Eine Schiffsreise von Marseille nach Martinique im März des Jahres 1941: »These are my old tears«, steht auf dem ersten Hintergrundbild im Burgtheater. »Keine fremden Federn schützten mein Gesicht. Das Unglück strömt wie aus einer Wasserleitung.« Es drehen sich die Himmelscheiben in Mitternachtsblau. Die Planeten wandern mit. Das Bühnenbild wird die gesamte Zeit aus Schiffsteilen bestehen. William Kentridge vermischt in seinem neuen Stück »The Great Yes, The Great No« in bewährter Manier Trickfilm mit Zeichnungen. »Neue antirationale Weisen, sich Sprache und Bild zu nähern, halten Einzug«, steht im künstlerischen Statement. Echte Menschen mit Papiermasken vor dem Gesicht, auf denen Fotogesichter von Surrealist*innen drauf sind. Die Musik ist toll. Ganz am Anfang spielt die Pianistin Thandi Ntuli auf den geöffneten, aufgestellten Saiten ihres Klaviers Schlagwerk, bevor sie auf die Tasten wechselt. »Ich nehme mir einen Ziegel, um zu zeigen, wie schön mein Haus einst war.« Es ist nicht immer ersichtlich, von wem die poetischen Texte stammen. Aber großteils wohl von diversen Surrealist*innen, die im Laufe der Zeit vorgestellt werden.
Riesige Schatten
»Die Welt hat ein Leck. Wo ihr herkommt, werdet ihr nicht vermisst.« Das Marseille-Schiff war ursprünglich als Frachtschiff ein Transportboot für Orangen. Die Schatten der Schauspieler*innen erscheinen riesig auf dem Hintergrundbild, manche spielen mit ihren Schatten. »Menschen setzten sich hin und warteten auf ein Wunder. Sie hofften, sich im Bedarfsfall in einen Sack Orangen zu verwandeln.« Es gibt sehr viel zu sehen. Man kommt kaum nach in der Gleichzeitigkeit von Bild, Ton und poetischer Sprache: »Am Ende der Morgendämmerung: PARTIR. Das Meer von Sorgen ist meine Bühne.« Und immer wieder Schiffs- oder Meeresvergleiche. »The lonley ugliness of your wounds.To cross one more sea.« Krasse Politiker werden mit eisernen Dingen auf dem Kopf abgebildet. Der mit den Nazis kollaborierende Marschall Philippe Pétain zum Beispiel mit einer Teekanne auf dem Kopf. Pétain schaut wie ein metallener Gockelhahn aus. Der Percussionist Tlale Makhene spielt flott mit Wischern auf einem Holzkasten. Lauter Tanz. Bloße schwarze Füße auf Holzboden. »Was ist Verzweiflung? Traveling the world with closed eyes.«
Einen Hut kaufen
Es herrscht eine gewisse Feierlichkeit in der Melancholie vor. »Der Surrealismus sei tot. Vor uns liegen Glanz und Hoffnung. Alles wird wieder gefunden werden.« Die Schatten der vorgestellten Surrealist*innen tanzen mit – wie die nach Martinique zurückkehrenden Schwestern Jeanne und Paulette Nardal oder der Schatten von André Breton, der ein Manifest für eine unabhängige, revolutionäre Kunst schrieb. »Er möchte den Menschen nahe sein, aber er erwischt nur ihre Kleider. Ab und zu, wenn ein Mann nicht getreten wird, kauft er sich einen neuen Hut.« Ein alter Afrikaner im grünen Mantel ist der Erzähler. Es ist Charon, der Fährmann der Toten. Mehrere Jahrhunderte voller Kolonialismus! Es geht viel um den Umstand, eine immense Trauer auszuhalten. »Am Ende des Tages ist so wenig Wind. Who knows no way of helping, let him be silent.« William Kentridge ist bekannt für sein assoziatives Arbeiten. »Ich glaubte mehr an die Kämpfe als an die Tränen.« Der nächste Surrealist ist der Arzt, Psychiater, Politiker und Schriftsteller Frantz Fanon: »Monseignor, leave our deads alone! I am not a prisoner of history.«
Alte Tränen
Es folgt die Ankunft des Frachtschiffes Capitaine Paul Lemerle auf Martinique: »Ich trinke auf Gott, der nie antwortete. Wir werden nach der Sonne rufen und sie wird nicht aufgehen.« Viele der vor den Nazis nach Martinique Flüchtenden sind auf dieser Karibikinsel geboren. »Sie stehen im Laderaum. Wider Erwarten stehen sie noch auf den Beinen.« Der alte Erzähler richtet seine Arme gen Himmel. »Das sind meine alten Tränen. Die Welt ist aus dem Lot. Wir richten sie wieder ein.« Schreit: »I am still alive!«