schluchzenden Pedal-Steel- oder Slide-Gitarren-ähnelndem Surren/Summen im rechten Kanal, das sich mit Gitarrentremolos paart. »Melodrame« ist traumhaft! Der zweite Titelteil »FR/IT 1983« verweist auf die damalige Zeit und wohl die Entstehungsmetropolen? Was lag als Inspiration zugrunde? 

Der Subtitel enthält einen Blick und filmischen Schwenk auf die Welt des Films und auch der Mode, (vielleicht) als Metapher. Rom als Stadt und Begriff durfte dabei auf keinen Fall fehlen. Der langhaltende, hohe Gitarrenklang von »Melodrame, FR/IT 1983« ist, wenn ich mich richtig erinnere, meine Gibson SG mit einem Geigenbogen oder einem sogenannten EBow gespielt. Die Sologitarre hat Tremolo, die pumpende/hämmernde Rhythmus-E-Gitarre läuft durch ein Tape-Echo. Songs sind bei mir immer wieder keine (oder nicht nur) Songs, sondern viel mehr Filme oder Gemälde oder auch TV-Spots, Hörspiele … »Melodrame« zum Beispiel ist so ein Fall. Und die Songtitel selber haben für mich eine sehr große zusätzliche erzählerische Bedeutung. (Michel Houellebecq, Roland Barthes, Marshall McLuhan, aber auch Henri Matisse und Pablo Picasso möchte ich hier erwähnen.) Im weitesten Sinne ist »Melodrame« vielleicht auch thematisch noch mit der »Herbergssuche« in Verbindung zu setzen. 

»(Applied) Picture Theory« ist für mich wiederum ein volksliedhafter Song, der die Liebe beschwört und Bilder imaginieren lässt. Auf Volksmusik und Traditionals sind ca. wie viel Prozent des Schaffens von Matthias Forenbacher zurückzuführen? (Selber denk’ ich mir oft: Letztlich ist es die Volksmusik, die mich zutiefst berühren kann, auch wenn ich gerne experimentelle Musik höre und neue Soundtendenzen verfolge.)

Den Anteil von traditioneller Musik oder Volksmusik kann ich nicht abschätzen. Aber sie ist von größter Bedeutung. Alleine wie mich dieses Lied seit fast 20 Jahren begleitet hat, das ich nur auf Kassette habe und das ich gerade auf YouTube zur Referenz hier gesucht und gefunden habe … um wieder bei den Abruzzen, dem Neorealismus, den Chören und bei Alan Lomax zu landen. Dazu – zur Volksmusik – gehört für mich aber auch der frühe (Delta) Blues, den ich zugleich fast wieder schon als klassische Musik einschätzen würde. Und das Rock’n’Roll-Element ist extrem wichtig bei meiner Herangehensweise. Die Cajun-Musik und ihr häufig vorkommender 6/8-Takt ist ebenso ein bedeutender, mir bewusster Einfluss. Weiters das repetitive Element … und nicht zu vergessen immer wieder Elemente der sogenannten Alten Musik und der Renaissance- und Barockmusik, die sich als sehr prägend erweisen. Bei der »(Applied) Picture Theory« habe ich mehrere Themen zusammengeführt: die Liebenden, die Saturday Night, aber auch das Künstlerische, das Bildhafte und seine Theorie und zudem den Betrachter oder Begleiter im Museum, der bei gewissen Kunstwerken meint: »Das soll jetzt Kunst sein? Das kann ich aber auch!« Und all diese Schemen (und Schatten) verfließen und verschmelzen zu einem Ganzen. Zu einer Geschichte. Zu einer Beziehung. Oder zu einem gestellten Instagram-Foto. Das passiert ja auch in einer uns wirklichen Wirklichkeit, im Leben …

Herzzerreißend und bestrickend schön erklingt »Hold Me, Hold Me«. Auch dieser letzte Song des aktuellen Albums lebt einmal mehr von Ihrem Raffinement, Töne hochzupitchen. Selber komme ich nicht drauf, welches Instrument, hier besonders markant zu hören, für die hoch klingenden Töne sorgt? 

Dieses hochgepeitschte Instrument ist eine italienische Carousel-/Zirkusorgel, die ich mir dafür ausgeliehen hatte. Sonst nur mehrere E-Gitarren, der Kontrabass von Gerhard Steinrück und eine alte riesige Roma-Trommel, die ich in Belgrad auf der Straße gekauft habe.

Kleines Fazit: Ihre Lyrics, eingebettet in diese gefinkelten, gepitschten rauen Sounds, die Bläserarrangements, aber auch der Einbezug von Akkordeon und teils Mundharmonika machen den Tonträger zu einem Juwel! 

Vielen, herzlichen Dank! Das freut mich sehr zu hören. 

Diskografie Matthias Forenbacher 

»The Leaving« (Monkey Music, 2004) 

»Life Vest« (Pumpkin Records, 2010) 

»Le Monde Diplomatique« (Pumpkin Records, 2018) 

»Dogs« (Pumpkin Records, 2021) 

»La Nuova Collezione – Roma, Paris, Tokyo, New York« (Pumpkin Records, 2022) 

Außerdem existieren zahlreiche Aufnahmen und Kompositionen für Filme, Videoproduktionen, Theaterprojekte, Mitwirkung auf Alben anderer Musiker und Künstler etc. Beispielsweise eine Coverversion für eine Compilation: https://soundcloud.com/matthias-forenbacher/im-a-believer

Konzerte im Frühjahr 2023

5. Mai im Schallter (1070 Wien, Westbahnstraße 13)

16. Juni im Café Korb (Duo Forenbacher/Lacina; experimentell, Klangkunst)

3. Juni in der Schloßtenne Wies, Südsteiermark (mit der Band Thalija)

Link: http://matthiasforenbacher.com/ 

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