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Die Musikreiseagentur

In der Eigenbezeichnung »musical travel agent« kollidiert sein Å’uvre: Philippe Petit unternimmt mit cinematischen und schwerst mit popkulturellen Zeichen aufgeladenen Soundscapes Expeditionen in die Kehrseiten der Musik. skug hat ihn interviewt.

Live-Fotos: Marlies Wirth

Soundscape-Aufnahmen sind ein Substitut für Erinnerungen.
David Toop: »Haunted Weather«

Am Samstag müsstet ihr mal vorbeikommen, so kurz nach Mitternacht,
da ziehen wir unsere Sinuswellen-Session ab …

Thomas Pynchon: »Die Versteigerung von Nr. 49«

»Wenn ich Musik höre, sehe ich Bilder. Vielleicht deshalb, weil ich Kino liebe«, sagt Philippe Petit. Womit wir in jenem ambivalenten Akustikraum sind, den die Kompositionen des aus Marseille stammenden Musikers auszeichnen. So hatten für sein Vinyldebüt »Scores Henry: The Iron Man« (Aagoo 2010) »Eraserhead« und »Tetsuo« ein virtuelles Stelldichein, Petit liess die beiden Streifen in Dronegebilden aufgehen, um aktuelle Produktionsweisen mit Turntable und Software erweitert. Kurz später erschien »Off to Titan« (Karlrecords), sein »Remix« der ersten Sinfonie von Gustav Mahler.

Wie schon davor, war der Mensch-Maschine-Diskurs stilprägend, die desavouierenden Elektronik- »Kratzer« zu geschichtsdurchpflügenden Loops transformiert: »Die auf »Henry« eingebauten Störgeräusche symbolisierten Vinylkratzer, es waren quasi akusmatische Filmelemente«. Vergleichbare Erzählstrategien lassen sich auf »Silk-Screened« (Trace 2010) von Petit & Friends oder »The Crying of Lot 69« (Monotype 2011) mit Eugene Robinson (Oxbow) finden: Während die eine CD deutschen Film-Expressionismus aufarbeitet, flaniert die andere in Welten zwischen 1950er Science Fiction und Thomas Pynchon. Und wo kreist »Off to Titan«? Genau dort, Mahlers »Erste« wird als »Space Opera« interpretiert und thematisch als Modernisierung der Moderne in Verweise auf Klangkunst, Electronica und Musique Concrète gefasst. Aus den zwanzig Minuten des ersten »Titan«-Satzes wurde unter Petits Bearbeitung eine Stunde präziser Amalgamisierung von Soundart und Klassik.

 

 

»Ich hatte als DJ, Journalist, Sendungsmacher beim Marseiller Radio Grenouille und Label-Betreiber von Pandemonium und BiP_hOP gut fünfundzwanzig Jahre lang mit »verstimmter« Musik zwischen Hardcore und Electronica zu tun. Wir produzierten Guapo, Flying Luttenbachers, Ground Zero, Max Eastley oder Spaceheads und ich bin nach wie vor einer der größten Fans von The Cramps und Gallon Drunk. Hervé Vincenti und Perceval Bellone, mit denen ich die Formation Strings of Consciousness gegründet hatte, gaben mir vor ein paar Jahren Sinfonieaufnahmen. Ich wurde so inspiriert, dass ich mir einen Synthesizer und dann ein Cymbalom und ein Psalterium besorgte und selbst zu spielen begann. Und ich entschied mich, von der Distributionsseite auf die des Musikers zu wechseln.« Für Konzerte verwendet Petit neben diesen eher exotischen Instrumenten weiterhin Turntables, dazu Fieldrecordings, Theremin, AM-Radios, präpariertes Klavier und gefundene Objekte.

 

Audiophantome

Kopie_von_96_Philippe_Petit_Marlies_Wirth.jpgAls hätte sich die Büchse der Pandora geöffnet, brachte Petit in den folgenden zwei Jahren mehr als ein Dutzend Platten heraus. Besonders interessant dabei die instrumentale Trilogie »Extraordinary Tales Of A Lemon Girl« (2011/12), eine Geschichte wie sie von The Cramps, Captain Beefheart oder Lewis Carroll stammen könnte.

Wie Alice durchstreift Petits »Lemon Girl« die Hinterseite des Spiegels und erlebt Situationen, bei denen stets in der Schwebe bleibt, ob es sich um (Alb)Träume handelt. Auf diesen Reisen entspinnen sich meditative Konstrukte aus fragiler Schönheit und Suspense, werden Möglichkeiten zwischen Cageschen Klaviermanipulationen, seltsamen Klangexperimenten und psychedelischen Trips gegeneinander gefaltet. Die Trilogie dringt zu den Schattenseiten von Musik vor: klassische Kompositionen, zu deren somnambulen Dub-Versionen destilliert. Unlängst sind die ungewöhnlichen Abenteuer gesammelt, wie schon die drei Teile vorher, bei Aagoo erschienen.

Ähnlich, indes Psychogeografien durchmessend, sind »Twist of Fate« (Monotype, 2010) und »In Comfort« (Comfortzone, 2011), Petits Kollaboration mit Lydia Lunch. »Ich kannte Lydia bereits eine Weile persönlich. Ûber Umwege ergab sich für die portugiesische »Antibotis«-Serie einen Track zu machen. Daraus entstand »Twist of Fate«, eine aufwendig gestaltete Box mit einer Audio-CD und der Aufnahme unseres Konzerts im Cabaret Aléatoire hier in Marseille. Auch wieder über Umwege hatte ich den Filmemacher Youri Cayron kennengelernt, der aus unserer Performance eine Art VJ-Set machte. Als Lydia die Aufnahmen bekam, ist sie regelrecht ausgeflippt«, grinst Petit.

Damit war die Produktionslatte hoch gelegt. Aus ursprünglich für das Projekt Petit & Friends konzipierten Tracks formte sich der Nachfolger der Petit-Lynch-Kooperation: eine Picture-12“ für das Wiener Label Comfortzone. Als Präsentationsort diente die von Marlies Wirth kuratierte Serie »MAK_Nite«, bei der die ausladende Halle des MAK einen guten Kontrast zu den sinistren, lärmigen und dabei recht intimen Kaskaden aus Lynchs Gesang und Videos und Petits Soundeskapaden lieferte. Diese unter Mithilfe von Bela Emerson (Strings of Consciousness) und Fredrick Lonberg-Holm (Lightbox Orchestra) entstandene Platte könnte man als einen marche funèbre vor dem Hintergrund zeitgenössischer Kompositionsmusik sehen, dunkelst schillernde Stücke, deren Eindringlichkeit an Lynchs Frühwerk oder an Werke von Diamanda Galás denken lässt.

Aus der langen Liste zukünftiger Aktionen sind herauszugreifen: Eine Show mit Justin Broadrick in Istanbul (April 2014) sowie Auftritte mit dem European Contemporary Orchestra und dem holländischen Orkest De Ereprijs. Vor kurzem ist »First Chapter«, Petits Zusammenarbeit mit Fernando Corona aka Murcof, auf Aagoo erschienen. »Wir hatten um 2007 die ersten Pläne für eine CD. In der Zwischenzeit haben wir oft als Duo gespielt, »First Chapter« ist das Resultat dieser Live- und Studiosituationen.« Auch hier haben wir es mit Andeutungen und Entschlackungen, mithin Audiophantomen zu tun, die indes kaum noch in Pop- sondern eher in altgriechischen Umgebungen ihr fideles Unwesen treiben, wohin Titel wie »The Call of Circé« oder »Pegasus« verweisen.

 

Destination Marseille

2013 ist Marseille Kulturhauptstadt Europas. So lässt man sich umso lieber von Philippe Petit von »seiner« Stadt erzählen. Sie ist nicht nur sonnenverwöhnte Hafenstadt und multikultureller Schmelztiegel, sondern eines der rauesten Pflaster des Landes. Frankreichs zweitgrößter Ort war und ist das Tor in den Westen für Zuzügler aus dem Maghreb, weswegen sich die französische HipHop-Szene hier gut entwickelte. Indes bleibt Kriminalität besonders im Nordteil ein Problem, Zeitungen schreiben vom »principe Kalachnikov«.

»Marseille versucht zur Zeit alles, um Touristen zu gefallen. Ich finde positiv, dass Stadterneuerungen durchgeführt werden. Aber anstatt lokale Szenen zu unterstützen, wird das Geld für Repräsentationsveranstaltungen ausgegeben. Während die Oper um Millionenbeträge ausgebaut wird, wurden für 2014 für Alternativkultur-nahe Einrichtungen Subventionskürzungen von bis zu 25 % angekündigt. Zusätzlich trifft Gentrifizierung auf Gettoisierung: Seit den 1970ern wurden die armen Viertel ziemlich vernachlässigt und Drogenbanden kämpfen um Territorien. Diese Konfrontationen haben aber wenig Einfluss auf das Alltagsleben Marseilles, sie sind lokal beschränkt.«

Wie in Barcelona wird das Musikgeschehen vor allem vom mediterranen Flair bestimmt, gleichzeitig sind die Improvisationszenen sehr groß. So findet jährlich das MIMI-Festival auf der der Stadt vorgelagerten ÃŽles du Frioul unter der Ägide Ferdinand Richards statt, der Mitbegründer der Rock-in-Opposition-Band Etron Fou Leloublan war. Eine weitere Institution ist die 1978 von Jean-Marc Montera gegründete Groupe de recherche et d’improvisation musicales GRIM. Ferner steht auf Petits Empfehlungsliste: die Clubs Cabaret Aléatoire und L’Embobineuse, die Bands Kill The Thrill oder x25x und Musiker wie Ahmad Compaoré oder Erik M.

Zusätzliche Auswahldiskografie:
w/ Lydia Lunch: »Taste Our Voodoo«, Rustblade 2013
w/ Edward Ka-Spel: »Are You Receiving us, Planet Earth«, Rustblade 2014
Strings of Consciousness: »From Beyond Love«, Staubgold 2012
Petit & Friends: »A Scent Of Garmambrosia«, Aagoo 2010

Home / Musik / Artikel

Text
Heinrich Deisl

Veröffentlichung
21.11.2013

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